Freibrief für Verfassungsfeinde

Dem Bundesverfassungsgericht wurde in der Vergangenheit immer mal wieder vorgeworfen, es setze durch seine Urteilssprüche dort Recht, wo der Gesetzgeber bislang verabsäumt habe, Lücken zu schließen. Darüber konnte man in jedem Falle streiten.
Letztendlich stand hinter solchen Vorwürfen immer eine latente Kritik am Deutschen Bundestag, der heiße Eisen, die einer gesetzgeberischen Lösung harrten, gern nach Karlsruhe delegierte. Der Streit um den § 218 des Strafgesetzbuches (die Frage des Schwangerschaftsabbruchs) 1974 bis 1976 und das „Kopftuchurteil“ aus dem Jahre 2003 stehen da nur pars pro toto. Eine besondere Brisanz erhielt Letzteres dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht angesichts der nicht grundsätzlich geregelten Trennung von Staat und Kirche in der Bundesrepublik die Problematik mit Verweis auf die föderale Kultushoheit auf die Länder abschob. Da liegt sie nun und treibt angesichts häufig wechselnder politischer Mehrheiten und vermeintlicher islamistischer Bedrohungen immer wieder die skurrilsten Blüten. Jüngst hat erst wieder ein Berliner Senator aus Opportunitätsgründen einer kopftuchbefürwortenden Regierungspressesprecherin gegenüber das von ihm einmal als rechtspolitischem Sprecher mit durchgepeitschte Berliner „Neutralitätsgesetz“ in Frage gestellt.
Unstrittig hat jedoch die Rechtsprechung der Karlsruher Verfassungshüter mit dem 17. Januar 2017 eine neue Qualität erreicht: Beauftragt, die Unverletzlichkeit der Verfassung zu bewahren, teilten die Richter an jenem Tage mit, dass sie ihrerseits nur dann einen Handlungszwang sähen, wenn das Handeln eines Verfassungsfeindes eine Eskalationsstufe erreicht habe, in der die freiheitlich-demokratische Grundordnung tatsächlich ernsthaft gefährdet sei.
Konkret geht es um die Abweisung des Länder-Antrages, die vom Bundesverfassungsgericht selbst als verfassungsfeindlich erkannte NPD zu verbieten. Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle erklärte: „Es fehlt aber derzeit an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, die es möglich erscheinen lassen, dass ihr Handeln zum Erfolg führt.“ Es ist einigermaßen egal, welche juristischen Beweggründe das Gericht zu einem solchen Urteil verführten. Es bleibt die Feststellung, dass laut Voßkuhle „Anhaltspunkte von Gewicht“ für ein Parteienverbot erst dann vorliegen, wenn deren verfassungsfeindliches Handeln erfolgversprechend ist. Konkret: Erst dann darf man eine verfassungsfeindliche Partei verbieten, wenn sie reale Chancen hätte, die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ zu zerstören. Und die Neofaschisten stehen in Deutschland zweifellos nicht vor der Machtübernahme.
Die Richter vergaßen dabei nur eines: Ist ein solcher Zustand erreicht, ließe sich eine politische Bewegung allenfalls noch durch den Einsatz außergewöhnlichster Mittel – beispielsweise den auch nicht gerade grundgesetzkonformen Einsatz der Bundeswehr im Inneren – von ihrem Tun abbringen. Daran, ob das praktisch funktionierte, sind jedoch Zweifel angebracht. Man darf mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass Militär und Polizei in einem Zustande erheblicher gesellschaftlicher Rechtslastigkeit von einer solchen nicht unberührt blieben. Träte der von Voßkuhle konstruierte Fall ein, stünde die Republik zumindest am Rande eines Bürgerkrieges. Genau davon träumen rechtsextreme „Vordenker“.
Solchen Zuständen schon im Keime entgegenzutreten, ist die Aufgabe aller Verfassungsorgane, auch des Bundesverfassungsgerichtes. Mit dem jetzigen Urteil entzog es sich dieser Verantwortung. Von Stunde an darf jede und jeder gegen die Werteordnung des Grundgesetzes hetzen und wühlen – solange die Täter jedenfalls nicht mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt geraten und sie nicht eine erfolgversprechende „kritische Masse“ erreichen. Wer aber will die messen? Dieses Urteil kann und wird als Freibrief für Verfassungsfeinde jeglicher Couleur verstanden werden.
Verräterisch für die Denkweise der Urteilsfinder ist ein Satz aus der Pressemitteilung des Gerichtes vom 17. Januar: „Ein Erreichen der verfassungswidrigen Ziele der NPD mit parlamentarischen oder außerparlamentarischen demokratischen Mitteln erscheint ausgeschlossen.“ Es scheint, als schwebte der Geist des Reichsgerichtes über den Wassern: „Die nationalsozialistische Bewegung wird in diesem Staate mit den verfassungsmäßigen Mitteln das Ziel zu erreichen suchen. Die Verfassung schreibt uns nur die Methoden vor, nicht aber das Ziel.“ So Adolf Hitler am 25. September 1930 vor dem Leipziger Gericht während des sogenannten „Reichswehrprozesses“. Der Ausgang ist bekannt. 14 Tage zuvor war die NSDAP bei den Reichstagswahlen von 2,6 Prozent (1928) auf auch für sie selbst nicht erwartete 18,3 Prozent emporgeschnellt und stellte die zweitstärkste Fraktion. Die Weltwirtschaftskrise hatte zu diesem Zeitpunkt Deutschland noch nicht in vollem Umfange erreicht. Mit der Umsetzung seines „Legalitätseides“ hatte Hitler Probleme: Er setzte dann doch lieber auf Hasspropaganda und Destabilisierung. Erfolgreich, wie wir wissen.
Mitnichten nachvollziehbar sind daher Politiker- und Pressestimmen, die das Urteil geradezu als „Sieg der Demokratie“ und der „Meinungsfreiheit“ abfeiern. Ersteres ist nur lächerlich, denn anderenfalls wäre Blindheit lässt ein konstituierendes Element von Demokratie. Gerade die Rechtsextremen wissen, dass der Erhalt funktionsfähiger Strukturen von erheblicher Bedeutung ist. Die kann man zu herangereifter Zeit leicht „mit Masse“ auffüllen. An dieser Stelle soll jetzt kein Vergleich zur AfD gezogen werden: Aber vor wenigen Jahren wurde auch die noch als skurriler Haufen abgehobener Neoliberaler mit überlegenem Lächeln in die Satirespalten abgeschoben.
Übrigens war die NPD schon einmal fast am Ende. 1972 erhielt sie bei den Bundestagswahlen nur 0,6 Prozent der abgegebenen Stimmen. Alle, die damals ihr baldiges Ableben verkündeten, erlebten 25 Jahre später ein böses Erwachen.
Geradezu absurd ist der mit der Karlsruher Entscheidung verbundene Freifahrtschein für rechtsextreme Propaganda, die sich nun mit dem Mäntelchen der Meinungs- und Gewissenfreiheit umhüllen darf. Gift bleibt Gift – auch wenn die Dosierung im ersten Moment nicht unbedingt tödlich wirkt. Hier ist es die Langzeitwirkung, auf die gesetzt wird. Letztendlich ist es egal, ob am Ende ein Haufen namens NPD die braune Ernte in die Scheuer einfährt, oder ob der Laden dann unter anderer Flagge firmiert.
Es war kein Zufall, dass sich als einer der ersten der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, nach der Urteilsverkündung zu Wort meldete: „Das Bundesverfassungsgericht argumentiert inkonsequent, wenn einerseits die NPD als verfassungsfeindliche und rassistische Partei benannt wird, dann aber wegen zu geringer Wirksamkeit nicht verboten werden müsse. Sinti und Roma gehören zum Feindbild der NPD. Zur Stärkung unseres demokratischen Rechtsstaates wäre eine Absage an die rechtsextreme Blut- und Bodenideologie durch ein Verbot sehr wichtig gewesen.“ Unter den deutschen Sinti und Roma geht seit längerem wieder Angst um. Die erfahren tagtäglich die reale Wirksamkeit rechtsextremer Propaganda, die nicht zuletzt von der NPD und ihrer Gefolgschaft ausgeht.
Auch die Überlebenden der deutschen Konzentrationslager können die richterliche Argumentation nicht nachvollziehen. Ernst Grube, Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, schrieb in einer Stellungnahme, dass „angesichts der nationalsozialistischen Erfahrungen […] die Lagergemeinschaft nicht verstehen [könne], warum für das Bundesverfassungsgericht die zahlenmäßige Bedeutung und nicht die NS-Orientierung einer Organisation für ein Verbot maßgeblich“ sei. „Das Gerichtsurteil setze ein falsches und verhängnisvolles Signal für die Demokratie“, wird Grube von der Süddeutschen Zeitung zitiert.
„Das Ergebnis des Verfahrens mag der eine oder andere irritierend empfinden“, meinte laut SPIEGEL ONLINE der oberste deutsche Richter. Diese relativierende Bewertung des eigenen Handelns ist für uns, gelinde gesagt, ein Euphemismus. Das Urteil ist eine Kapitulation des Rechtsstaates vor einer durchaus virulenten Gefahr. „Es hat etwas Verrücktes, die erklärten Feinde der Demokratie und der Freiheit ohne Gegenwehr weitermachen zu lassen“, erklärte der Publizist Joachim Frank im Deutschlandfunk. Dem ist nichts hinzuzufügen.