Die EU und die Befindlichkeit ihrer Bürger

Ich weiß, traue keiner Statistik, die du nicht selbst, und so weiter … Es frappiert aber schon, dass die vor kurzer Zeit publizierten Ergebnisse der Eurobarometer-Umfrage ein beinahe euphorisches Stimmungsbild der EU-Bürger liefern: 80 Prozent der Europäer in den 28 Mitgliedstaaten (die Daten wurden noch vor dem Brexit erhoben) sind mit ihrem Leben zufrieden; etwas über dem Durchschnitt liegt die Stimmung in den wohlhabenden westlichen Ländern (Deutschland: 89 Prozent). Auch was ihre persönliche wirtschaftliche Lage betrifft, sind die Menschen mehrheitlich zufrieden: Im EU-Schnitt geben zwei Drittel an, ihre finanzielle Situation sei gut (Deutschland: 82 Prozent). Immerhin 58 Prozent finden ihre Arbeit in Ordnung (Deutschland: 68 Prozent). Ob Arbeit, Geld oder Leben – viele glauben, in den kommenden zwölf Monaten werde sich ihre Lage noch weiter verbessern. Europa, so könnte man meinen, ist ein ziemlich glücklicher Kontinent. Aber das täuscht bekanntlich. Warum?
Ohne wirtschaftliche Schwächen – die Konjunktur in Europa kommt nach wie vor nicht in Gang – und die Serie von Terroranschlägen, die gewisse Verunsicherung auslösen, für den grassierenden Euro-Pessimismus geringzuschätzen, ist für ebendiesen meiner Meinung nach primär der steigende Einfluss nationalistischer Hetzer und Hassprediger verantwortlich. Ihnen genügen die sattsam bekannten Defizite und Schwächen Europas nicht, sondern sie zeichnen es als einen Kontinent der Finsternis: Überfremdung, Verbrechen, Arbeitslosigkeit, die Nationen befänden sich in einem Kampf um ihre Selbstbehauptung. Das kann – siehe oben – mit der individuell erlebten Realität häufig kaum etwas zu tun haben, funktioniert aber trotzdem. Denn das abstrakte große Ganze – die globalisierte Welt, Europa, ja die eigene Gesellschaft samt ihren Funktionen – können wir uns ohnehin nicht durch eigene Sinneswahrnehmung erschließen. Wir folgen daher Erzählungen, die unser Weltbild prägen. Diese Narrative können – und sollten – auf Fakten gründen. Wenn letztere jedoch zunehmend durch Emotionen, Affekte ersetzt werden, entstehen „falsche“ Geschichten über ebendiese Welt, die – je affektgeladener, desto stärker – ihre eigene suggestive Kraft entfalten; erlebte Realität hin oder her.
Die wirkungsmächtigste Emotion ist zweifellos die Angst vor dem eigenen Untergang, die schon die Friedensbewegung zusammenhielt und die sich als „Friedenswinter“ rudimentär wiederbelebte. An die Stelle des Atomtods setzen die Demagogen nun die Asylkatastrophe. Dass Europa dem Untergang geweiht sei, wenn sich die Menschen nicht gegen die „Asylantenfreunde“, „Volksverräter“ und „Regimeparteien“ auflehnten, ist ein Affekt, der Pegida- und AfD-Anhänger; Marine Le Pens oder Geert Wilders‘ Parteigänger und manch andere europaweit auf die Straßen treibt. Zu lange schon leben diese Menschen in einer Scheinwelt, in der Realität von Wut und nationalistischen Fantastereien verdeckt ist.
Diese Phänomene sind verschränkt oder überlappen sich mit einer zweiten gefährlichen Entwicklung, diesmal innerhalb von Teilen der politischen und wirtschaftlichen Eliten Europas. Da sie die Gewinner der (wirtschaftlichen) Internationalisierung sind und ihr materielles Sein auskömmlich gesichert ist, gerät schon mal die Beschaffung der neuesten Sorte veganen Joghurts zur Hauptsorge in den entsprechenden Haushalten. Diese Eliten zeichnen sich durch eine „Überindividualisierung“ oder auch „Verfeinerung“ vulgo übersteigerte Sorge um die eigene Befindlichkeit aus, wodurch ihnen schon mal aus dem Blick gerät, dass es auch noch Menschen gibt, denen das „Materielle“ durchaus noch eine tagtägliche Sorge ist, die die politische Sprache nicht nur nicht verstehen können, sondern sich von ihr missverstanden fühlen (müssen). Zum Beispiel prägen Fragen des Umgangs mit Homosexuellen oder Genderstudies, aber auch der Lebensmittelsicherheit, der artgerechten Tierhaltung oder des Arten- und Klimaschutzes sowie der interkulturellen Kompetenz, von Bildung und Forschung und der Bedeutung von Religionen und ethnischen Minderheiten im sozialen Kontext – mithin soziologische, ökologische und kulturelle Themen – die politischen Debatten in ziemlich hohem Maße; durchaus erörterungswürdige Gegenstände, deren Sinnhaftigkeit jedoch auf dem Hintergrund der eigenen Lage in Teilen der Bevölkerung hinterfragt respektive erst gar nicht verstanden wird. Der dadurch teilweise berechtigte Vorwurf der Abgehobenheit und Ausgrenzung liegt dann nicht fern. Folglich spielen in der Politik, die von den in Rede stehenden Kreisen maßgeblich getragen wird, wenn nicht gar in Teilen zu verantworten ist, kulturelle, außerökonomische und identitätsstiftende Diskurse zuweilen eine größere Rolle denn „harte“ politische oder wirtschaftliche, das Leben vieler Menschen unmittelbar betreffende Fakten. Geht es mal um letztere, sind die präsentierten politischen Lösungen häufig „alternativlos“.
Für die deutsche Bundesrepublik kommt ein Drittes spezifisch hinzu. Der Kulturtheoretiker Byung-Chul Han, der in Berlin lehrt, nennt es die „Positivität des Könnens“. Volkstümlicher und in der Sprache der Kanzlerin heißt dies „Wir schaffen das“. Da im Kontext zu den ins Land kommenden Flüchtlingen gesagt, werden diese Worte von vielen Menschen nicht nur als Entgrenzung, dem Begriff folgend, in geografischer Hinsicht gedeutet, sondern vor allem als Überforderung im Ideologischen, Mentalen und last but not least im Materiellen verstanden. Hinzu kommt, dass je stärker dieses Diktum als unrealistisch angegriffen wird, desto konsequenter wiederholt es seine Autorin – oder sollte sie jetzt sagen „Wir schaffen das nicht“? Nicht wenigen Menschen namentlich im Osten erscheint jedoch ihr eigene Biographie als eine Serie von Niederlagen, von Verlusten, eben als „Nichtgeschafftes“. Tun sie sich damit als Opfer der Umstände nicht in Teilen Unrecht?
Insgesamt fühlen sich nicht wenige Europäer immer weniger von der Politik vertreten, sie sehen sich als Übergangene, Missachtete; soziale Desintegration droht.
Was angesichts dessen tun in und für Europa? Schwierig, jedoch bietet das positive Meinungsbild der Europäer von sich selbst durchaus Anknüpfungspunkte für ein Umsteuern.