Schädliche Polarisierung

Hefteditorial iz3w 361 (Juli/August 2017): Tourismus & Migration

Kaum eine Zeitungsmeldung über Venezuela kommt derzeit ohne Schlagworte wie »Gewalt«, »Repression« oder »Diktatur« aus. Die meisten Berichte schwanken zwischen Grauen und Boulevard. Selbst als seriös geltende Medien küren eine Steine schmeißende Fitnesstrainerin zu »Wonder Woman« oder heroisieren Jugendliche, die den Tränengasgranaten der Sicherheitskräfte trotzen, indem sie diesen so genannte »Cocktails Puputov« entgegenschleudern – mit Exkrementen gefüllte Glasflaschen.

Innerhalb Venezuelas sind die Fronten verhärtet und außerhalb sind die Sympathien meistens klar verteilt. Grob gesagt: Liberale sehen einen Aufstand der notleidenden Bevölkerung gegen eine sozialistische Diktatur. Staatslinke warnen vor einem typisch lateinamerikanischen Putschversuch gegen eine fortschrittliche Regierung, der von der rechten Opposition, den USA und dunklen wirtschaftlichen Mächten ausgehe. Die eindeutigen Positionierungen verwundern. Sorgt der seit über zwei Monaten auf der Straße ausgetragene Machtkampf, bei dem beide Seiten ihren Anteil an mehr als 60 Todesopfern haben, doch eher für Fragezeichen. Immerhin berufen sich beide Seiten auf Wahlergebnisse und, natürlich, auf das Volk.

Mit dem unter Hugo Chávez begonnenen »bolivarianischen Prozess« hat die Regierung Maduro trotz ihres Anspruchs nicht mehr viel zu tun. Natürlich gab es auch unter Chávez autoritäre Tendenzen. 2010 wurde der Chavismus auch in der iz3w »auf dem Weg in den autoritären Staat« verortet. Doch hatte Chávez an den Wahlurnen immerhin stets die Mehrheit hinter sich, stellte die Interessen der ärmeren Bevölkerungsmehrheit zumindest rhetorisch in den Mittelpunkt und forcierte auch schon mal offene Debatten. Maduro und seine Regierung haben ihre Legitimität hingegen selbst in Teilen der chavistischen Wählerschaft eingebüßt. 2013 nach Chávez’ Tod nur mit äußerst knapper Mehrheit bis Anfang 2019 ins Amt gewählt, steht Maduro heute für den wirtschaftlichen Bankrott und für den Abbau demokratischer Errungenschaften.

Auch nach 14 Jahren Chávez-Regierung hängt Venezuela einseitig von Erdöldevisen ab. Der seit Ende 2014 drastisch gesunkene Erdölpreis legt die Schwächen dieses Wirtschaftsmodells brachial offen. Statt den ökonomischen und politischen Bankrott einzugestehen, erhebt Präsident Maduro weiterhin den klassisch linkspopulistischen Anspruch, dass nur er und seine Regierung die legitimen VertreterInnen des »pueblo« sind, des »Volkes« im Sinne der marginalisierten Bevölkerung. So verschanzt sich Maduro hinter dem chavistischen Diktum, wonach die »Oligarchie« niemals an die Erdöltöpfe zurückkehren dürfe. Selbst dann nicht, wenn sie so leer sind wie zurzeit.

Der Präsident regiert immer autoritärer und lässt sich die Verfassung vom Obersten Gericht zurechtbiegen. Dieses blockiert das von der Opposition dominierte Parlament, und der Nationale Wahlrat (CNE) stoppte im vergangenen Oktober ein Abberufungsreferendum gegen den Präsidenten. Dazu verschob er die Regionalwahlen ohne triftige Begründung um ein Jahr nach hinten. Aber: Die Wahl zu einer von Maduro vorgeschlagenen und von der Opposition boykottierten verfassunggebenden Versammlung organisiert der CNE in Rekordzeit.

Ob ein vorzeitiger Regierungswechsel die Probleme Venezuelas lösen könnte, ist sehr fraglich. Das Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) hat zur Demokratie ebenfalls ein fragwürdiges Verhältnis. Das Bündnis bietet wenig mehr an als die Ablehnung der Regierung und den Glauben an einen von staatlichen Fesseln befreiten Markt. Beim gescheiterten Putsch gegen Chávez 2002 mischten viele der PolitikerInnen des MUD mit. Aber jetzt stilisieren sie sich als VerteidigerInnen jener Verfassung, die sie in der Vergangenheit nie akzeptiert hatten. Die Mehrheit der Bevölkerung in den Armenvierteln misstraut nach wie vor der rechten Opposition, deren VertreterInnen seit jeher auf sie herab geblickt haben.

Derzeit eskaliert die Gewalt, die Versorgungslage mit Lebensmitteln und Medikamenten ist dramatisch schlecht und die demokratische Kultur der maßgeblichen politischen AkteurInnen verwahrlost. Angesichts dessen braucht Venezuela nicht nur einen verbindlichen Fahrplan für Wahlen. Laut Umfragen wünscht sich die Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung einen Dialog zur Lösung der grundlegenden Probleme des Landes. Die Eskalation des reinen Machtkampfes hat keinerlei Perspektive hervorgebracht. An diesem Dialog sollten nicht nur die Parteiführungen, sondern andere gesellschaftliche AkteurInnen teilnehmen. Dies fordert auch die (vorwiegend aus »kritischen ChavistInnen« bestehende) linke Opposition in Venezuela. Eine Reihe linker Intellektueller aus Lateinamerika hat sich diesen Forderungen in einem offenen Brief angeschlossen: »Die Auswege aus derartigen Krisen sind immer lang und kompliziert, doch sie bedürfen eines Mehr an Demokratie, niemals eines Weniger.« Solche Ansätze zu unterstützen macht sicherlich mehr Sinn, als sich auf die Seite von Regierung oder rechter Opposition zu schlagen, meint

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