Freiwillig im Ausnahmezustand

Die ambivalente Rolle ehrenamtlichen Engagements in der Transformation des Asylregimes

in (28.09.2016)

Aus den Bereichen Flucht und Migration lässt sich zivilgesellschaftliches Engagement nicht mehr wegdenken. Das gilt nicht erst seit der Ausrufung deutscher 'Willkommenskultur', sondern seit tausende Freiwillige aus ganz Europa – medial weniger beachtet – damit begonnen haben, Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten oder im humanitären Korridor der Balkanfluchtroute mit Informationen, Nahrung und Kleidung zu versorgen. Und noch als in Deutschland die staatliche Versorgung oft mangelhaft blieb, sprangen tausende Ehrenamtliche ein und verteilten Essen und Kleidung, halfen bei Übersetzungen und medizinischer Versorgung. Von einem 'Europa von unten' war und ist in diesem Zusammenhang die Rede, also von einer Bewegung, die in ihrer politischen Intentionalität und ihrem emanzipatorischen Charakter vermeintlich die Abschottungspläne der europäischen Staaten konterkariert.

Gleichzeitig ist vielfach auf neoliberale Tendenzen in der Sozialen Arbeit und die Privatisierung eigentlich staatlich gewährleisteter sozialer Dienstleistungen hingewiesen worden (vgl. Bröse/Friedrich 2015, van Dyk/Misbach 2016, Haubner 2016), insbesondere in Bezug auf den deutschen Kontext und die vielfältigen, teilweise verstetigten bzw. institutionalisierten ehrenamtlichen Angebote der Sprachmittlung, Amtsbegleitung, Grundversorgung mit Medikamenten oder gar Nahrungsmitteln sowie Wohnraumvermittlung. Durch eine Übertragung dieser Tätigkeiten auf Freiwillige findet eine Abqualifizierung, Entprofessionalisierung und Prekarisierung von Dolmetscher-, genuin Sozialer bzw. grundsätzlich qualifizierter Arbeit statt; was zudem heißt, dass eigentlich bestehende tarifliche Regelungen für bestimmte Lohnarbeitsbereiche unterlaufen werden. Dies wird durch die Förderpraxis von Bund und Ländern verstärkt, welche den ehrenamtlichen Bereich in Kontext der Unterstützung von Flüchtlingen weiter ausbauen helfen soll. Es ist dabei nur auf den ersten Blick ein Paradox, dass gerade der Staat die Substituierung staatlicher Strukturen durch Ehrenamt forciert und verstetigt, und es ist diese Verschiebung, diese Tendenz zur Privatisierung, die für Geflüchtete am bedenklichsten ist. Denn sie sind immer weniger Rechtssubjekte mit fixierten, rechtlich garantierten und einklagbaren Ansprüchen und immer mehr Empfänger von Almosen, Objekte letztlich willkürlicher und vor allem konjunkturabhängiger Hilfe von deutschen Bürgern.

Das 'ehrenamtliche Engagement' im Bereich der Flüchtlingsunterstützung, welches nach Beginn der Syrienkrise 2011 massiv zunahm (vgl. Kleist/Karakayali 2015, 21), erscheint gleichzeitig als humanitäre und als Freizeitaufgabe, als Leistung, die von der Zivilgesellschaft im Aufnahmeland großzügig erbracht wird – solange diese kann und will. Die öffentliche Wahrnehmung von Hilfe und Engagement war dabei von Beginn an mit den Narrativen der Überforderung und der Krise verschränkt. Engagement wurde bereits mit Blick auf seine antizipierte Erschöpfung verhandelt, die Tatsache, dass überhaupt so viele Ehrenamtliche einspringen mussten, wurde zudem als Beleg für einen 'Ausnahmezustand' wahrgenommen – die 'Flüchtlingskrise'. Der provisorische Charakter ehrenamtlicher Hilfe und die Tatsache, dass gerade dieser unweigerlich die Überforderung der Helfenden heraufbeschwört, wurden dabei in Medien und Politik herangezogen, um für eine Reduzierung der Zahl aufgenommener Geflüchteter einzutreten.

 

Die „Flüchtlingskrise“ und ehrenamtliches Engagement in den Medien

 

„Wir haben viele Ehrenamtliche, aber die verdecken Fehlentwicklungen. Bis das Fass irgendwann überläuft“, so die Worte eines ehrenamtlichen Arabisch-Übersetzer.[1] Die Stimmung in Deutschland ließ im Jahr 2015 glauben, dass es soweit war: Innerhalb weniger Wochen kamen zehntausende Flüchtlinge nach Deutschland, die 'Flüchtlingskrise' wurde ausgerufen. Flucht und Migration nach Europa wurden zu einem dominanten Thema in Politik, Medien und Bevölkerung. In einem Land, in dem gesellschaftliche Normalität überwiegend mit 'gesellschaftlicher Stasis' assoziiert wird (vgl. Nail 2015)[2], erschien Migration dabei vielen als Bedrohung.

Die 'Krise' war dabei nicht vor allem das Resultat gestiegener Flüchtlingszahlen. Sie war in erster Linie eine Folge der unzureichenden und sofort überlasteten Aufnahmestrukturen. Zwar betonte Innenminister Thomas de Maiziere, man hätte die hohen Ankunftszahlen „nicht vorhergesehen“, und „hinterher“ gäbe es „natürlich viele Schlaumeier, die sagen, ihr hättet das wissen müssen.“[3] Doch nicht nur von den großen humanitären Organisationen, selbst auf EU-Ebene war mehrere Jahre vor einer Fluchtwelle gewarnt worden, lediglich eine politische Reaktion, eine rechtzeitige Aufstockung von Unterbringungskapazitäten und Behördenpersonal blieb aus. Im Gegenteil, im Rahmen der „Politik der schwarzen Null“ (van Dyk/Misbach 2016) war auch in diesem Bereich massiv 'eingespart' worden.

Die hiesige Medienberichterstattung ging zwar teilweise auch kritisch auf die mangelhaften staatlichen Aufnahmestrukturen ein, thematisierte aber vor allem die Überforderung der „in Dienst genommenen Zivilgesellschaft“ (ebd.). Die zivilgesellschaftliche Kapazität, Flüchtlingen eine von Bürgern geleistete Aufnahme zu bieten, erschien zuweilen wie der Gradmesser der Aufnahmekapazität des ganzen Landes. So hieß es im SPIEGEL: „Was, wenn aus den einzelnen Schicksalen, den einzelnen Menschen eine Menge wird, so groß, dass sie für all die Helfer im Land nicht mehr zu bewältigen ist?“[4] Hier werden nicht nur „Helfer“ als Hauptverantwortliche für die „Bewältigung“ der Flüchtlingskrise dargestellt, und nicht etwa der Staat. Es ist zudem bemerkenswert, wie die ehrenamtliche Arbeit honoriert und zugleich deren Erschöpfung vorausgesagt wird – genauso wie etwa im Tagesspiegel, der Ende Januar 2016 den ehrenamtlichen Helfern eine Sonntagsausgabe widmete. In einem Kommentar auf der Titelseite (auf der mittig ein großes 'Danke' zu sehen war) hieß es, dass die „Helfer aufgeben und resignieren“ würden, „wenn die Zahl der Flüchtlinge sich nicht verringert“. Dies wäre eine „fatale und nachwirkende Kapitulation“.

Die Rolle der Medien in der Flüchtlingskrise, d.h. ihre Verhandlung einer Krise, die ehrenamtliches Engagement hervorruft, und eines Engagements, das Marker einer Krise ist, sollte ebenfalls verstärkt in den Fokus von Analyse und Kritik rücken. Dabei geht es zum einen um das mediale Interesse am „inszenierten Notstand“ (Pelzer 2015), das in der Aufmerksamkeitsökonomie begründet liegt, sowie um den die Inszenierung des Sensationellen begleitenden „Wirklichkeitseffekt“, der reale Verhältnisse beeinflusst bzw. neue Realitäten (mit-)schaffen kann (Bourdieu 1998). Fest steht, dass die Konjunkturzyklen der Aufmerksamkeit für das freiwillige Engagement „politischen und ökonomischen Krisenrhythmen“ folgen, während dieser Aspekt „in der öffentlichen Debatte häufig von moralischen Apellen an den Bürger- und Gemeinsinn überlagert wird“ (Haubner 2016). Und noch eine kritische und bezüglich der Situation von Helfern und Flüchtlingen affirmativen Berichterstattung wie beispielsweise über die Verhältnisse in und um das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin verstärkte – durch den Fokus eben auf die Ausnahmesituation und den gleichzeitig deskriptiven und tagesaktuellen, nicht analytischen Charakter von Nachrichten – unmittelbar den Eindruck einer der Zahl der Asylbewerber nicht gewachsenen, sich dem Kollaps nähernden Hauptstadt. Die Begriffe der „Asylanten“- oder „Asylbewerberflut“ bzw. die in diesem Zusammenhang gebrauchten Metaphern von 'Flut', 'Welle' oder 'Strom' sind seit den späten 1980er Jahren allgegenwärtig, wobei es immer auch um deren „Eindämmung“ geht (Wengeler 1995, 746). An diese kollektiven kognitiven Metaphern (Fahlenbrach 2012, 231) wird immer wieder angeknüpft, ob implizit oder explizit. Selbst dezidiert Mitleid erregende Berichte rekurrieren oft auf Motive der 'Invasion' und 'Infektion' (Falk 2010).

 

Staatliche Förderung des ehrenamtlichen Engagements

 

Um für Maßnahmen eben der 'Eindämmung' der Migration nach Deutschland zu werben, wurde auf regierungspolitischer Ebene zum Teil dezidiert mit der Belastungsgrenze der Ehrenamtlichen argumentiert – während man deren Rolle gar nicht hoch genug einschätzen konnte, wie Innenminister Thomas de Maiziere betonte: Die „Zahl der Hilfsbereiten“, so sagte er, hätte „dramatisch zugenommen, auch überproportional“. Das sei „großartig“. Tausende gäben Deutschunterricht, „spenden Sachen, helfen bei Arztbesuchen, sind in Küchen tätig, betreuen Asylbewerber und deren Kinder“. Ein anderer Teil der Bevölkerung jedoch würde Bedenken haben und seine „Sorgen“ mit „Hass“ vortragen. Deswegen könne man die „Zustimmung in der Bevölkerung“ für „Asylsuchende aus Syrien nur dann aufrecht erhalten“, wenn man andere, die „keinen Erfolg auf Asyl“ hätten, dazu bringe, „dass sie unser Land schnell wieder verlassen und möglichst gar nicht erst kommen“. Dies sei „unsere gemeinsame Aufgabe“.[5] Auch im Beschluss der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der Länder vom September 2015, eine weitere Asylgesetznovelle auf den Weg zu bringen, die umfassende Befugnisse mit sich bringen würde, Menschen ohne individuelle Prüfung ihres Asylgrunds aufgrund ihrer Herkunft aus einem sodann als sicher deklarierten Herkunfts- oder Drittland 'zurückzuführen', wurden die „großen Herausforderungen“ durch die vielen Geflüchteten unter anderem am bemerkenswert hohen Ehrenamt festgemacht – und dieses gleichzeitig gelobt: „Dank des überwältigenden haupt- und ehrenamtlichen Engagements tausender Menschen haben wir diese Herausforderungen angenommen und bislang nach Kräften gemeistert.“ Doch nun müsse man den „Flüchtlingsandrang bewältigen“, indem man Verfahren beschleunige und „Fehlanreize“ vermeide. Schließlich forderten Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier in ihrem SPIEGEL-Gastbeitrag „Die Zahlen müssen sinken“ im Oktober 2015 eine Obergrenze für Flüchtlinge und mahnten, man dürfe die „beispiellose Hilfsbereitschaft“ und die „überwältigenden Leistungen der Kommunen“ nicht überfordern.

Doch nicht nur in Bezug auf Migration wird das Ehrenamt begrüßt und gelobt. Bürgerschaftliches Engagement ist für den Staat schon lange ein wichtiges Standbein. Nachdem in den 1970er Jahren im Zuge einer sozialstaatlichen „Erschöpfung“ in der Zivilgesellschaft Selbsthilfemaßnahmen entstanden, wurden diese als Ehrenamt mit idealerweise hohem gesellschaftsintegrativem Gehalt „wiederentdeckt“ (Han-Broich 2012, 77) und nach und nach zu einer sozialen Konstante. Unter Begriffen wie „welfare-mix“ wurden sie als Teil der Wohlfahrtsproduktion deklariert (Braun 2001, 86). Dies gipfelte in immensen Kürzungen und Einschnitten in den Sozialsicherungssystemen, während bürgerschaftliches Engagement vom „aktivierenden Staat“ forciert und schon in den 1990er Jahren mit Modellprojekten finanziert wurde. 2013 trat das „Ehrenamtsstärkungsgesetz“ in Kraft.

Die Tatsache, dass die Vollzugs- und Finanzierungsverantwortung sozialer Leistungen zumindest teilweise an Freie Träger oder Bürger abgetreten wird, die Gewährleistungspflicht aber beim Staat bleibt, bringt hinsichtlich des prekären Rechtsstatus und Leistungsanspruchs von Geflüchteten Schwierigkeiten mit sich. Ehrenamtliche Übersetzer berichten, dass das Sozialamt, unter Rückbezug auf die „aktuelle Lage“, auf sie verweist. Somit wird die Rechtsgrundlage, die den Beistand professioneller Dolmetscher als Behördenleistung vorsieht, von den Ämtern im Alltagsgeschäft unterlaufen und die (Gewähr-)Leistung an Ehrenamtliche delegiert. Dabei ist die rechtliche Lage bezüglich Sozialleistungen für Menschen ohne deutsche oder EU-Staatsbürgerschaft ohnehin bereits spannungsreich und prekär. Soziale Rechte von Flüchtlingen erscheinen wie Zugeständnisse, die vom politischen Klima abhängen und leichthin zurückgenommen werden können. Dies zeigt sich unter anderem am Hin und Her um das Asylbewerberleistungsgesetz, welches 2012 wegen zu niedriger Leistungen für verfassungswidrig erklärt worden war. Zunächst wurden die Leistungen erhöht, drei Jahre später wurden im Zuge von Asylgesetznovellen jedoch nicht nur Sachleistungen wieder eingeführt, sondern auch verschiedene Leistungen, etwa Deutschkurse, für Menschen ohne 'sichere Bleibeperspektive' komplett gestrichen.

Ob trotz oder eher wegen der prekären Rechtslage für Flüchtlinge im Sozialbereich, Leistungskürzungen und Stellenmangel bei den Behörden, gibt es vor allem seit dem letzten Jahr auf Bundes- und Länderebene beachtliche Fördermittel für ehrenamtliches Engagement, die sowohl auf kurzfristige Akquise von Freiwilligen, als auch auf die langfristige Stärkung 'zivilgesellschaftlichen Engagements' ausgelegt sind, beispielsweise durch die 'Ausbildung' von sogenannten Integrationslotsen. Initiativen oder Einzelpersonen können oft direkt Anträge auf Kleinstförderungen stellen, um die professionellen Beratungs- und Begleitungsangebote „durch ehrenamtliche organisierte Initiativen zu ergänzen“ („Engagementfond Willkommenskultur Sachsen-Anhalt“)[6]. Zudem gibt es Förderungen für Agenturen und Plattformen zur Koordinierung ehrenamtlicher Arbeit, die sich an Kommunen und städtische Verantwortliche richten.

Dabei ist durchaus eine Bezahlung und Würdigung der ehrenamtlich Tätigen vorgesehen, einerseits durch niedrige und pauschale Aufwandsentschädigungen, andererseits durch symbolische Anerkennung wie wie z.B. das Überreichen einer Urkunde. Insbesondere die Aufwandsentschädigungen werden dabei von vielen Freiwilligen als zumindest geringe Entlohnung ihres teils immensen Arbeitsaufwands begrüßt. Ein ehrenamtlicher Übersetzer, der am „Tag der Migration“ ins Auswärtige Amt eingeladen worden war, kommentiert diese Realität allerdings kritisch: „Das ist alles Niedriglohn, wenn man so möchte. Das Nutzen von Ressourcen, von Arbeitskraft, von Zeit – und möglichst wenig dafür bezahlen.“ Eine junge Frau, die ehrenamtliche Deutschkurse koordiniert und Behördenbegleitungen anbietet, schlug eine Einladung in die Staatskanzlei aus, weil sie es „absurd“ fand, „dass man sich da dann mit Sekt zuprostet und man für etwas gelobt wird, was man ja nur macht, weil der Staat es so verursacht. Von Vertretern des Staates dann dafür gelobt zu werden, das kann doch nicht sein.“ Außerdem äußerte sie Unverständis dafür, „dass man die Menschen irgendwo an einen Waldrand abschiebt, und dann Menschen anfangen, da Sprachkurse zu geben oder Fahrräder zu spenden und dass diesen Leuten dann wieder gedankt wird.“ Mit einer ähnlichen Argumentation hatten Vertreter von „Moabit hilft“ mit einer öffentlichen Stellungnahme eine Einladung beim Regierenden Bürgermeister von Berlin ausgeschlagen[7].

Diese Beispiele verweisen darauf, dass selbst Initiativen, die sich als explizit politische Unterstützungsstrukturen verstehen und auch ihre gesellschaftliche Rolle öffentlich kritisch reflektieren, unter 'Ehrenamt' subsummiert werden und zudem von Bevölkerung, Medien und Politik als eines der zahlreichen Provisorien wahrgenommen werden können, die den Ausnahmezustand der 'Flüchtlingskrise' kennzeichnen. So sehr, wie die „Überlastungsdiagnose“ des Staates „mehrheitlich hochgradig pauschal“ und „unhinterfragt“ bleibt (van Dyk/Misbach 2016), so verallgemeinernd wird das vielfältige Ehrenamt, welches oft politische und gesellschaftskritische Motive aufweist (vgl. dazu Kleist/Karakayali 2015), in der Herleitung dieser „Überlastungsdiagnose“ aufgerufen. Ihrem teilweise „alternativen Charakter zum Trotz“ erweisen sich ehrenamtliche Initiativen als „potentiell anschlussfähig“ an staatliche Narrative (van Dyk et al. 2015).

 

Entprofessionalisierung und Privatisierung Sozialer Arbeit

 

„Es hat natürlich eine politische Bedeutung an der Stelle, wo der Staat so ganz basale Teilhabemöglichkeiten oder Möglichkeiten, an sein Recht zu kommen, auf die Gunst von Privatpersonen abwälzt“, sagt eine ehrenamtliche Portugiesisch-Übersetzerin Anfang 2016. „Und das ist eben auch günstiger, als zwei Leute mehr einzustellen“, sagt ein anderer.

Ehrenamtlich Engagierte waren und sind meist als erste zur Stelle, wenn es um die Unterstützung von Geflüchteten geht. Oft machen sie dabei dann die Erfahrung, dass sich eine Korrektur der staatlichen Fehlstellen keineswegs oder nur sehr langsam einstellt, und, orientiert am Bedarf, weiterhin ihre Unterstützung benötigt wird. Viele ergreifen daher die Chance, für ihre Arbeit eine gewisse Vergütung zu erlangen. Ein Arabisch-Übersetzer hatte von sich aus erkämpft, dass er und andere freiwillige Sprachmittler für ihre Dienste jeweils 12 Euro vom Jobcenter erhalten. Eine Unterstützerin plante gemeinsam mit einem Wohlfahrtsverband die Schaffung einer Stelle zur besseren Koordinierung ehrenamtlicher Übersetzungen – und klammerte professionelle Übersetzungen von vornherein aus ihren Planungen aus. Ihre Erfahrung hatte sie ohnehin gelehrt, sagte sie, dass „das von staatlicher Seite nicht abgedeckt wird“.

Was daraus folgt, ist oft ein Kreislauf: Ehrenamtliche entdecken Versorgungslücken und springen ein, indem sie Projekte entwickeln, um diese auszugleichen. „Hier sieht nun der Landkreis oder die Kommune, dass es auch so – kostenlos und unkompliziert – geht und weigert sich, sich konzeptionell und finanziell zu beteiligen“ (Holinski 2014, 9). Durch die Förderpraxis für ehrenamtliches Engagement wird diese Tendenz verstärkt. Durch symbolische Vergütungen wird das Ehrenamt zu einer Art „neuem Niedriglohnsektor“ (Braun 2001). Es stellt sich die Frage, ob durch Aufwandsentschädigungen, die teils pauschal gezahlt werden und grundsätzlich einem sehr niedrigen Lohn ähneln, eine Verlagerung sozialer Leistungen von eigentlich professioneller, qualifizierter und dabei tariflich geregelter und bezahlter Arbeit in die oft unqualifizierte, ehrenamtliche und zugleich nicht oder symbolisch vergütete Sphäre ermöglicht wird. Viele Unterstützer leisten im Grunde einen Ersatz für professionelle pädagogische oder psychosoziale Betreuung. Die „Privatisierung der Menschlichkeit“ (Müller 2015) geht zusammen mit der Entprofessionalisierung und Entwertung insbesondere der Sozialen Arbeit einher.

Diese Entwicklung wird von staatlicher Seite nicht problematisiert, sondern politisch, institutionell und finanziell befördert. Die Bundeszentrale für politische Bildung fördert Qualifizierungsmaßnahmen für Freiwillige mit hohen Förderbeträgen; Freiwilligenagenturen bieten inzwischen Fortbildungen selbst im Bereich der Traumabegleitung für Kinder oder psychisch kranke Flüchtlinge an – wohlgemerkt für ehrenamtlich Engagierte auch ohne pädagogische oder therapeutische Ausbildung. „Das Problem ist, in diesem Feld geht es nicht darum, irgendwie zusammen zu spielen oder zu quatschen, sondern darum, an sein Recht zu kommen, indem man sich verständlich machen kann“, kritisierte eine ehrenamtliche Übersetzerin im Hinblick auf den Bereich der Sprachmittlung. Doch in den Förderbedingungen und -feldern werden pädagogische oder Dolmetschertätigkeiten wie Hilfe beim Spracherwerb, Behördenbegleitungen oder die Übernahme von Vormundschaften für unbegleitete Jugendliche in eine Reihe mit Freizeitangeboten wie 'gemeinsames Kochen', 'Handarbeit' oder 'Fahrradfahren lernen' gestellt – und als von Ehrenamtlichen zu leistende Tätigkeiten gehandelt.

 

Fazit

 

So werden eigentlich eine Qualifikation voraussetzende Tätigkeiten an nicht-qualifizierte Freiwillige delegiert; eigentlich tariflich vergütete Arbeit wird durch unbezahlte Tätigkeiten ersetzt bzw. in einen – de facto die Mindestlohngesetze unterlaufenden – Niedriglohnsektor überführt; und eigentlich gesetzlich garantierte Rechtsansprüche und Leistungen erscheinen als großzügig angebotene, potentiell verzichtbare 'Extras'.

Durch sporadische, begrenzte und befristete Förderprogramme übernimmt der Staat keine Verantwortung. Projekte, von ehrenamtlich Engagierten ins Leben gerufen, um „Lücken zu schließen“, werden nicht durch die Gewährleistung befriedigender und flächendeckender Versorgung in den angesprochenen Bereichen überflüssig gemacht; vielmehr werden sie verstetigt und ermutigt. Das Ansinnen von Engagierten, nur temporär noch nicht beseitigte staatliche Versorgungslücken zu füllen, wird damit unterlaufen. Die dominante Wahrnehmung ehrenamtlicher Tätigkeit als Ausdruck individueller, persönlicher Mitmenschlichkeit oder 'bürgerschaftlichem Engagement' entpolitisiert zudem den Kontext wie den Gehalt des engagierten Handelns und kann Hilfe potentiell, zur identitätsstiftenden Freizeittätigkeit geronnen, zum Selbstzweck werden lassen, der die Bekämpfung der Ursache seiner eigenen Existenz aus den Augen verloren hat. Es besteht die Gefahr einer doppelten Entsubjektivierung Geflüchteter: Einerseits vom Staat, und andererseits von ihren „Helfern“. Die Idee eines „rebellischen Engagements“ (van Dyk et al. 2015) und der von „medico international“ anvisierte Dreiklang „Hilfe verteidigen, kritisieren, überwinden“ sind vor diesem Hintergrund eine Herausforderung (Lempp et al. 2015).

Angesichts dieser Entwicklungen muss die Frage lauten, inwiefern die gesellschaftliche Wahrnehmung eines Notstands bestätigt wird, wenn die mit diesem assoziierten Merkmale verstetigt, ja institutionalisiert werden – und wem dies nützt oder schadet. Die Vermutung, dass es ein „manifestes, auf Abschreckung bedachtes Interesse an der Demonstration staatlicher Überlastung“ (van Dyk/Misbach 2016) gibt, bestätigt sich durch das eher schwache Interesse am Ausbau staatlicher Strukturen für Geflüchtete. Dies zeigte sich unter anderem an der trägen Reaktion auf den massiven Mangel an Mitarbeitern beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder dem Beharren auf der so genannten 'Turnhallen-Lösung'. Auch das letztlich provisorische Einspringen tausender Freiwilliger kann zweifellos zu den Markern des Ausnahmezustands der 'Flüchtlingskrise' gezählt werden. Die Verschiebung ins Private und die damit verbundene Verkopplung von Aufnahmepotential und individueller Leistungsfähigkeit lässt die Gewährleistung von Asyl zu einer Frage individueller und (zivil-)gesellschaftlicher Großzügigkeit und Erschöpfung werden – und die einzige mögliche Reaktion auf diese Erschöpfung und Überlastung ist eine Reduzierung der Zuwandererzahlen.

 

Literatur

 

Bourdieu, Pierre 1998: Über das Fernsehen. Frankfurt a.M.

Bröse, Johanna/Sebastian Friedrich: Der schmale Grat der Hilfe. In: ak – analyse und kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 607 vom 18.8.2015

Fahlenbrach, Kathrin 2012: Strategien televisueller Evidenz. Televisuelle Ikonografien von Naturkatastrophen. In: Joachim Knape/Anne Ulrich (Hg.): Fernsehbilder im Ausnahmezustand. Zur Rhetorik des Televisuellen in Krieg und Krise. Berlin

Falk, Francesca 2010: Invasion, Infection, Invisibility : an iconology of illegalized migration. In: Christine Bischoff, Francesca Falk, Sylvia Kafehsy (Hg.): Images of Illegalized Migration : towards a critical iconology of politics. Bielefeld

Braun, Sebastian 2001: Bürgerschaftliches Engagement : Konjunktur und Ambivalenz einer gesellschaftspolitischen Debatte. In: Leviathan 29. Wiesbaden, S. 83-109

Han-Broich, Misun 2012: Ehrenamt und Integration : Die Bedeutung sozialen Engagements in der (Flüchtlings-)Sozialarbeit. Wiesbaden

Haubner, Tine 2016: Die neue Kultur des Helfens. In: Zeitschrift Luxemburg 01/2016

Holinski, Katrin 2014: Positionspapier zur Abgrenzung von qualifizierter hauptamtlicher Flüchtlingssozialarbeit und ehrenamtlicher Arbeit im Bereich Flucht und Asyl in Sachsen. Sächsischer Flüchtlingsrat

Karakayali, Serhat/Olaf J. Kleist 2015: EFA-Studie : Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit in Deutschland, 1. Forschungsbericht : Ergebnisse einer explorativen Umfrage vom November/Dezember 2014. Berlin: Berliner Institute für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt-Universität zu Berlin

Lemmp, Sara/Maurer, Katja/Stützle, Ingo: Hilfe muss sich überflüssig machen. In: AK – analyse und kritik- Zeitung für eine linke Debatte und Praxis, Nr. 610 vom 17.11.2015

Müller, Ronn 2015: Die Privatisierung der Menschlichkeit : Wie der Staat die völkerrechtliche und humanitäre Verantwortung abschiebt. Ein Erfahrungsbericht aus Halle. In: Monatsheft des „Radio Corax“, Halle

Nail, Thomas 2015: The figure of the migrant. Stanford

Pelzer, Marei 2015: Flüchtlinge : Der inszenierte Notstand. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2015, S. 5-8

van Dyk, Silke/Emma Dowling/Tine Haubner 2015: Für ein rebellisches Engagement. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2015, S. 37-40

van Dyk, Silke/Elène Misbach 2016: Zur politischen Ökonomie des Helfens. Flüchtlingspolitik und Engagement im flexiblen Kapitalismus. In: prokla 183: Ökonomie der Flucht und Migration, S.205-227

Wengeler, Martin 1995: Multikulturelle Gesellschaft oder Ausländer raus? Der sprachliche Umgang mit der Einwanderung seit 1945. In: Georg Stötzel, Martin Wengeler: Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/New York

 



[1]      Alle Zitate ohne Quellenangabe aus Interviews mit ehrenamtlich Tätigen im Winter 2015/16.

[2]      „[T]he figure of the migrant has been almost exclusively considered from the perspective of social stasis.“ (Nail 2015)

[3]      Bürgerfragerunde anlässlich des Tages der offenen Tür der Bundespressekonferenz am 30. August 2015. https://www.youtube.com/watch?v=Nec0IFHw6xI, abgerufen am 28. Dezember 2015. [ab Minute 46:35].

[4]      „taz“ vom 21.08.2015 und „Spiegel“ vom 25.07.2015.

[5]      Ebd.

[6]              http://www.integriert-in-sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/AGSA/Integrationsbeauftragte/Infoblatt_Netzwerkstelle.pdf

[7]              „Tagesspiegel“ vom 20.10.2015: „'Moabit hilft' sagt Teilnahme am Senatsempfang ab“.