Wege zur Neuerfindung der Stadt im Nahen und Mittleren Osten?

Editorial

Baustellen. Wer immer sich in den letzten zehn Jahren in den Großstädten und regionalen Zentren des Nahen und Mittleren Osten einschließlich Nordafrikas und Zentralasiens bewegt hat, konnte ihnen kaum entgehen. Fast schien es, als wäre ein wahres Baufieber in der Region ausgebrochen. Von Dubai bis Doha, von Mekka bis Muscat und von Kairo bis Casablanca scheinen Baukräne die Skyline zu beherrschen – selbst nach Finanzkrise und „arabischem Frühling“. Städtebauliche Megaprojekte dominieren nicht nur in Dubai die Schlagzeilen.

Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten wird dabei nicht nur vielfach bewundert, sondern hat sich auch als eine Art Rollenmodell für Stadtentwicklungsprozesse in der Region etabliert, dem von Mekka über Duschanbe bis Tanger nachgeeifert wird. Wie der Beitrag von Christian Steiner in diesem Heft diskutiert, unterliegt dem Modell der Stadtentwicklung Dubais aber nicht nur ein zum Imperativ übersteigertes „Höher, schneller, weiter!“ Der Bau immer neuer aufmerksamkeitsheischender Großprojekte dient auch dazu, eine neue, marketinggängige Identität der Stadt am Golf zu entwerfen, die sich wirtschaftlich in Wert setzen lässt und gleichzeitig der herrschenden Elite einen politischen Legitimationsgewinn verspricht. Stadtentwicklung à la Dubai, so lässt sich schlussfolgern, dient daher auch immer der Stabilisierung der herrschenden Machtverhältnisse.

Das „Dubai-Modell“ mit dem ihm innewohnenden Gigantismus und den attraktiv erscheinenden materiellen und immateriellen Waren- und Reputationsangeboten verbreitet sich bis in eher peripher gelegene Ecken der Region wie das zentralasiatische Duschanbe und findet auch in „sekundären“ Städten wie dem nordmarokkanischen Tanger Niederschlag. Daneben sind es aber auch scheinbar kleine Veränderungen in einzelnen Stadtvierteln zum Beispiel Istanbuls, die eine tiefgreifende Transformation der Städte im Nahen und Mittleren Osten sichtbar machen. Das Städtische, so scheint es, erfindet sich hier gerade neu und drückt sich in veränderten baulichen und sozialen Strukturen aus. Die aktuellen Rekonfigurationen des Städtischen sind dabei das Ergebnis der jüngsten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche: So binden sich die Gesellschaften der Region, ihre Städte und Immobilienmärkte zum Beispiel zunehmend in Globalisierungsbezüge ein, was sich auch als Resultat einer fortschreitenden Transformation von Politik in neoliberalem Sinne lesen lässt. Im Zuge dieser Neoliberalisierung von Städtebau und der Stadtentwicklungspolitik haben sich auch die Städte der Region tiefgreifend verändert. Um so verwundbarer wurden jedoch auch die dortigen (Stadt-)Staaten für die Auswirkungen der Immobilien- und Finanzkrise 2008/09, die sich wie im Falle Dubais erheblich auf Planung und Fortschritt der städtebaulichen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Großprojekte auswirkte.

Die Neoliberalisierung des Städtischen verändert jedoch auch, wie Nadine Scharfenort und Jonas Margraff am Beispiel von Doha (Qatar) und Muscat (Oman) verdeutlichen, die historisch gewachsenen sozioökonomischen Interaktionsräume in den Städten der Region zutiefst und führt nicht selten sogar zu deren Eliminierung – zugunsten der Entstehung neuer städtischer Architekturen und urbaner Räume, die einzig für den globalen Wettbewerb um Investitionen und Aufmerksamkeit geschaffen worden zu sein scheinen. Die Musealisierung historischer Stadtzentren – vom Golf über die Türkei bis in den Maghreb – soll in diesem Sinne eben nicht nur die Entwicklung des Immobiliensektors befeuern, sondern dient auch einer extrovertierten Markenpolitik zu ihrer weltweiten Positionierung.

Die beschriebene Stadtentwicklungspolitik befördert darüber hinaus die soziökonomische Segregation der städtischen Bevölkerung, der durch den Bau von „Gated Communities“, „Private Cities“, hyperrealen Konsum- und Freizeitwelten und „integrierten Touristenkomplexen“ immer intensiver Vorschub geleistet wird. Das von Felix Hartenstein geschilderte Beispiel der privat verwalteten Resort- und Retortenstadt El Gouna an der ägyptischen Rotmeerküste ist sicherlich ein sehr prominentes Beispiel für diesen Trend. Wohin eine solche Reise jedoch auch in arabischen Großstädten führt, veranschaulichen eindrücklich die Beiträge von Khaled Adham, Raffael Beier und Steffen Wippel zu Kairo, Tunis, Casablanca und Tanger. Während Adhams Beitrag über Kairo zeigt, dass sich an den großen Linien der Stadtentwicklung nach dem Vorbild Dubais angesichts der Restauration der Militärherrschaft unter Präsident al-Sisi kaum etwas geändert hat, diskutiert Beier, welch unterschiedliche Auswirkungen auf zukünftige Stadtentwicklungsstrategien der arabische Frühling in Marokko und Tunesien mit sich brachte. Wippels Vorstellung der Transformation Tangers in Marokko ist in diesem Kontext ein gutes Beispiel dafür, wie sogar die vordergründig so wertneutral erscheinende Einbindung in Globalisierungsbezüge über den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur ganz konkret zu einer zunehmenden Fragmentierung und Polarisierung städtischer Räume beiträgt.

Wie polarisierend die hier diskutierten aktuellen Trends der Stadt- und Infrastrukturentwicklung wirken, wird deutlich, wenn man diejenigen sichtbar macht, die sonst zurückbleiben: die Armen, die als Arbeiter auf der Schattenseite des städtebaulichen Booms der vergangenen Jahre wiederum das Funktionieren dieser schönen neuen Welt erst ermöglichen. Besonders gilt dies für die – trotz aller Verbesserungen der letzten Jahre – entwürdigenden und oft sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen der Migranten auf dem Bau in den Golfstaaten, über die auch schon frühere inamo-Ausgaben berichtet haben (z. B. Heft 81/2015). Sozioökonomische Polarisierung und Fragmentierung in den arabischen Gesellschaften wird so auch in der Stadtentwicklung immer deutlicher sichtbar. Die Stadt wird daher zunehmend zur Arena und zum Gegenstand gesellschaftlicher Kämpfe um ökonomische und politische Macht und Teilhabe. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass natürlich auch der arabische Frühling teilweise seinen Anlass in den bisherigen Stadtentwicklungspolitiken der Eliten hatte, seinerseits jedoch ebenfalls seine Spuren in den jüngsten Stadtentwicklungsprozessen und Planungen der Region hinterließ. Dem Ruf nach mehr politischer Partizipation in der Stadtentwicklung bspw. Tunesiens steht spiegelbildlich der Versuch gegenüber, existierende autoritäre Herrschaftsstrukturen mit Hilfe städtebaulicher Entwicklungsstrategien zu festigen.

Interessanterweise müssen sich hierzu Religion, neoliberale Wirtschaftsinteressen und Herrschaftssicherung keineswegs ausschließen, sondern scheinen sich gegenseitig sogar zu bestärken, wie Atef Alshehri am Beispiel von Mekka und Medina sowie Ayşe Öztürk für den Istanbuler Stadtteil Eyüp in diesem Heft zeigen. Während der historische, soziale und bauliche Charakter der beiden heiligsten Städte der islamischen Welt zunehmend durch ihre fortschreitende Ökonomisierung gefährdet erscheint, ist in Istanbul die Pluralität und Weltoffenheit der alten kosmopolitischen Kapitale am Bosporus durch die zunehmende Reislamisierungs- und Reosmanisierungspolitik der AKP-Regierung bedroht. In Verbindung mit einer steigenden Renationalisierung von Politik zielt die AKP nicht nur darauf ab, die Geschichte der Türkei neu im Sinne ihrer konservativ-islamistischen Ideologie zu erfinden, vielmehr drängt die Regierungspartei auch mit städtebaulichen Mitteln darauf, die Verankerung Istanbuls und der Türkei im Westen zu lockern. In Tadschikistan versucht die Regierung, ein regional und national geprägtes Kultur- und Religionsverständnis zu fördern, das sich auch in städtebaulicher Hinsicht niederschlägt, wie Manja Stephan-Emmrich über das postsozialistische Duschanbe berichtet. Zugleich machen sich dort zunehmend kulturelle und religiöse Einflüsse von der Arabischen Halbinsel z. B. in Architektur, Mode und Konsum, breit, wobei sich auf oft widersprüchliche Weise Prozesse der „Golfisierung“ von oben und von unten durchdringen.

Neben den diskutierten Prozessen, die vor allem in den Großstädten der Region stattfinden, bleiben jedoch viele kleinere Städte weiterhin unbeachtet. Sie werden von nationalen Entwicklungsstrategien kaum erfasst, erfahren keine städtebauliche Aufwertung und bleiben weltwirtschaftlich wenig integriert. Dort ist die sozioökonomische Situation meist noch schlechter. Vor allem aber wurden in den Bürgerkriegen der letzten Jahre zahlreiche alte Kulturmetropolen und bedeutende Wirtschaftszentren wie Aleppo und Mossul weitgehend zerstört und ihre Bewohner von den Machthabern und Belagerern ausgehungert, tyrannisiert und vertrieben. Welche Wirkung dies auf die Städte in Syrien, Irak und Libyen dauerhaft ausüben wird, erscheint heute noch kaum absehbar.

Bei aller Unterschiedlichkeit der lokalen politischen und wirtschaftlichen Kontexte von Stadtentwicklung in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens zeigen sich – abgesehen von den Bürgerkriegsländern – aber doch immer wieder ähnliche Muster und Motive. Dennoch gibt gerade das tunesische Beispiel Anlass zur Hoffnung dafür, dass auch in der Region eine öffentliche Debatte möglich wird über die Ideale des Urbanen im 21. Jahrhundert und darüber, wie man sie in konkreter Stadtentwicklungspolitik angehen könnte – nämlich durch Demokratisierung von unten und den Aufbau lokaler Governance-Strukturen. Ein solcher positiver Ausblick führt den Betrachter zurück zu den Wurzeln des arabischen Frühlings in Tunesien. So sehr auch eine demokratische Umorientierung von Stadtpolitik eher noch einer Baustelle ähneln mag als schon Realität zu sein – dieser Art Baustelle würde man in der Zukunft doch gerne öfter begegnen.

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