Spanien 36 heute

Ein Interview mit fünf Mitgliedern der Infogruppe Bankrott zu Effekten und Gegenwart der Spanischen Revolution 80 Jahre danach (Teil 1 bis 3)

„Die Geschichte ist eine Erfindung, zu der die Wirklichkeit ihre Materialien liefert. Aber sie ist keine beliebige Erfindung. Das Interesse, das sie erweckt, gründet auf den Interessen derer, die sie erzählen [...].“ (1)

Hans Magnus Enzensberger, Der kurze Sommer der Anarchie

Politische Biographien

 

GWR: Die Spanische Revolution jährt sich im Sommer 2016 zum 80sten Mal. Während der Spanische Bürgerkrieg, an dessen Beginn die Soziale Revolution stand, zu einem der besterforschten Ereignisse des 20. Jahrhunderts gehört, zu dem es an ZeitzeugInnenberichten ebenso wenig mangelt wie an literarischen Verarbeitungen, sieht es mit der Sozialen Revolution anders aus. Sie ist beinahe in Vergessenheit geraten.

Als wir mit dem Infoladen Bankrott in den 1990er Jahren in Münster unsere Veranstaltungsreihe begannen, war der Film „El pueblo en armas – Das Volk in Waffen“ fester Bestandteil des Semesterprogramms. Der Film, 1937 in den Reihen der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT entstanden, feiert die Errungenschaften der Sozialen Revolution und geht nur nebenher auf den Krieg ein. (2)

Nun gilt die Spanische Revolution einerseits als erste und bisher einzige libertäre Revolution in einer modernen Massengesellschaft. Andererseits aber trug diese Gesellschaft Züge, die sich in fast allem von unserer Realität im Deutschland der 1990er Jahre unterschieden: von der Klassenspaltung und den Geschlechterverhältnissen über den Bildungsgrad ihrer Mitglieder bis hin zu den ökonomischen und politischen Strukturen im Allgemeinen. Wieso also – und da frage ich erstmal hinsichtlich der eigenen Sozialisation(en) als bezogen auf die Veranstaltungsplanung in einem Infoladen – hatte „der kurze Sommer der Anarchie“ (Enzensberger) überhaupt so eine Anziehungskraft? Wie trat Spanien 36 in euer Leben?

 

Bernd: Die Spanische Revolution 1936 bleibt für emanzipatorische Soziale Bewegungen relevant, weil sie ein Beispiel dafür ist, dass eine Gesellschaft auch im großen Maßstab nach anarchistischen Prinzipien „von unten“ umgewälzt werden kann. Anarchie ist eben keine reine Utopie, sondern lässt sich tatsächlich ganz konkret als gesellschaftliche Organisationsform verwirklichen. Dafür ist die Spanische Revolution ein Beweis, auch wenn damals natürlich nicht alles heiter Sonnenschein war und manche AnarchistInnen oft dazu neigen, die damaligen Geschehnisse zu verklären und üble Sachen, wie etwa die Militarisierung und die massenhafte Ermordung von Priestern und Nonnen im Spanischen Bürgerkrieg, auszuklammern.

Spanien 36 trat relativ spät in mein Leben. Ich hatte mich als langhaariger Gymnasiast Anfang der 1980er Jahre in den Friedens-, Anti-Atom-, Antifa-, Anti-Apartheid- und Ökobewegungen politisiert und radikalisiert. Die Frage, welche gesellschaftlichen Konsequenzen aus der nationalsozialistischen Terrorherrschaft für emanzipatorische Bewegungen gezogen werden müssen, hat mich schon damals bewegt. „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“, das waren und sind Leitlinien, die mein Handeln bestimmten und bestimmen. Lernen aus der Geschichte. Auf die Spanische Revolution bin ich erst ab etwa Mitte der 1980er Jahre gestoßen, zunächst wohl durch das einfach geschriebene und die Spanische Revolution aus heutiger Sicht ein bisschen platt verherrlichende Buch „Was ist eigentlich Anarchie?“ (3) aus dem Karin Kramer Verlag. Im August 1986 zog ich nach Münster, um Politik, Soziologie und Pädagogik zu studieren. Anders als in meiner Heimatstadt Unna gab es hier eine recht große Anarchoszene. In meiner ersten Anarcho-WG wurden neben Arbeiterkampf, taz und Konkret u.a. auch anarchistische Blätter wie Schwarzer Faden, Graswurzelrevolution und DA gelesen. Dort fand sich 1986 einiges zum Thema „50 Jahre Spanische Revolution“. Wobei die Konkret den Anarchismus in Spanien 1936 in einer Extrapublikation in orthodox-marxistischer Tradition als „kleinbürgerlich“ und „konterrevolutionär“ diffamierte. Beeindruckt waren wir vom Text- und Bildband, der 1986 zu den „the ex“-Punk-Schallplatten „the spanish revolution 1936“ gehörte. Später habe ich „Leben ohne Chef und Staat“ von Horst Stowasser (4), „Der kurze Sommer der Anarchie“ von Enzensberger, „Mein Katalonien“ von Orwell und viele andere Bücher zum Thema gelesen. Die libertären Schulkonzepte der Escuela Moderna von Francisco Ferrer, die 1936 in der Spanischen Revolution in tausenden Freien Schulen Realität wurden, spielten eine Rolle, als ich 1995 mit einigen FreundInnen die 2000 leider gescheiterte Initiative für eine „Freie Kinderschule Münster“ gegründet habe.  

Ab Ende der 1980er Jahre war ich sehr im Münsteraner Umwälzzentrum (UWZ) engagiert, wo ich anarchistische Zeitschriften und von 1989 bis 1991 auch die „Atomkraft Nein Kalender“ mit produziert habe. 1992 kam es zur Spaltung der UWZ-Ladengruppe, der ich bis dahin angehörte. Gemeinsam mit anderen AnarchistInnen und Feministinnen, die zuvor im UWZ aktiv waren, gründeten wir dann im Mai 1992 den Infoladen Bankrott, der Name war inspiriert durch ein Zitat eines UWZlers: „Entweder ihr oder wir, entweder funktionierende Ökonomie oder Bankrott“.

Der im UWZ verbliebene Besitzer der UWZ-Druckerei wechselte die Schlösser aus und drängte mit Hilfe einiger Freunde und Angestellter alle sich mit der (Ex-)UWZ-FrauenLesben-Archivgruppe solidarisierenden Menschen unter Androhung von Gewalt aus dem UWZ heraus. Das war eine bittere Erfahrung. Das alte UWZ wurde daraufhin ab 1992 mehrere Jahre lang von etlichen Infoläden boykottiert, während der Infoladen Bankrott von vielen Infoläden solidarisch unterstützt wurde. Ein Genosse aus Dortmund schenkte uns 1992 zahlreiche Videofilme, u.a. auch den anarchosyndikalistischen CNT-Agitpropfilm „El pueblo en armas“ und Dokumentarfilme, u.a. „Die lange Hoffnung“ über die SpanienkämpferInnen Augustin Souchy und Clara Thalmann. In „Die lange Hoffnung“ beschreibt Souchy auch, dass den eigentlich zutiefst antimilitaristischen AnarchosyndikalistInnen der bewaffnete Kampf von den Faschisten (zur Verteidigung) aufgezwungen worden sei. Von ihm stammt der schöne und immer noch richtige Satz: „Anarchie ist nur gewaltfrei denkbar, sie bleibt das Fernziel der Menschheit.“ Unser bundesweit ab Mai 1992 bei Demos und Veranstaltungen präsenter Bankrott-Büchertisch wurde größer. Im Wintersemester 1992/93 machten wir unsere erste wöchentliche Bankrott-Film- und -Veranstaltungsreihe, zunächst im abrissbedrohten Wohnprojekt Breul-Tibusstraße. Ab 1993 machten wir in jeder Semesterwoche eine Veranstaltung im FaRat-Café und später in der Baracke, dem libertären Zentrum an der Uni Münster.

Ab Sommer 1994 hatten wir bis zur „Wiedervereinigung“ mit dem UWZ 2005 unser eigenes Bankrott-Ladenlokal im Emma-Goldman-Zentrum im Dahlweg 64. Die Spanische Revolution thematisierten wir nicht nur an den Jahrestagen 1996, 2001 und 2006. Im Laufe der Jahre lernten wir Spanienkämpfer persönlich kennen. Ich erinnere mich besonders gerne an Helmut Kirschey.

Im Oktober 2001 hatten wir das große Glück, den damals 88-Jährigen persönlich kennen zu lernen. Der Anarchismusforscher Dieter Nelles machte zu dieser Zeit gemeinsam mit dem Spanienkämpfer eine Veranstaltungsrundreise, auch um die mit dem Kulturpreis des schwedischen Arbeiterbildungsvereins ausgezeichnete Biographie „Helmut Kirschey: A las Barricadas. Erinnerungen und Einsichten eines Antifaschisten“ (5) vorzustellen. Als Graswurzelrevolution-Redakteur und Infoladen-Bankrott-Kollektivist hatte ich die Veranstaltung in Münster mitorganisiert. Auch hier erzählte Helmut Kirschey mit dem Elan eines 30-Jährigen seine Lebensgeschichte. (6)

Ein ähnlich beeindruckender Zeitzeuge der Spanischen Revolution, den ich noch persönlich kennenlernen durfte, war Abel Paz (Diego Camacho). (7)

 

Bewi: Ich würde ganz klar sagen: durch den Infoladen Bankrott und eben die genannten Veranstaltungen! Die müssten auch ergänzt werden: Wir haben neben Filmen eine ganze Reihe Menschen zu dem Thema eingeladen, hervorheben möchte ich mal Vera Bianchi zu den Mujeres Libres, vor allem aber auch ZeitzeugInnen selber: Abel Paz hat in unserer WG gepennt – weder vorher noch nachher gab es jemals so viele volle Aschenbecher in meinem Zimmer – und Helmut Kirschey hat uns in seine Wohnung nach Göteborg eingeladen. Wir sind leider die letzte Generation, die noch die Möglichkeit hatte, persönlich und intensiv mit Teilnehmenden der Revolution zu sprechen. Das ist etwas Besonderes, vor allem, weil diese Kommunikation eben nicht nur eine politische, sondern immer auch eine persönliche war.

Aber zur eigentlichen Frage: Erst mal hat die Spanische Revolution in meiner politischen Sozialisation kaum eine Rolle gespielt. In den Studierendenprotesten 1997 haben einige aus der Hochschulgruppe „Undogmatische Linke“ erst gewerkschaftliche Konzepte reizvoll gefunden. Daraus entstand auch eine Auseinandersetzung mit dem Anarchosyndikalismus.

Für mich persönlich war das vielmehr eine Auseinandersetzung mit der deutschen Revolution 1918/19, später dann auch mit der Geschichte der Industrial Workers of the World (IWW) und den französischen Ursprüngen des Syndikalismus. Vorher – zu Schulzeiten, im Zivildienst und am Beginn des Studiums – habe ich ja relativ viel Antifa-Arbeit gemacht, wenn auch eher historisch als praktisch. Die Spanische Revolution hat nun diese beiden Komponenten zusammengebracht: revolutionäre Gewerkschaftsarbeit und antifaschistisches Engagement.

Eine wesentliche Rolle spielte sicher unsere Reise zum Zweiten Interkontinentalen Treffen für die Menschlichkeit und gegen den Neoliberalismus in Spanien 1997. Man glaubte, den Geist von 1936 dort zu spüren, sprach mit den GenossInnen der CNT. Vor allem waren wir ja in dem Örtchen Serra d’Almos, das sich bis dato eine weitgehende Selbstverwaltung erhalten hatte und sich auf 1936 berief. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, habe ich auf der Reise auch den „Kurzen Sommer der Anarchie“ gelesen.

Doch, ziemlich sicher, denn eine dort beschriebene Episode haben wir dann sehr ähnlich erlebt: Es gibt in dem „kurzen Sommer“ den Bericht eines britischen Journalisten, der überrascht ist, als die AnarchistInnen in einem kleinen Dorf ihm umsonst sein Motorrad reparieren – gerade nachdem ich das gelesen habe, ist uns das mit unserem Auto passiert.

Dazu muss man sicherlich auch sagen: Mir wurde das irgendwann „zuviel Spanien“. Unter den ganzen historischen Filmen und Vorträgen litt m.E. die aktuelle Praxis und ich hatte auch den Eindruck, dass die Menschen, die wir ansprechen wollten, unsere Faszination oft nicht teilten. Irgendwann habe ich Veranstaltungen zur Spanischen Revolution – wenn es nicht etwas ganz besonderes war – nahezu blockiert.

Eine Anekdote ist sicher noch berichtenswert: 1999 oder 2000 zeigte der AStA der Uni Münster den Film „Land and Freedom“ und wir waren eingeladen, zu dritt eine Einführung in die Spanische Revolution zu referieren. Beamer waren damals noch technische Ungetüme, mit denen kein Mensch umgehen konnte. Derjenige, der das konnte, war ein konservativer Geschichtsstudent, Mitglied der CDU. Der kommentierte unseren Vortrag seinerzeit: „Eins muss man euch Anarchisten lassen: Im Gegensatz zu Sozialdemokraten könnt ihr Fehler eingestehen.“

 

Baxi: Puh, das kann ich gar nicht mehr so genau sagen. Ich muss deshalb aufpassen, dass ich mir nicht irgendeine frühreif-revolutionäre Politisierung andichte, die ich als verschüchtertes Schülerlein noch gar nicht haben konnte. Aber die Vergangenheit – und die Gegenwärtigkeit von Vergangenheit – spielte in meiner Familie schon immer eine große Rolle. Obwohl sich diese Geschichtlichkeit des eigenen Lebens naturgemäß eher auf die Zeit des Dritten Reiches bezog. Aber ich bin mir doch ziemlich sicher, dass über den Umweg der eigenen Familiengeschichte erst die dreißiger Jahre in Deutschland und dann die dreißiger Jahre in Spanien in mein Leben getreten sind…

Mein Großvater mütterlicherseits kam aus einer glühenden Nazi-Familie in Hamburg. Meine Großmutter mütterlicherseits dagegen war die Tochter eines der bekanntesten politischen Nazi-Opfer in Mainz. Ich habe ihr als Teenager ihre zuweilen wüsten Tiraden gegen die politische Rechte nie so ganz abgenommen und im Stillen vermutet, sie wolle mir, zumal, als meine Haare länger und meine Gedanken krauser wurden, eigentlich nur schön tun. Bis ich begriff, dass sie wirklich keinen Grund hatte, die Nazis zu lieben.

Sie hatten ihren Vater auf dem Gewissen und nach dem Mord ihre Familie, wo nicht ins Elend gestürzt, so doch deren bis dahin recht sicheres und wohlhabendes Leben mit einem Schlag beendet. Bei meinem Großvater reichte es offensichtlich nicht für eine richtige Nazi-Gesinnung, trotz seines familiären Hintergrunds. Aber er gefiel sich zuweilen in pompösen, reaktionären Tiraden – auch zu meiner Zeit noch – die meine Mutter als junge Frau das Schlimmste fürchten ließen. Sie versuchte, herauszufinden, was ihr Vater wirklich im Krieg gemacht hatte, in der Hoffnung, dass er als Wehrmachtssoldat nicht mehr Blut als unvermeidlich an den Händen hatte. Was sich dann zum Glück auch herausstellte.

Aber das, da bin ich mir ziemlich sicher, war die eigentliche Geburtsstunde des „Geschichtsbewusstseins“ in meiner Familie.

Als Lehrerin hat meine Mutter dann mit ihren Schülerinnen und Schülern regelrechte Forschungsprojekte zur Lokalgeschichte während des Dritten Reiches ins Leben gerufen, über die der WDR sogar Dokumentarfilme drehte und ausstrahlte. Gleichzeitig war eine derart kritische Arbeit im erzkonservativen Essener Süden natürlich alles andere als alltäglich, und es kam durchaus vor, dass irgendwelche verkalkten CDU-Hinterbänkler bei meiner Mutter in der Elternsprechstunde auftauchten, um sie väterlich zu belehren. Ich muss, wenn ich mir diese Szenen heute vorstelle, immer an den Kabarettisten Werner Finck denken, der in den fünfziger Jahren einmal zur immer repressiver werdenden Kultur unter Adenauer gesagt hat: „Ich möchte einmal festhalten: Ich bin nie verboten worden. Man hat mir immer nur ‚nahegelegt‘…“ All das bekam ich zuhause mit, und war naturgemäß ganz und gar auf Seiten meiner Mutter, die so gemein behandelt und schlecht gemacht wurde.

Sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, hatte für mich also recht früh auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun.

Zu einem Schlüsselerlebnis wurde dann eine Exkursion, die die VVN und die DFG-VK organisierten, als ich schon Zivildienst machte. Ich hatte die Ankündigung zufällig am Schwarzen Brett der Essener Stadtbücherei gesehen, einen winzigen, rosa Zettel, den niemand beachtete: „Zeitzeugenexkursion zum Konzentrationslager Papenburg-Esterwegen“. Wir hatten mit der Schülervertretung bis zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Veranstaltungen mit Zeitzeugen gemacht, und ich dachte mir: „Naja, das wird wohl so ähnlich sein. Ein Bus voller Schülerinnen und Schüler, und vorne ein alter Mann oder eine alte Frau, die uns etwas erzählen.“

Als ich mir dann ein Herz gefasst und mich pünktlich am Essener Busbahnhof eingefunden hatte, traf mich fast der Schlag: Abgesehen von zwei jungen Lehrerinnen und den Organisatoren der Exkursion war ich der einzige Mitreisende, der nicht mindestens jenseits der Siebzig war – und der mit weitem Abstand jüngste. Ich fuhr tatsächlich ins Emsland mit einem ganzen Bus voller Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Und alle waren aktive Nazi-Gegnerinnen und Gegner gewesen! Einige hatten tatsächlich in dem Konzentrationslager gesessen, das wir gerade besuchen fuhren. Ich werde das nie vergessen: Ich, der winzige, dürre, völlig verwirrte Baxi, saß in meiner Bankreihe und hörte zu, wie sich drei (in meiner Wahrnehmung) uralte Männer vor mir lachend darüber unterhielten, wie die Gestapo sie abgeholt hatte, und sich gegenseitig damit aufzogen, wer den ungemütlichsten Transport gehabt hätte: „Ach komm‘, Du bist doch wenigstens im Zug gefahren! Mich haben sie an den Haaren zum Auto gezerrt…“

„Haare? Was für Haare? Du hattest doch damals schon genauso wenig Haare wie heute!“ Sie lachten und freuten sich, als würden sie sich ihre schönsten Urlaubserlebnisse erzählen.

Es war ein Klassentreffen unter ein bisschen grau gewordenen revolutionären Genossinnen und Genossen. Ich war vollkommen sprachlos.

Der Spanische Bürgerkrieg hatte dann seinen großen Auftritt, als wir zu einer Gedenkstätte für die KZ-Opfer aus Esterwegen wanderten und sich herausstellte, dass viele meiner Mitreisenden trotz ihres vergnüglich großen Mundwerks nicht mehr halb so gut zu Fuß waren, wie sie gerne taten. Es ging auf einem gewundenen Pfad durch die Heide, es war recht warm, und auf dem Weg stand nur eine einzige, steinerne Bank im Schatten von ein paar dünnen Birken. Auf dieser Bank nun knubbelten, drückten und schubsten sich kichernd ‚meine‘ Alten, bestimmt sechs oder sieben, wo allenfalls drei oder vier Platz gefunden hätten.

Als wären sie eine undisziplinierte, aber gut gelaunte Grundschulklasse.

Ich stand schüchtern daneben und starrte auf meine Schuhspitzen, während mir der eine oder die andere unter ausgiebigem Gegluckse zuwisperte, so toll sei es eben leider doch nicht mehr mit den Beinen oder der Hüfte. Ich konnte ja gar nicht anders, als mir im Stillen auszumalen, wie viele Schläge und Tritte wohl für diese Schwächen verantwortlich sein mussten, die sie von den Mördern des Regimes bekommen hatten, als es plötzlich still wurde: Den Weg herunter kam eine in jeder Hinsicht beeindruckende, voluminöse Frau in einer wehenden, grauen Kittelschürzte und mit einem turmhohen Dutt, die mir schon bei der Abfahrt aufgefallen war. Sie rollte mehr, als das sie ging, auf die überfüllte Bank zu, baute sich vor den verknotet Aufsitzenden zu ihrer vollen, durchaus beeindruckenden Größe auf und raunzte sie grimmig an: „Was ist denn los mit euch? Seid ihr alt geworden? Habt ihr keinen Mumm mehr in den Knochen?!“ Dann warf sie einen finsteren Blick zu mir herüber und sagte: „Was soll der junge Mann denn von euch denken?“ Ich hätte im Boden versinken können vor Scham. Sie sprach‘s, drehte sich verächtlich um und rollte weiter den Weg hinab. Auf der Bank herrschte betretenes Schweigen. Dann drehte sich ein Herr zu mir um und sagte respektvoll lächelnd: „Das sind die, die früher gekämpft haben. Die haben heute auch noch Kraft.“ „Gekämpft? Wo denn gekämpft?“, fragte ich. „Im Spanischen Bürgerkrieg“.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt allenfalls entfernt oder nebulös etwas über den Spanischen Bürgerkrieg und die Soziale Revolution gehört. Nun aber hatte auch diese Geschichte plötzlich ein menschliches Gesicht, und ich begann, neugierig zu werden. Für mich wurde die Geschichte des Bürgerkriegs dann vor allem zu einem wichtigen Baustein einer politischen Abgrenzungsidentität von kommunistischen und marxistischen Strömungen und Parteien, die schon zu meiner Schulzeit begonnen hatten, mir widerwärtig zu werden. Im Grunde bin ich Anarchist geworden, weil ich Parteien misstraue. Farbe, Form und Inhalt bekam meine reichlich diffuse libertäre Gesinnung aber tatsächlich erst, als die Geschichte des Bürgerkriegs – im wahrsten Sinne des Wortes – meinen Weg kreuzte.

Kein Wunder, dass wir uns bis heute treu geblieben sind.              

 

Daniel: Tatsächlich hat Spanien 36 in meinem Leben keine besondere Rolle gespielt. Meine politische Sozialisation begann mit meiner Kriegsdienstverweigerung und führte mich von dort zu Pazifismus und Gewaltfreiheit. Spanien war für mich zum ersten Mal von Bedeutung als das Land der Totalen Kriegsdienstverweiger „Insumisos“.

Zur Zeit meiner Totalverweigerung waren das etwa 30 % eines Jahrgangs, die nicht zum Kriegs- bzw. Ersatzdienst antraten, während es in Deutschland gerade mal 100 Totis waren – das gelobte Land.

Von der Spanischen Revolution oder dem Spanischen Bürgerkrieg habe ich zum ersten Mal im Zusammenhang mit „Spanish bombs“ von Clash gehört. Später tauchte sie dann immer mal wieder auf – z.B. bei Arthur Koestler und Peter Weiss – und war für mich vor allem der Beleg, dass eine herrschaftsfreie und sozialistische Gesellschaftsorganisation möglich ist.

Den Klassiker „Mein Katalonien“ von Orwell habe ich erst spät gelesen und „Der kurze Sommer der Anarchie“ von Enzensberger nie.

 

Petz: Bei mir war es einerseits tatsächlich Enzensberger, den ich 1992 gelesen habe – es gibt Urlaubsfotos aus dem Jahr, da liegt das Buch neben dem Bett, deshalb weiß ich das so genau –, der meine Faszination für die Spanische Revolution geweckt hat. Andererseits war es in einem weiteren Sinne aber meine Suche nach alternativen Politik- und Lebensmodellen, in der schließlich auch Spanien 36 auftauchte. Ich komme aus einer Familie, in der es keinerlei linke Tradition gab, im Gegenteil.

Mein Vater war als Jugendlicher aus Schlesien vertrieben worden und vertrat in den 1980er Jahren im Wesentlichen die Politik der Vertriebenenverbände, gepaart mit einer Begeisterung für Eigeninitiative und Geschäftssinn, die seiner Karriere den richtigen ideologischen Halt gaben und die er seinerzeit in Margret Thatcher verkörpert sah.

Meine Mutter habe ich weitgehend als unpolitisch erlebt, aber ihr Vater, mein Opa, den ich sehr geliebt habe, war deutschnationaler Burschenschafter gewesen. Ich musste mir also erst von Freunden oder in der Schule erzählen lassen, was „1968“ bedeutete, und eignete mir so Stück für Stück ein alternatives Geschichtsbild an. Als Abiturient, also um 1990, verstand ich mich bereits als Anarchist. Und es hat mich schier umgehauen, daran kann ich mich noch erinnern, als ich erfuhr, dass in dem gleichen Jahr 1936, in dem meine Oma als begeisterte Zuschauerin bei den Olympischen Spielen in Berlin gewesen war, in Spanien eine Revolution ausgebrochen war.

 

Rezeptionsweisen

 

GWR: Manche von uns haben sich nur am Rande mit der Spanischen Revolution beschäftigt, andere sind regelrechte Spezialisten geworden. Bleiben wir zunächst bei allgemeinen Rezeptionsweisen. Nach einer recht gängigen Unterscheidung zwischen „alter“ und „Neuer Linker“ gehören die AnarchistInnen des Bürgerkriegs und der Revolution ja noch einer klar proletarisch geprägten Bewegung an, während der Neo-Anarchismus ab den „1968er Jahren“ eher bürgerlich war. Den klassenkämpferischen Inhalten und der selbst unter AnarchistInnen ja recht verbreiteten organisatorischen Disziplin folgten eher subkulturelle Rebellionsmodelle. Dennoch tauchen ja die Inhalte und Symbole der Spanischen Revolution überall auf, auch in unseren Kreisen. Als Subcomandante Marcos, der Sprecher der zapatistischen Bewegung, 1994 über seine Identität sprach, beschrieb er sich unter anderem als „Anarchist in Spanien“. Wir fühlten uns bestätigt in dieser Kontinuität. (8) Die Platte der Punk-Band Daddy Longleg „Unrest“ (1999) zeigt als Coverbild einen Lautsprecherwagen aus der Revolution. Seht oder saht ihr da auch eher ein Anknüpfen oder auch ein Spannungsverhältnis? Wie äußerte sich das eine oder das andere?

 

Daniel: Wir beziehen uns auf die Spanische Revolution, weil wir von einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft träumen. Wer mit der Welt, wie sie heute ist, zufrieden ist, tritt das Erbe der Sieger an, und wir sind die Erben der  Unterlegenen, die für eine  bessere Welt gekämpft haben. „Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten‘s besser aus.“

Der Unterschied zwischen uns und den spanischen Proletariern oder den mittelalterlichen Bauern spielt dabei keine Rolle. Warum hat sich der Spartakus-Bund 1918 wohl nach einem römischen Sklaven benannt, der kaum etwas mit dem modernen Kommunismus zu tun hatte?

 

Baxi: Ich würde sagen, es gibt beides: Anknüpfungspunkte und (gehörig) Spannungsverhältnisse. Einerseits war die Soziale Revolution, die sich in der republikanischen Zone während des Bürgerkriegs bis mindestens 1937 abspielte, so unvollkommen, widersprüchlich und zum Teil blutig sie auch immer gewesen sein mag, ein faszinierendes Experiment radikaler und tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen. Was mich immer besonders fasziniert hat, war die lange, langsame und geduldige Vorbereitung, die vor allem in den zahllosen anarchosyndikalistischen Gewerkschaften auf den revolutionären „Tag X“ geleistet wurde.

Die föderierten Genossinnen und Genossen hatten offenbar keinen Zweifel daran, dass der Tag der Revolution kommen würde, und wollten gut gerüstet sein. Die der CNT angeschlossene Gewerkschaft der Strom-, Gas- und Wasserwerker von Barcelona beispielsweise, mit dem etwas pompösen Namen „Luz y Fuerza“ (‚Licht und Kraft‘), schickte einige ihrer Mitglieder jahrelang auf eigene Rechnung auf internationale Technikmessen und Fachtagungen. Als die Gewerkschaft dann im Juli 1936 die Energieversorgungsbetriebe der Stadt kollektivierte, wussten ihre Mitglieder zum Teil besser über technische Neuerungen Bescheid als die besten Ingenieure der ehemaligen „Mutterfirma“. Die Revolution war für sie keine Phrase, nicht einmal eine Utopie, sondern ein konkretes, umfassendes Lebensprojekt.

Außerdem macht man ja eh einen großen Fehler, wenn man die anarchistische Bewegung Spaniens zur Zeit der 30er Jahre als eine rein proletarische Bewegung versteht. Natürlich war sie vor allem proletarisch, insbesondere in den Gewerkschaften. Aber der Anarchismus war ja weder ideologisch noch was seine kulturelle und politische Praxis anging, auf die Arbeiterschicht beschränkt.

Im Gegenteil: Seine soziale Basis war viel heterogener, als das heute häufig dargestellt wird, mit anerkannten Dichtern wie Gregorio Oliván, der sein Geld als Richter (!) verdiente, oder der anarchistischen gewaltfreien Ärztin Amparo Poch y Gascón, deren Vater in Zaragoza als Offizier arbeitete. Die Befreiung von Herrschaft und Unterdrückung sollte für die gesamte Menschheit gelten, nicht nur für den Teil, der mit Industriearbeit sein Brot verdiente.

Die Versuche vieler Anarchistinnen und Anarchisten, auch ihren Alltag konsequent nach freiheitlichen Prinzipien zu gestalten, haben sicherlich – gemessen am sogenannten „Neo-Anarchismus“ – genauso wenig an Aktualität verloren wie die Schwierigkeiten, denen die Anarchistinnen und Anarchisten bei ihrem Versuch begegneten, eine freiheitliche gesellschaftliche Ordnung Wirklichkeit werden zu lassen und sie, wohl oder übel, zu organisieren.  

Aber andererseits reden wir über Spanien während der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, und da war kulturell, politisch und sozial nun wahrlich so einiges anders als heute – in Spanien, Deutschland und Europa. Wer sich zum Beispiel das Verhältnis von Männern und Frauen innerhalb der anarchistischen Bewegung dieser Jahre anschaut, dem wird schnell bewusst, dass es in Spanien sogar noch repressiver zuging als in anderen Ländern Europas zur gleichen Zeit.

Die sexistische (Pseudo)Verwissenschaftlichung der Unterdrückung von Frauen beispielsweise, die der Spätpositivismus Ende des 19. Jahrhunderts bewirkt hatte, galt in Spanien noch bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts als neumodischer Firlefanz oder sogar als Teufelszeug – des großen Einflusses der katholischen Kirche wegen. Man hatte also quasi die Wahl zwischen einem reaktionären und einem noch reaktionäreren Frauenbild. Man sollte daher in der Tat nie vergessen, dass man, wenn man den Blick auf den Spanischen Bürgerkrieg richtet, auf eine andere Zeit schaut, ein anderes Land und eine zum Teil sehr andere Dominanzkultur.

 

Bewi: Ich glaube, dieser Bruch zwischen „alter“ und  „Neuer“ Linke wird überschätzt. Nicht nur die Kultur(en) der AnarchistInnen, sondern überhaupt der ArbeiterInnenbewegung waren immer Subkulturen – oft sogar Parallelgesellschaften – mit absurdesten Auswüchsen.

Wie sich etwa Erich Mühsam über die Bewohner der Kommune in Ascona lustig macht oder wie Hermann Hesse schon früh humoristisch einen Konflikt zwischen einem Vegetarier und einem Veganer darstellt – das passt in den historischen Anarchismus ebenso wie in den sogenannten Neoanarchismus.

Und nur, weil es diesen starken Bezug zur ArbeiterInnenbewegung gab – bzw. der Anarchismus m.E. nur eine Strömung der historischen ArbeiterInnenbewegung war und ist – heißt das nicht, dass es dort keine bürgerlichen Elemente gab. Die historische Arbeiterbewegung war in allen ihren Facetten oft sehr bürgerlich – auch personell, die meisten deutschen SozialdemokratInnen im ausgehenden 19. Jahrhundert waren etwa Lehrer.

So wie der Neoanarchismus mit Rock’n’Roll, Punk, Hardcore oder Hip-Hop z.B. musikalische Nischen gefunden hat, so gab es auch historisch eine eigene musikalische Kultur. Namentlich möchte ich Joe Hill nennen, der ja auch Karikaturist war und sich selber am Klavier in einer Zeichnung für den „Industrial Worker“ um 1910 als „Punk“ bezeichnet hat – im damaligen Wortsinne natürlich, für das amerikanische Bürgertum war er eben „Abschaum“ – aber in dem Sinne haben ja auch die Punks der 1970er den Begriff für sich verwendet.

Das alles gilt auch für Spanien – es gab etwa eine große vegetarische Bewegung innerhalb der CNT und der FAI.

Ich finde das deswegen relevant, weil es immer mal wieder ein paar anarchistische Fundis gibt, die sagen: Hört auf mit euren albernen Gender-, Veganismus- oder sonst was für Debatten und nehmt euch die KämpferInnen in Spanien zum Vorbild, die hatten Besseres zu tun. Hatten sie eben nicht: Sie haben – zeitgenössisch natürlich – genau dieselben Debatten geführt und dabei auch dieselben Spaltungen produziert.

 

Petz: In den 1990er Jahren gab es an der – oder viel mehr neben – der Uni Münster so genannte Studiengruppen, autonome Seminare, in denen sich Leute zusammenfanden, um bestimmte Themen und Inhalte zu diskutieren, die sie im offiziellen Lehrplan vermissten. Ich habe damals ein paar Semester lang das Studiengruppenverzeichnis mitgestaltet. Auf einem Cover verwendete ich ein Foto von lesenden RevolutionärInnen in einem ateneo libertario, einem der vielen libertären Kulturvereine aus der Spanischen Revolution.

Die Kontinuität wurde also auch hergestellt.

Obwohl ich der Unterscheidung zwischen alter und „Neuer“ Linker schon einiges abgewinnen kann, gründet meine Spanien 36-Begeisterung paradoxer Weise doch stark in einem Punkt, der quer dazu liegt – und damit eher Bewis These bestätigt.

Bei Enzensbergers Schilderung von Durruti hat mich nämlich weniger der Klassenstandpunkt als vielmehr die moralische Integrität fasziniert, mit der das Politische als Angelegenheit begriffen wurde, die alle Lebensbereiche umfasst. Damit meine ich die Haltung, dass die revolutionäre Praxis nicht nur bedeutet, die ökonomischen Verhältnisse umzuwälzen und/ oder den Staat zu zerschlagen, sondern weit darüber hinaus letztlich alle Handlungen des Alltags betrifft. Bei Gustav Landauer hatte ich schon vom „Sozialistischen Beginnen“ gelesen, und diese Unmittelbarkeit begegnete mir bei den Schilderungen aus der Spanischen Revolution wieder.

Als Haltung oder Anspruch war mir diese Weigerung, verändernde Praxis zu delegieren (an die Partei und ganz allgemein an die Zukunft), sympathischer als alles, was ich damals von marxistischer oder gar kommunistischer Seite zu lesen und zu sehen bekam.

Die Leute verabschieden sich von einem Tag auf den anderen mit „Saludos“ („Grüße“) statt „Adios“, weil sie mit Gott (dios) und der Religion nichts mehr zu tun haben wollen. Das hat mich begeistert. Auch in George Orwells Buch „Mein Katalonien“ habe ich die Begeisterung für dieses Alltagshandeln dann wieder gefunden.

 

Bernd: Ich denke, es gibt da sowohl ein Anknüpfen als auch ein Spannungsverhältnis. Insbesondere Baxi hat ja in der GWR die Schattenseiten der Spanischen Revolution nachgezeichnet und auch die nicht zuletzt von Abel Paz verharmlosend als „Zurückschießen“ dargestellten Morde an Mitgliedern des Klerus als Propaganda aufgedeckt.

Der US-amerikanische Historiker Michael Seidman hat in seinem Buch „Gegen die Arbeit“ (9) u.a. das Verhalten der spanischen ArbeiterInnen in den kollektivierten Fabriken und ihre Reaktionen auf die veränderten Machtverhältnisse am Arbeitsplatz analysiert. Er kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass  die Spanische Revolution am anhaltenden Widerstand der ArbeiterInnen gegen die Arbeit gescheitert sei.

Meine in der Jugend eher naive, glorifizierende Sicht auf die Spanische Revolution ist im Laufe der Jahre einer vielleicht realistischeren Betrachtung gewichen. Dazu hat auch Simone Weil beigetragen. Sie hat auf der Seite der AnarchistInnen am Spanischen Bürgerkrieg und an der Sozialen Revolution teilgenommen. Die Erlebnisse, die sie in Spanien 1936 gemacht hat, führten sie zu Kritik an revolutionärer Gewaltanwendung, die im französischen anarchistischen Milieu noch lange nach ihrem Tod und bis heute diskutiert wird. (10)

Ein Anknüpfen an Spanien 36 ist mit dem heutigen Wissen schwieriger und sollte differenzierter sein. Trotzdem bleibt der kurze Sommer der Anarchie 1936 ein wichtiger Bezugspunkt. Aber wir sollten die Geschehnisse nicht verklären, sondern die Gewalt kritisieren, die Verbrechen, die auch AnarchistInnen begangen haben, benennen, um aus diesen Fehlern zu lernen, um perspektivisch eine gewaltfreie, soziale Revolution denkbar zu machen.

Natürlich gibt es immer auch anarchische Subkulturen (wie Hippies und Punks), die prägend auf den Anarchismus wirken. Ich war vom 15. Lebensjahr an Langhaariger. Mich haben in der Jugend u.a. auch Anarcho-Bands wie Ton Steine Scherben und Cochise geprägt.

Den 1994 aufgekommenen Neo-Zapatismus in Mexiko finde ich interessant, habe mich aber nie in einer zapatistischen Gruppe engagiert. Alles, was ich über den Zapatismus weiß, stammt vom Hörensagen und Lesen, in Mexiko war ich nie. Prägende Erlebnisse hatte ich dagegen u.a. 1993 im türkisch-kurdischen Kriegsgebiet. (11)

 

3. Erinnerungspolitische Konjunkturen

Graswurzelrevolution: Die offizielle Erinnerungspolitik oder das kulturelle Gedächtnis im deutschsprachigen Raum kennt die Spanische Revolution eigentlich kaum. Zu sehr war die Erinnerung an den Bürgerkrieg geprägt von den ehemaligen InterbrigadistInnen – rund 5.000 Deutsche und ÖsterreicherInnen waren Teil der Internationalen Brigaden –, einige von ihnen saßen jahrelang etwa an zentralen Stellen des Regimes in der DDR. Unter Linken begannen einerseits in den 1980er Jahren die ersten Aufarbeitungsversuche und Demystifizierungen – etwa in Form des Buches von Thomas Kleinspehn und Gottfried Mergner: Mythen des Spanischen Bürgerkriegs (1989). (12) Andererseits tobte der innerlinke Kulturkampf aus dem Bürgerkrieg weiter: konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza schrieb im Vorwort zu einem Buch des kommunistischen Spanienkämpfers Fritz Teppich noch 1986 (1996 unverändert wiederaufgelegt), der „sog. freiheitliche, demokratische oder libertäre Sozialismus“ verhindere „eine real mögliche Befreiung von jeder Mehrwertegemeinschaft“. (13) Solche Diffamierungen wurden dann 2006 kaum mehr verbreitet, der 75. Jahrestag 2011 fiel dann publizistisch gesehen fast völlig aus. Wie wertet ihr diese erinnerungspolitischen Konjunkturen?

Daniel: Warum sollte eine bürgerliche Gesellschaft sich an eine libertäre Revolution erinnern? Der autoritäre Sozialismus hat in Deutschland – Bakunin sei Dank – nicht mehr die Kraft, andere Revolutionsmodelle zu diskreditieren oder sie sich einzuverleiben, und die anarchistische Bewegung ist auch nicht so stark, dass man eine großartige Erinnerungskultur erwarten könnte.

Petz: Es ist nicht so einfach, dass eine bürgerliche Gesellschaft per se einer Revolution nicht gedenkt, die sich gegen sie gerichtet hat. Schließlich gibt es – vom Nationalsozialismus mal abgesehen – wohl kaum eine Zäsur in Mitteleuropa, die mit einer derartigen Fülle von Kommentaren, Berichten und nicht zuletzt Studien versehen worden ist (und immer noch wird) wie die „1968er Jahre“. Auch die hatten ja einen starken, wenn auch nicht einheitlichen anti-bürgerlichen, anti-kapitalistischen Zug.
Von HistorikerInnen ist der Spanische Bürgerkrieg immer wieder als eine der zentralen Konflikte des 20. Jahrhunderts beschrieben worden. Es verwundert schon, dass der Revolution – außerhalb von den Geschichtswissenschaften und der anarchistischen Szene – so wenig Aufmerksamkeit zukommt.
Es gab ja schließlich nicht „nur“ selbstverwaltete Fabriken und kollektivierte Landwirtschaftsbetriebe, sondern auch eine enorme Alphabetisierungsleistung, Hunderte von Intellektuellen, die sich für die Revolution eingesetzt haben, mit den Mujeres Libres die größte feministische Organisation des 20. Jahrhunderts usw. usf., d.h. Anknüpfungspunkte auch für das bürgerliche Feuilleton, für politologische Demokratisierungsdebatten und soziologische Milieufragen gäbe es genug. Sicher waren die Akteurinnen und Akteure, also überlebende und gewissermaßen nachgeborene AnarchistInnen nach 1945, zu schwach, um sich im Kampf um hegemoniale Geschichtsbilder bemerkbar zu machen oder gar durchzusetzen. Dennoch bleibt es mir ein Rätsel.

Bernd: Ich denke, dass der etatistische „Sozialismus“ mit dem Verschwinden der DDR und der UdSSR auch in der hiesigen Linken massiv an Bedeutung verloren hat. Die „konkret“ bekommt schon lange kein Geld mehr aus der DDR. Gleichzeitig sind anarchistische Konzepte sogar in Kreisen der einstmals stalinistisch geprägten PKK, aber auch in Teilen des bürgerlichen Feuilletons der Bundesrepublik einigermaßen en vogue.
Dazu haben US-amerikanische Anarchisten wie David Graeber (ein gern gesehener Talkshowgast), Noam Chomsky, Howard Zinn und (posthum) Murray Bookchin beigetragen, ebenso die britische Anarchafeministin Laurie Penny. Das ist erfreulich. Von einer anarchistischen Massenbewegung, wie es sie 1936 in Spanien gab, sind wir hierzulande aber Lichtjahre entfernt. Wir Anarchistinnen und Anarchisten bleiben Außenseiter, werden aber nicht mehr unbedingt nur als „Terroristen“ oder „kleinbürgerliche Pseudorevolutionäre“ gesehen.
Heute ist es eine Herausforderung, an Spanien 36 zu erinnern, weil die ZeitzeugInnen, von denen wir Bankrottis noch einige kennenlernen durften, mittlerweile unter der Erde liegen.
Eine erinnerungspolitische Konjunktur kann heute also nur von „nachgeborenen“ AnarchistInnen ausgehen. Wir können dazu beitragen, Geschichte von unten wach zu halten, fortzuschreiben und Wissen weiter zu geben. Das kann in den wenigen verbliebenen anarchistischen Medien und Kleinverlagen stattfinden, aber kaum in der pro-kapitalistischen Mainstreampresse. Wir agieren als Minderheit. Auch in der anarchistischen Szene gibt es etliche, die sich für die Geschichte der Spanischen Revolution kaum interessieren. Dabei können wir aus „Spanien 36“ mehr lernen, als den meisten bewusst ist. Wir können einen Vorgeschmack auf den libertären Sozialismus bekommen. In diesem Zusammenhang möchte ich aus „Mein Katalonien“, George Orwells bewegendem Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg aus dem Jahre 1937, zitieren:
„Vor allen Dingen aber glaubte man an die Revolution und die Zukunft. Man hatte das Gefühl, plötzlich in einer Ära der Gleichheit und Freiheit aufgetaucht zu sein. Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu benehmen und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine. In den Friseurläden hingen Anschläge der Anarchisten (die Friseure waren meistens Anarchisten), in denen ernsthaft erklärt wurde, die Friseure seien nun keine Sklaven mehr.“ Der undogmatische Sozialist George Orwell beschrieb die geistige Atmosphäre des libertären Sozialismus, die er 1937 im anarchosyndikalistischen Barcelona erlebte: „Viele normale Motive des zivilisierten Lebens - Snobismus, Geldschinderei, Furcht vor dem Boss und so weiter - hatten einfach aufgehört zu existieren. Die normale Klasseneinteilung der Gesellschaft war in einem Umfang verschwunden, wie man es sich in der geldgeschwängerten Luft Englands fast nicht vorstellen kann. Niemand lebte dort außer den Bauern und uns selbst, und niemand hatte einen Herrn über sich. Natürlich konnte dieser Zustand nicht andauern [...]. Aber es dauerte lange genug, um jeden, der es erlebte, zu beeindrucken. Wie sehr damals auch geflucht wurde, später erkannte jeder, dass er mit etwas [...] Wertvollem in Berührung gewesen war. Man hatte in einer Gemeinschaft gelebt, in der die Hoffnung normaler war als die Gleichgültigkeit oder der Zynismus, wo das Wort Kamerad für Kameradschaft stand und nicht, wie in den meisten Ländern, für Schwindel. Man hatte die Luft der Gleichheit eingeatmet.“

Baxi: Nun, für einen solchen Konflikt braucht es ja gemeinhin zwei Seiten, und die eine fehlt: nämlich die der kommunistischen Parteien, denen der Mauerfall und der Zusammenbruch des Ostblock-Imperiums in Westeuropa langfristig nicht gut bekommen sind.
Der enorme Boom nicht nur der Anarchismusforschung, sondern auch von Organisationsprinzipien oder Entscheidungsfindungsverfahren in den neuen sozialen Bewegungen, die sich zumindest an anarchistische Ideen anlehnen, scheint die politischen Kräfteverhältnisse ja regelrecht umgekehrt zu haben.
Auf einmal ist der Anarchismus „in“, „hip“ oder „schick“, und keiner knurrt mehr: „Geh‘ doch nach drüben!“, weil eine jüngere Generation von Aktivistinnen und Aktivisten dann wohl nur denken würde: „Wie? Ins Nebenzimmer?“
Paradoxerweise hat diese Frischzellenkur des Anarchismus einerseits die Erinnerung an den Bürgerkrieg für viele junge Genossinnen und Genossen in die Mottenkiste gestopft – mit Geschichten aus den Zeiten scharfer ideologischer Konkurrenz kann man offenbar bei Occupy oder den Indignados wenig anfangen –, aber andererseits tauchen die alten Bruchlinien und Zankäpfel trotzdem immer wieder auf. Wenn auch oft „nur“ im kulturellen Bereich.
Als z.B. das mit Recht berühmte und gelobte Bear-Family-Lable vor kurzem eine sündhaft teure Box mit Liedern aus dem Spanischen Bürgerkrieg herausbrachte, da fanden sich genau zwei (!) anarchistische Hymnen in der Sammlung. Und das, obwohl die Anarchisten während des Bürgerkriegs, ganz im Sinne ihrer kulturrevolutionären Utopie, Lieder und Gedichte fast wie am Fließband hergestellt hatten, von denen viele aus der Feder kaum geschulter Genossinnen und Genossen stammten. Stattdessen durfte man eine kulturelle Gewichtung erleben, die auch in der alten DDR ihren Weg in die Läden hätte finden können. Die kulturpolitischen Mythen der ehemaligen Antagonisten von links sind nach wie vor lebensfähig und einflussreich. Vielleicht hat aber der Spanische Bürgerkrieg tatsächlich seine Anziehungskraft als Baustein für eine alternative politische Identität weitgehend verloren – sowohl in Spanien als auch in Europa und den USA. Das vermag ich allerdings nicht wirklich zu beurteilen. Ich habe, wenn ich in die englischsprachigen anarchist studies hineinschaue, eigentlich nicht diesen Eindruck. Im Gegenteil: Da geht es mit oft immer noch viel zu parteiisch zu.

4. Ereignisgeschichte

GWR: Der libertäre Kommunalist Murray Bookchin (1921-2006) hat in seinen kürzlich posthum auf Deutschen erschienenen letzten Texten eine Abkehr vom Anarchismus vollzogen, dem er Jahrzehntelang zugeneigt war. Er begründet das auf verschiedenen Ebenen, u.a. an einer veränderten Einschätzung hinsichtlich der Spanischen Revolution: Die CNT-Führung habe nicht zwischen Staat und Politik unterschieden und es vor diesem begrifflichen Hintergrund versäumt, eine „Arbeiterregierung“ zu errichten, also die Macht zu ergreifen. (14) Wie seht ihr das?

Bewi: Der Vorwurf ist historisch amüsant, weil die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA) seinerzeit von Amsterdam aus genau den gegenteiligen Vorwurf gemacht hat, und zwar unter Federführung der deutschen FAUD: Gerade die Beteiligung an der Regierung, also an der staatlichen Macht, wurde der CNT zum Vorwurf gemacht.
Amüsant ist das vor allen Dingen, weil dieser Dogmatismus sich in den 1990er Jahren umgekehrt hatte und fundamentalistische Strömungen in der CNT schon den kleinsten reformerischen Gewerkschaftsgedanken sofort als „Verrat an der Sache“ diffamiert haben.
Das hat, neben zahlreichen anarchosyndikalistischen Organisationen in der IAA, auch Murray Bookchin und sein „libertärer Ökosozialismus“ zu spüren bekommen und das wird seine Abkehr vom Anarchismus mit verursacht haben.
Die politische Gemengelage 1936 war ja nun sehr heikel und das Dilemma, das Karl-Heinz Roth und Marcel van der Linden z.B. im Vorwort zu Michael Seidmans „Gegen die Arbeit“ beschreiben, ist in der Situation kaum lösbar. Und das lässt sich auf fast alle anderen historischen revolutionären Situationen übertragen: Diese waren fast immer mit Kriegen oder Bürgerkriegen verbunden und immer stellte sich die Frage: Hat nun das Gewinnen des Krieges oder die soziale Umstrukturierung Priorität? Die internationale Unterstützung gegen den Francismus war ziemlich marginal. Wer hätte noch eine libertäre Arbeiterregierung unterstützt? Stalin schon mal nicht, Cardenas in Mexiko vielleicht, schließlich war die „institutionalisierte Revolution“ dort schon so eine Art (historisch gescheiterter) Staatssyndikalismus. Wenn wir daraus eine Prinzipienfrage machen, würde ich sagen: Ja, im Zweifel muss man die Verwaltung in einer solchen Situation soweit übernehmen, dass man das „Arbeiterregierung“ nennen kann. Aber erstens kann man sich nicht anmaßen, diese Entscheidung für sozial denkende Menschen vor 70 Jahren zu fällen, zweitens gab es damals die entsprechenden Diskussionen und drittens kann man nun mal gar nicht behaupten, dass eine solche Strategie das Ruder irgendwie rumgerissen hätte.
Menschen aus der Geschichte Versäumnisse vorzuwerfen, ist eh’ müßig. Und in dem Sinne kann man auch nicht aus der Geschichte lernen – nur weil irgendetwas damals vielleicht anders funktioniert hätte, heißt das noch lange nicht, dass es das das nächste Mal tun würde. So genau wiederholt Geschichte sich nicht.

Daniel: Hierzu kann ich wenig sagen, weil ich Bookchins Text nicht kenne. Aber ich bezweifle, dass auf Grund der militärischen Übermacht der Putschisten und ihrer Unterstützung durch Deutschland und Italien bei gleichzeitiger Zurückhaltung der bürgerlichen Demokratien in Spanien mehr möglich gewesen wäre als ein kurzer Sommer.

Petz: Ich kenne mich historisch zu wenig aus, um Bookchins These wahr oder falsch nennen zu können. Enzensberger schreibt ja auch schon über die AnarchistInnen, „der unbedingte moralische Anspruch, den sie an sich selbst und an ihre Bewegung stellten, trug zu ihrem Verhängnis bei.“ (15)
Bookchins These verstehe ich als Reaktion darauf. Allerdings scheint mir seine eingeforderte Unterscheidung zwischen Staat und Politik theoretisch etwas grobschlächtig und politisch heikel. Dass die Skrupel im Hinblick auf die Machtausübung einfach mit einer Definition, also einer begrifflichen Begrenzung aus dem Weg zu räumen sind, halte ich für fraglich. Denn wo ist die Grenze, an der man sagt, hier ist die Macht in den Händen der BürgerInnen selbst, wie Bookchin schreibt, hier entscheiden sie autonom und da schon die Bürokratie und „der Staat“? Ich fürchte, das Dilemma von 1936 ist genau deshalb entstanden, weil die Übergänge fließend sind.
Man setzt da in der anarchistischen Tradition gerne die BürgerInnen oder wahlweise die sozialen Bewegungen oder „das Volk“ als positives Gegenüber zur staatlichen Organisation von Politik und Leben. Im Spanien der 1930er Jahre war das „pueblo“ („Volk“) als Träger revolutionärer Hoffnungen sicherlich vor allem ein Klassenbegriff und meinte sozialstrukturell „die von unten“.
Das gilt im Übrigen ja auch für die antiimperialistische Tradition etwa in Lateinamerika. In Deutschland ist diese Konnotation mit der breiten Unterstützung für den Nationalsozialismus unmöglich geworden, das Volk ist hier vom Völkischen kaum mehr zu trennen. Letztlich machen aktuelle Entwicklungen wie die Pegida-Bewegung klar, dass „soziale Bewegung“ oder „BürgerInnen“ auch keine Subjekte sind, auf die man an sich aus emanzipatorischer Sicht setzen kann. Immer hat man es mit Kräfteverhältnissen zu tun, in denen sich eben auch ultrarechte Gruppen und Praktiken als Bewegung formieren können. Damit hat sich die anarchistische Theorie meines Erachtens zu wenig beschäftigt.

Baxi: Ich bin nicht so furchtbar interessiert an dem, was Murray Bookchin, zumal posthum, sagt, denkt, schreibt und tut. Das sei bei allem Respekt vor seinen sozioökologischen Schriften aus den achtziger Jahren gesagt. Ich sehe im Grunde mit milder Erheiterung, wie dieser letzten Veröffentlichung so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird: Seit wann braucht man auf Seiten des Anarchismus Vordenker, Gurus oder ideologische Autoritäten? Was ist so bedeutend an Bookchins Verkündigung von jenseits des Grabes: „Ich spiel‘ jetzt nicht mehr mit.“?Man kann wahrlich viel an den Handlungen der organisierten Anarchistinnen und Anarchisten während des Bürgerkriegs kritisieren. Aber was soll’s? Soll man seine tiefschürfenden Erkenntnisse in ihre Gräber hinein murmeln?
Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass es grundsätzlich albern ist, anzunehmen, der Anarchismus des frühen 21. Jahrhunderts in den USA sei der gleiche wie der Anarchismus des frühen 20. Jahrhunderts in Spanien. Der englische Anarchismusforscher Sharif Gemie hat einmal sehr schön gesagt, eigentlich sei es die Aufgabe einer kritischen Anarchismusforschung, genau zu betrachten, wie dessen universale Ziele auf nationaler, regionaler oder sogar lokaler Ebene zu bestimmten Zeiten in die Tat umzusetzen versucht wurden. Und das konnte sehr, sehr unterschiedlich ausfallen. Bookchins allgemeine ideologische Kehrtwenden mag für seine Anhängerinnen und Anhänger beeindruckend sein. In den USA wird er ja in einigen (ansonsten durchaus vernünftigen) Kreisen fast schon wie ein Sektenführer verehrt.
Für die Forschung ist sein Positionswechsel eher unerheblich, weil derartige Darbietungen – auch bei Bookchin – oft viel zu oberflächlich daherkommen.
Und abschließend: Was ist so originell an der Forderung, revolutionäre Kräfte müssten „die Macht“ übernehmen? Haben wir den alten Vater Lenin schon so sehr vergessen, dass wir nun für Murray Bookchin eine Dankeskerze entzünden müssen, seiner großen innovativen geistigen Brillanz wegen?
Wer 80 Jahre zu spät für den Spanischen Bürgerkrieg nach autoritäreren Anarchistinnen und Anarchisten verlangt – wobei, nebenbei bemerkt, die CNT ihre Strukturen während des Kriegs tatsächlich fortgesetzt hierarchisierte und trotzdem verlor! –, dem empfehle ich zur Lektüre einen sehr erheiternden sogenannten uchronischen Roman, also einen Roman, der die tatsächliche historische Ereignisfolge auf den Kopf stellt: En el día de hoy [Am heutigen Tag]. En el día de hoy war der erste Satz jener Radioansprache, die am 1. April 1939 das Ende des Bürgerkriegs und den Sieg Francos verkündete. In dem Roman hat Franco den Bürgerkrieg verloren (!), und es wird mit viel spöttischer Phantasie durchgespielt, was dann geschieht. Auch wenn der Anarchismus stark vernachlässigt wird: eine lohnende Lektüre für alle, die vom politischen „Was-wäre-wohl-gewesen-wenn…“ einfach nicht lassen können. Bookchin, ruhe in Frieden.   

Bernd: Vielleicht hat sich der in jungen Jahren vom Marxisten zum Öko-Anarchisten gewandelte Murray Bookchin im Alter zum verbitterten Arroganzling entwickelt? An AnarchistInnen habe ich den Anspruch, dass sie zuhören können. Ich möchte empathisch, neugierig und offen sein für neue Ideen, auf Menschen zugehen, aus der Geschichte lernen. Das traf im Alter auf Bookchin aber kaum noch zu. Mir kommt der späte Bookchin vor wie ein mit dem Zeigefinger herumfuchtelnder Besserwisser, der sich als Richter über die Vergangenheit und andere Menschen aufspielt. Ein Freund von mir, der gewaltfreie Anarchist und GWR-Mitherausgeber Lou Marin, hat Bookchin noch persönlich erlebt. Als ihn Lou 1999 bei einer Konferenz in Plainfield kennenlernen wollte, kanzelte Bookchin ihn „mit dem unqualifizierten Hinweis [ab], er brauche dort keine Gandhi-Anhänger“, so Wolfgang Haug in der GWR 406. „Als dies 1999 geschah, begann sich Murray unter dem Eindruck manch bösartiger Angriffe US-amerikanischer Anarchisten gerade vom Anarchismus abzulösen.“
Bookchin hat sich leider nie ernsthaft mit gewaltfreiem Anarchismus beschäftigt. Er war ein Anti-Gewaltfreier. Das ist schade, schmälert aber nicht die Verdienste, die er sich durch seine Schriften für den Anarchismus erworben hat.

5. Politische Konsequenzen 1

GWR: Mit den Mujeres Libres gibt es in der Geschichte des Anarchismus eine große emanzipatorische Frauenorganisation. Sieht man sich den Gegenwartsanarchismus an, bekommt man den Eindruck, als handele es sich um einen sehr männlich geprägten Bewegungs- und Theoriezusammenhang. An diesem Gespräch sind nur Männer beteiligt, die Frauen aus unserem Kreis haben sich ausgeklinkt, weil sie sich (im Wesentlichen) nicht für kompetent hielten. In der seit Frühjahr 2015 erscheinenden „Ne Znam - Zeitschrift für Anarchismusforschung“ sind die ersten beiden Ausgaben ohne Beteiligung von Frauen erschienen, selbst die besprochenen Bücher waren alle (!) von Männern verfasst. Ich halte das nicht „nur“ für ein Repräsentationsproblem, sondern für ein Problem der Herrschaft. Es gibt eine lange und habituell verankerte Tradition der geschlechtlichen Zuordnung zur öffentlichen bzw. privaten Sphäre, die hier ohne weiteres reproduziert wird. Obwohl schon, könnte man sagen, die Mujeres Libres daran gearbeitet hatten, diese Zuschreibungen zu bekämpfen und die daraus resultierende geschlechtliche Arbeitsteilung aufzubrechen. Was machen wir falsch?

Bernd: Das ist eine gute Frage, die ich nur bedingt beantworten kann. Ich denke, dass sich viele Anarchafeministinnen eher in feministischen Frauengruppen organisieren als in gemischten anarchistischen Kollektiven, auch wenn letztere sich, wie die Infogruppe Bankrott, als „pro-feministisch“ definieren. Das wäre eine Frage an die Bankrott-Frauen, die aber leider keine Lust hatten, sich an diesem E-Mail-Interview zu beteiligen.

Baxi: Ein wesentlicher Fehler scheint mir zu sein, dass die bis heute durchaus wirkmächtige Tradition des anarchistischen Anti-Feminismus nicht wirklich ernst genommen wird. Dabei meine ich gar nicht solche wohl tatsächlich eher im Aussterben begriffene Positionen, die während des Bürgerkriegs aber noch durchaus virulent waren und die, mit Pierre-Joseph Proudhon im Gepäck, Frauen aggressiv wieder an den Herd zurückscheuchen wollten. Ich denke eher an andere, vielleicht noch schädlichere anti-feministische Positionen innerhalb der libertären Bewegung(en), die die Meinung vertraten (und oft immer noch vertreten), es sei für Anarchistinnen und Anarchisten gar nicht nötig, sich gesondert mit der Unterdrückung von Frauen, auch und gerade in den eigenen Reihen, zu beschäftigen. Dem Intersektionalitätsansatz zu Folge ist es ja so, dass jeder, der nur ein einziges Unterdrückungsverhältnis fokussiert, alle anderen in seiner und der Wahrnehmung anderer zu tilgen droht.
Das war nun bei Spaniens Anarchistinnen und Anarchisten ganz gewiss so. Sogar bei den Mujeres Libres. Der Staat war der große Unterdrücker. Alles andere waren, wenn man so will, „Nebenkriegsschauplätze“. Es brauchte ein gründlich verändertes gesellschaftliches Klima, damit die überlebenden Genossinnen der Mujeres Libres in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen, nicht länger das alte Märchen von der „Geschlechtergleichheit“ im spanischen Anarchismus zu erzählen, das sie bis dahin hartnäckig verteidigt hatten, sondern in Erwägung zogen, das „Geschlechtergleichheit“ sich vielleicht nicht unbedingt darin manifestiert, dass junge Genossinnen nach politischen Bildungsveranstaltungen der CNT unentgeldlich das Lokal putzen mussten, während ihnen die gleichaltrigen männlichen Genossen dabei zusahen. Wie kommt es eigentlich, dass in anarchistischen Kreisen bis heute kaum bekannt ist, dass in vielen von Anarchistinnen und Anarchisten kollektivierten Betrieben die krassen Lohnungleichheiten zwischen Männern und Frauen aus der vorrevolutionären Zeit beibehalten wurden? Bei gleicher Arbeit, wohlgemerkt. Wer sich die Klagen der Mujeres Libres über diesen empörenden Zustand anschaut, der muss fast zwangsläufig den Eindruck bekommen: Er war ihnen peinlich. Sie fürchteten ganz ernsthaft, zu Verräterinnen an ihrer eigenen Bewegung zu werden, auch wenn vor allem Lucía Sánchez Saornil die begütigende Version des libertären Anti-Feminismus genauso scharf kritisierte wie die proudhonistischen Frauenschläger unter ihren Genossen.
Das Problem lässt sich, heute wie damals, aber ganz sicher auch nicht dadurch lösen, dass man ein paar Alibi-Frauen in anarchistische Gruppen einlädt oder für Zeitschriftenthemen die Quote einführt. Nicht, weil das nicht unter Umständen sinnvoll wäre, sondern weil es einen falschen, irreführenden Eindruck erweckt: Denn auch heute sind die internationalen anarchistischen Bewegungen - die, die sich als solche bezeichnen zumindest - sehr stark männerdominiert. Die Kritik von Frauen an diesem Umstand ist noch immer genau so bitter wie in den 30er Jahren in Spanien. Ein Anarchismus ohne Feminismus ist aber gar nichts. Oder, noch schlimmer: ein bräsiges Deckmäntelchen für die gleiche, alte Unterdrückung. Es wäre interessant zu überprüfen, ob mehr Frauen sich an weniger ideologisierten Bewegungen (wie etwa Occupy!) beteiligen. Dann wäre die etwas ruppige These des (sehr Anarchismus-freundlichen) kanadischen Politologen Francis Dupuis-Déri nämlich tatsächlich wahr, dass es der anarchistische Anti-Feminismus sei, der dazu führe, dass es bis heute auf anarchistischen Großveranstaltungen (Protestcamps u.a.) zu sexistischem Verhalten oder sogar Übergriffen auf Frauen komme und dass solche Ereignisse allenfalls halbherzig bekämpft würden. In jedem Fall wäre am persönlichen Verhalten der Männer und dessen politischer Legitimierung innerhalb der anarchistischen Bewegung(en) ganz gewiss noch einiges zu tun.
Dies sei mit Dank und Bewunderung all jenen Männern und Frauen gegenüber gesagt, die sich längst bemühen, alltägliche Unterdrückungsverhältnisse bewusst zu machen und sie handelnd abzubauen. Einfach ist das mit Sicherheit nicht.     

Bewi: Du hast die Frage möglicherweise selber beantwortet: Die Struktur der Herrschaft fließt durch uns durch, sie ist in gewissem Sinne habituell und das überwindet man nicht einfach so, auch nicht, wenn man einer politischen oder sozialen Idee anhängt, die sich diese Überwindung auf die schwarz-roten Fahnen geschrieben hat. Man(n) muss aufpassen, dass man das nicht als faule Ausrede benutzt.
Ein anderes Beispiel: Ich habe gerade ein Buch mit Thesen über den Heavy Metal gelesen und den Vorwurf „Heavy Metal ist sexistisch“ tut der Autor mit den Worten ab: „Ja, das ist er, denn die Gesellschaft ist sexistisch.“ Das ist vielleicht eine Erklärung, darf aber keine Rechtfertigung sein – mit der Begründung könnte man ja jede emanzipatorische Tätigkeit aufgeben.
Das Schwierige daran ist, dass man da ständig dran arbeiten muss, man kann das Patriarchat nicht einfach mal schnell umstürzen. Das macht es langwierig, das ist Arbeit, die man vielleicht auch gerne mal vergisst. Aus purer Angst vor den Mühen oder Faulheit erfährt der Kampf gegen patriarchale Herrschaft, der auch immer ein Kampf für die Freiheit der männlich bestimmten Menschen ist, herbe Rückschläge oder Stillstände. Es ist auch schlicht bequemer, Artikel zu schreiben – selbst wenn sie profeministisch sind –, als an sich selber zu arbeiten.
Aber man kann die Frage auch anders stellen: Was machen denn „die Frauen“, während „die Männer“ Artikel oder Bücher schreiben? Vielleicht ja einfach was Wesentlicheres. Vielleicht stehen sie einfach mehr mit beiden Füßen im Hier und Jetzt.
Vielleicht brauchen sie keine historischen Mythen wie den Spanischen Bürgerkrieg, um an konkreten Punkten aktiv zu werden. Vielleicht machen sie gerade sehr konkrete Aktionen, während die Männer „Geschichte(n) schreiben“. Historisch war das durchaus so, nicht nur im Fall der Mujeres Libres: Sehr viele quasi mythologische Revolten und Revolutionen fanden unter maßgeblicher Beteiligung von Frauen statt, aber da die Männer die Geschichte geschrieben haben, tauchen sie dort nicht auf.

Petz: Die Frage der Differenzen, wie sie theoretisch zu konzipieren sind und wie politisch mit ihnen umzugehen ist, ist im Anarchismus unterbeleuchtet. Da sehe ich in der Praxis, also in anarchistischen Projekten von den Landkommunen bis zu queer-feministischen Festivals, viel mehr und viel weiter gehende Reaktionen auf diese Probleme. Insofern ließe sich hoffen, dass, wie so oft im Anarchismus, hier die Praxis endlich die Theorie auf Vordermann bringt (Vordermensch klänge jetzt ein bisschen albern...)!

5. Politische Konsequenzen 2

GWR: Der Historiker Walther L. Bernecker sagt den AnarchistInnen in seinem Standardwerk zur Spanischen Revolution einen gewissen „Mangel an Realitätssinn“ (16) nach. Der habe sich darin geäußert, dass man die soziale Revolution als jederzeit abrufbar betrachtet habe, in vollem Vertrauen auf die rebellische Haltung der Arbeiterinnen und Arbeiter. Mit dem „unvermeidlichen Kampf gegen die Widersacher“ (17) revolutionärer Veränderung habe man sich hingegen sträflich wenig beschäftigt. Aus meiner Sicht ist das bis heute eine Schwäche des Anarchismus, davon auszugehen, dass die Anarchie im Grunde überall lauert und nur einen Anlass braucht, um zum Vorschein zu kommen. Man muss ja gar nicht bis zum Nationalsozialismus zurückschauen, sondern es reicht, auf die Erfolge des Neoliberalismus in den letzten dreißig Jahren und den Zuspruch zu verweisen, den rassistische Parteien wie die AfD gegenwärtig aus den Reihen der „einfachen Leute“ erhalten, um an ihren pro-anarchistischen Haltungen zu zweifeln. Die „Widersacher“ des libertären Kommunismus, würde ich sagen, machen in den westlichen Gegenwartsgesellschaften rund 99 Prozent der Bevölkerung aus. Zeit für Strategiefragen, oder wie seht ihr das?

Baxi: Ich sehe das ähnlich. Gerade der Boom des sogenannten anthropologischen Anarchismus, mit David Graeber verdientermaßen an der Spitze, hat ja in einem wunderlich anachronistischen „Turn“ die alte Vorstellung wieder salonfähig werden lassen, die Anarchie sei im Grunde mit der Menschheit auf der Erde erschienen und schlummere wie ein sanfter, lebensleuchtender Keim in jedem einzelnen. Aber so faszinierend und wichtig es auch ist, die historischen Mythen der herrschenden politischen Ordnung zu entkräften – etwa die Behauptung, die Substanz der Demokratie sei die attische Polis mit ihren Mehrheitsentscheidungen, während unterschiedlichste Konsensverfahren die Menschheitskultur viel stärker geprägt haben und die Volksversammlung von Athen viel eher eine kulturhistorische Ausnahme war – muss man sich doch fragen: Wenn wirklich jeder Mensch, sagen wir, grundsätzlich „anarchismusfähig“ ist...warum sieht dann die Welt so aus, wie sie aussieht?
Die Position des „Es geht schon alles von alleine...“ wird gerade in Spanien den anarchistischen Bewegungen der 20er und 30er Jahre zwar zu Unrecht unterstellt. Ohne Diskussionen, verschiedenste Pläne und Vorbereitungen hätte die Soziale Revolution wohl überhaupt keine Erfolge haben können.
Das Beispiel der „Luz y Fuerza“ ist ja nur eines von vielen. Aber einen gewissen Organisations- und Wirklichkeitsekel der Anarchistinnen und Anarchisten kann man sicher nicht leugnen. Die Biologisierung politischer, sozialer und kultureller Prozesse hat dabei ganz sicher eine Rolle gespielt.
Die Anarchismusforscherin Ruth Kinna hat jüngst noch einmal am Beispiel Kropotkins darauf hingewiesen, dass diese Biologisierung der eigenen politischen Ziele nicht einfach nur ein Trick der Anarchisten war, um in der Öffentlichkeit ihrer Zeit ernst genommen zu werden. (18) Die anarchistischen Geisteseliten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren felsenfest davon überzeugt, dass die Natur auf ihrer Seite stehe, dass es also eine natürliche Gesellschaftsordnung gebe, die durch Repression und Propagandalügen verschüttet worden sei. Und wer wollte schon eine Planungskommission ins Leben rufen, um dem Frühling zu sagen, dass er kommen soll?
Allerdings sollte man es mit dieser Kritik, gerade mit Blick auf heutige Zeiten, auch nicht übertreiben. Denn Strategiefragen werden gestellt, und konkrete Ansätze zur Veränderung wurden und werden entwickelt - gerade der von mir so bös‘ geschmähte Murray Bookchin hat sich ja um eine solche Konkretisierung der Utopie durchaus verdient gemacht. Sonst wäre es wohl schwierig, ihn in Rojava als Grundlage eines neuen Gesellschaftsmodells zu deklarieren. Wobei ich damit wahrlich nicht dem neu aufgekommenen Trend das Wort reden will, ferne und wenig verstandene Regionen mit der Verwirklichung der eigenen politischen Träume zu betrauen.
Im Grunde geschah aber in weiten Teilen der Welt während des Spanischen Bürgerkriegs nichts anderes. Veränderungen müssen immer aus ihrer Zeit, Gesellschaft und Kultur heraus verstanden werden. Wenn man vor der eigenen Haustür auch ‚mal gern welche hätte, dann muss man sie selber machen. Inspirieren aber darf man sich schon an anderer Leuts Revolutionen. Auch am Spanischen Bürgerkrieg. Womit wir wieder beim Anfang wären.

Daniel: Das sehe ich nicht ganz so düster. Ich denke, das mit den 99% trifft nur zu, wenn man sich „Anarchismus“ und „libertärer Kommunismus“ aufs Panier schreibt und dann auszieht, die Leute zu überzeugen, dass diese Worte doch eigentlich etwas Gutes bedeuten.
Es geht aber nicht um Worte, sondern um Ideen. Z.B. die Fähigkeit der Menschen zu Selbstorganisation und Gegenseitiger Hilfe. Ich denke, dass weit mehr Menschen diesen Ideen aufgeschlossen gegenüber stehen. Insbesondere wenn man nicht über ihre Vorzüge diskutiert, sondern sie in die Praxis umsetzt und beweist, dass herrschaftsfreie Organisationsformen besser und effektiver sind als hierarchische. Was auch bedeutet, dass sich unsere Ansätze in Wirklichkeit  als nicht praktikabel erweisen können. Ein positives Beispiel hierfür ist für mich  die Vergemeinschaftung von Wohnraum im Mietshäusersyndikat, die auch Nicht-AnarchistInnen anspricht.
Die Schwäche, von der Du sprichst, hängt meiner Meinung nach mit einem romantischen und religiösen Verständnis von Revolution zusammen. Die Vorstellung einer letzten großen Schlacht, nach der das goldene Zeitalter anbricht. Das ist der  jüngste Tag im Christentum.
Die Faszination der Spanischen Revolution hat mit diesem Bild zu tun. Die letzte große Abrechnung, a las barricadas, schwarz-rote Fahnen. Das ist aber keine politische Strategie, sondern eine Kompensation für die Verzweiflung, die einen angesichts der gesellschaftlichen Misere packen kann. Opium für den Revolutionär, könnte man sagen.
Ich stelle mir eine Veränderung unserer Gesellschaft eher so vor, dass sich im Laufe der Zeit bestimmte, positive Ansätze durchsetzen. Etwa so wie die Frauenbewegung das Geschlechterverhältnis verändert hat. Natürlich nicht so wie erhofft, es gibt Rückschritte und Perversionen – etwa Frauen beim Militär in Namen der Gleichberechtigung –, aber nichtsdestotrotz haben sich Dinge verbessert, die nur schwer rückgängig zu machen sind.
Die besten Chancen haben meiner Meinung nach Veränderungen, die unmerklich vor sich gehen und deshalb keine Repression der herrschenden Klasse hervorrufen. Ich denke hierbei vor allem an eine Veränderung der Art und Weise, wie Menschen mit Konflikten umgehen. Anarchismus ist für mich kein Dogma, sondern eine Idee, nach der ich steuere. Es bedeutet zum Beispiel nicht, dass ich jede Zusammenarbeit mit dem Staat ablehne, weil der Staat böse ist, sondern dass ich für Herrschafts- und Machtstrukturen ein offenes Auge habe.

Petz: Die Vorstellung, die „einfachen Leute“ seien irgendwie prädestiniert für aufrührerisches Handeln, gehört ebenso überdacht wie die, Armut und Not als absolute Tatsachen (und nicht in Relation betrachtet) lösten irgendwelche positiven Effekte aus. Auch die Haltung, Staat und Kapital könnten nur bestehen, weil im Zweifel deren Schergen mit dem Knüppel bereit stehen, halte ich für fatal. Das lässt die ganzen Fragen des Einverständnisses, der Beteiligung an Privilegien, der Bequemlichkeit von Routinen (im Gegensatz zur Anstrengung von Veränderung) außer acht. Gustav Landauer hat solche Haltungen des stillen Mitmachens mal die „Psychologie des Höflings“ (19) genannt, daran sollten wir theoretisch anknüpfen.

Bewi: Es ist immer Zeit für Strategiefragen! Aber ja, die Zahl der libertär Gesonnenen im deutschsprachigen Gebiet ist sicher nicht mal fünfstellig und eine dreiköpfige anarchistische Gruppe hält sich schon für eine soziale Bewegung. Trotzdem glaube ich nicht, dass die Widersacher des libertären Kommunismus 99 Prozent der Bevölkerung ausmachen, ich würde das eher auf zwei Drittel der Gesellschaft beziehen. Was aber auch nicht heißt, dass das restliche Drittel anarchistisch ist, aber es hat emanzipative Ziele, ist also die Menge an möglichen Bündnispartnern, wenn man nicht all zu verbissen ist. Ich wohne in dem Wahlkreis in Baden-Württemberg, der als einer von zwei der AfD ein Direktmandat beschert hat. Der zweite liegt in Pforzheim und wählt traditionell rechts. Mannheim-Nord dagegen ist traditionell ‚rot’. Hier haben nun offenbar genau die Menschen AfD gewählt, gegen die die AfD Politik macht. Der klassische Marxismus bis zur Frankfurter Schule würde nun sicherlich etwas von ‚notwendig falschem Bewusstsein’ faseln. Sinnvoller ist es vielleicht, über enttäuschte Hoffnungen nachzudenken, über Leerstellen, die linke Parteien und Bewegungen hinterlassen haben. Die Menschen glauben nicht mehr, dass linke Parteien oder Bewegungen noch in ihrem Interesse handeln können oder wollen. Da geht es bei weitem nicht nur um die sogenannte „Flüchtlingskrise“, sondern da geht es um einen langfristigen Wandel der Gesellschaft.
In Frankreich sind es dieselben Menschen, die in den Betrieben die Listen der kommunistischen CGT in die Betriebsräte wählen und den Front National in die Parlamente. Würde man sich die betriebliche Politik hier anschauen, käme man wahrscheinlich zu ähnlichen Ergebnissen.
Da fehlt eine Vermittlungsebene zwischen betrieblicher Realität oder auch Alltag und der „Politik“ auf der anderen Seite. Und wir machen uns m.E. etwas vor, wenn wir glauben, mit „Politik“ wären nur die Parteien und Parlamente gemeint. Linke Gruppen auf Demos oder Plena repräsentieren für die Masse der Menschen genauso den Begriff „Politik“. Die alte Stadtguerilla-Theorie spricht davon, dass die Stadtgueriller@s in der Bevölkerung schwimmen müssen wie ein Fisch im Wasser. Das konnte eben z.B. auch die CNT in der spanischen Bevölkerung. Dieses Schwimmen haben wir verlernt. Und wer nicht schwimmen kann, geht unter.

Bernd: Natürlich sind wir Anarchistinnen und Anarchisten heute noch eine winzige Minderheit. Na und? Wir können trotzdem uns, andere Menschen und die Welt verändern. Und das sollten wir tun. Ich erzähle immer gerne die Geschichte meines Freundes Osman Murat Ülke aus Izmir.
Ossi ist ein türkischer Kriegsdienstverweigerer. Der gewaltfreie Anarchist musste wegen seiner Verweigerung mehr als zwei Jahre mit dem faschistischen Mörder Mehmet Ball in einer Zelle sitzen. Vorgestellt wurde Ossi dem Grauen Wolf und den anderen Mit-Gefangenen vom Schließer als „gefährlicher Terrorist und Anarchist. Behandelt den schlecht“.
Einige Jahre später wurde Mehmet Ball aufgrund einer Amnestie entlassen. Nun sollte er seinen Kriegsdienst leisten. Er weigerte sich - sinngemäß - mit dem Hinweis: „Ich habe schon einen Menschen getötet. Ich will nie wieder auf Menschen schießen, schon gar nicht auf Befehl.“
Aus dem Faschisten war nach vielen Diskussionen mit dem Anarchisten tatsächlich ein Pazifist geworden. Da sage noch jemand, Menschen können sich nicht ändern. Sie können. Es lebe die freie Kommunikation!
Und, um auf Bewis letzten Satz zu sprechen zu kommen: Wir können sehr wohl schwimmen. Auf zum nächsten Baggersee! Für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft!

Interview: Oskar Lubin

Literaturhinweis:
Infogruppe Bankrott (Hg.): Occupy Anarchy! Libertäre Interventionen in eine neue Bewegung. edition assemblage, Münster 2012

 

Anmerkungen:

1) Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1977, S. 13.

2) Was sich u.a. noch eruieren ließ aus Prä-Internet-Zeiten: Am 20.10.1999 haben wir in unserer Veranstaltungsreihe den Dokumentarfilm „Die Utopie leben. Der Anarchismus in Spanien“ (Juan Gamero, 1997) gezeigt, am 4.7.2001 gab es eine Infoveranstaltung anlässlich des 65. Jahrestages der Revolution.

3) Was ist eigentlich Anarchie? Einführung in die Theorie und Geschichte des Anarchismus. Karin Kramer Verlag, Berlin 1985

4) Horst Stowasser: Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten. Karin Kramer Verlag, Berlin 1986

5) Helmut Kirschey: A las Barricadas. Erinnerungen und Einsichten eines Antifaschisten. Aufgeschrieben von Richard Jändel. Hg.: Andreas G. Graf & Dieter Nelles. Achterland Verlagscompagnie, Bocholt/ Bredevoort 2000

6) Siehe: Helmut Kirschey und die Spanische Revolution. Ein Leben gegen den Faschismus, Artikel von Bernd Drücke, in: GWR 314, Dez. 2006, www.graswurzel.net/314/kirschey.shtml

7) Siehe dazu: „Der Anarchismus wird nie sterben“. Interview mit dem Anarchisten, Durruti-Biographen und Spanienkämpfer Abel Paz (83), von B. Drücke, in: GWR 291, Sommer 2004, www.graswurzel.net/291/paz.shtml ; Bernd Drücke, Luz Kerkeling, Martin Baxmeyer (Hg.): Abel Paz und die Spanische Revolution, Edition AV, Lich 2004

8) Im Postskriptum zum Kommuniqué vom 31.5.1994 heißt es: „Mehrheit, die sich als nicht tolerierte Minderheit verkleidet. In Bezug auf all das Gerede, ob Marcos schwul ist: Marcos ist ein Schwuler in San Francisco, Schwarzer in Südafrika, Asiat in Europa, Chicano in San Isidro, Anarchist in Spanien, Palästinenser in Israel, Indígena in den Straßen von San Cristóbal, Kinderbande in Nezahualcoyotl, Rocker in Ciudad Universitaria, Jude in Deutschland, Feministin in politischen Parteien, Kommunist in der Zeit nach dem Kalten Krieg, Gefangener in Cintalapa, Pazifist in Bosnien, Mapuche in den Anden, Lehrer in der CNTE, Künstler ohne Galerie noch Aufträge, Hausfrau an einem Samstagabend in irgendeinem Viertel irgendeiner Stadt irgendeines Mexikos, Guerillero im Mexiko des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Streikender in der CTM, Journalist von Fülltexten für die Inlandsseite, Macho in der feministischen Bewegung, Frau, die alleine um zehn Uhr nachts in der Metro ist, Rentner als Wachposten auf dem Zócalo, Bauer ohne Land, verarmter Verleger, arbeitsloser Arbeiter, Mediziner ohne Arbeitsplatz, unzufriedener Student, Dissident im Neoliberalismus, Schriftsteller ohne Bücher und Leser – und ist sicherlich Zapatist im Südosten Mexikos. Letztendlich ist Marcos irgendein Mensch in dieser Welt. Marcos sind all die nicht tolerierten, unterdrückten Minderheiten, die nicht aufgeben, die explodierend Ya Basta schreien. All die, die in dem Moment Minderheit sind, wenn es darum geht, zu sprechen, und Mehrheit, wenn es darum geht, zu schweigen und zu ertragen. All die Nicht-Tolerierten, die nach Worten suchen, ihren Worten, die diese ewigen Fragmente zur Mehrheit machen, wir. Alles, was der Macht und den guten Gewissen unbequem ist, ist Marcos.“ Zit. n. Topitas: „Editorial“. In: dies. (Hg.): ¡Ya Basta! Der Aufstand der Zapatistas. Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg, S. 7-9, hier S. 8

9) Michael Seidman: Gegen die Arbeit. Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2011

10) Siehe: Charles Jacquier (Hg.) Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil & der Anarchismus, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2007

11) vgl.: Bîjî Azadî!, Freiheit für Kurdistan! Infogruppe Bankrott, Münster 1993 ; Bernd Drücke: Serxwêbun! Gesellschaft, Kultur und Geschichte Kurdistans. Edition Blackbox, Bielefeld 1998

12)  Thomas Kleinspehn und Gottfried Mergner (Hg.): Mythen des Spanischen Bürgerkriegs, Trotzdem Verlag, Grafenau 1989, 2. Aufl.
13) Hermann L. Gremliza: „Vorwort“. In: Elefanten Press/ Fritz Teppich (Hg.): Spaniens Himmel. Volksfront und Internationale Brigaden gegen den Faschismus 1936-1939. Elefantenpress, Berlin 1996, Reprint, S. 6.
14) Murray Bookchin: „Anarchismus und Macht während der Spanischen Revolution.“ [2002] In: ders.: Die nächste Revolution. Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken. Münster: Unrast Verlag 2015, S. 163-168, hier S. 165.
15) Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1977, S. 212.
16) Walther L. Bernecker: Anarchismus und Bürgerkrieg. Zur Geschichte der Sozialen Revolution in Spanien 1936–1939. Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2006, S. 43.
17) Ebd.
18) Ruth Kinna: Kropotkin: Reviewing the Classical Anarchist Tradition. Edinburgh University Press 2016.
19) Gustav Landauer: Die Revolution (1907). Hg.: Siegbert Wolf. Unrast Verlag, Münster 2003. S.92.

 

Das Interview erschien in drei Teilen in: Graswurzelrevolution Nr. 410, Sommer 2016, 45. Jahrgang, www.graswurzel.net/410/spanien36.php ; Graswurzelrevolution Nr. 411, September 2016 ; Graswurzelrevolution Nr. 412, Oktober 2016, www.graswurzel.net