Verlässt uns oder verlassen wir Prometheus?

Editorial

Verlässt uns oder verlassen wir Prometheus?

Editorial

 

Sie brannten mir dankbar

All ihre Orden auf meine Brust,

Dann riefen sie: Kreuziget ihn!

 

Hier stehe ich nun,

Beladen mit ihrer Schuld, und seh,

wie sie, uneins geworden,

Gierig trinken Aus Pandoras Büchse.

Heinz Czechowski, Prometheus (1982)

 

»Prometheus verlässt das Theater. Das Ende der Aufklärung«, lautet der Titel des Bleistiftentwurfs von 1981 zu Wolfgang Mattheuers vieldeutigem Holzschnitt, den der Umschlag dieses Heftes zeigt. Entstanden ist das Bild im Kontext des vom Kulturbund der DDR 1982 anlässlich des 150. Todestages Goethes initiierten Prometheus-Projekts. »Erwartet wurde ein deutliches Bekenntnis zur aischyleischen Tradition und zur sozialistischen Gesellschaft. Was dabei herauskam, war die Anzeige nicht nur einer Krisen-, sondern einer Endzeitsituation eben dieser Gesellschaft.« (Kertscher 2009, Par. 21) Aber nicht nur dieser. Das Theater, das da verlassen wurde, konnte gut das theatrum mundi sein, auf dem 1979 der Nato-Nachrüstungsbeschluss das Wettrüsten verschärft hatte. »Prometheus verlässt fluchtartig dieses Welttheater. Das, was er der Menschheit geben konnte, die techne, reichte nicht aus, um diese Welt harmonisch gestalten zu können. Es fehlte die politike techne, die Staatskunst.« (22) Das vom Entwurfstitel verkündete Ende der Aufklärung meinte ja auch, dass es um das soziale Emanzipationsprojekt geschehen sei. Dieses zielt, in Gramscis Worten, darauf ab, die Menschen zu Subjekten ihrer Geschichte werden zu lassen, ihnen die Möglichkeit zu erkämpfen, »die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten […], die eigene Tätigkeitssphäre zu wählen, an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen«, statt »der eigenen Persönlichkeit von außen den Stempel aufdrücken zu lassen« (Gefängnishefte, H. 11, §12, 1375).

Für uns Heutige hat die wachsende Wahrnehmung der Krise des ökologischen Weltsystems der mattheuerschen Allegorie eine weitere Bedeutung hinzugefügt. Angesichts der zuletzt von Bernd Scherer im Berliner Haus der Kulturen der Welt unter dem Namen »Anthropozän-Projekt« versammelten Krisendiagnosen verweist sie »auf eine Endsituation, in der sich die vom Menschen missbrauchte Welt nunmehr befindet« (Kertscher, 22). Diese Situation ist ihrerseits so vieldeutig, wie die Diagnosen unterschiedlich sind. Ist es ›der Mensch‹, der – wie jener Name besagt – die Katastrophe verursacht hat? Oder ist es nicht vielmehr die nun erstmals weltweit herrschende kapitalistische Produktionsweise, die nur bestehen kann, solange sie mittels Raubbau expandiert? Letzteres rechtfertigt den Gegennamen »Kapitalozän«, den der kapitalismuskritische Flügel im Anthropozän-Projekt geltend gemacht hat. Den unterschiedlichen Deutungen entsprechen divergierende Politiken. Teile der innerkapitalistischen Richtung suchen nach kapitalistischen Mitteln, dem Unheil zu steuern, andere retten sich vor der Kollision mit den herrschenden Mächten in diffuse retrograde Visionen. Am Zusammenfluss unterschiedlicher Strömungen aber gedeiht die philosophische Widerrufung der Aufklärung und der Französischen Revolution, des Menschenbildes humanistischer Subjekthaftigkeit und der kritischen Theorien verschiedener Schattierungen, nicht zuletzt der kapitalismuskritischen im Anschluss an Marx. An ihre Stelle setzt sich eine Absage an Gesellschaftskritik und soziale Emanzipation, die als »post-prometheische Handlungstheorie« (Latour 2008, 358) auftritt.

Prometheus steht für die Zähmung des Feuers, die von allen Lebensformen einzig den Frühmenschen gelang. Diese Technik der kontrollierten Entfesselung der von Pflanzen gespeicherten Sonnenenergie hat die Entwicklung des modernen ›wissenden Menschen‹ ermöglicht, der sein Wissen produktiv und weltverändernd umzusetzen gelernt hat. Dem jungen Marx galt Prometheus, »der das Feuer vom Himmel gestohlen, Häuser zu bauen und auf der Erde sich anzusiedeln anfängt« (MEW 40, 215), als »der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender« (263) – und zwar der »Philosophie, die zur Welt sich erweitert hat« und »sich gegen die erscheinende Welt« wendet (215). Prometheus personifizierte für ihn den Bruch mit den mythischen Herrschaftsmächten, den Aufklärer, der zur kulturschaffenden Tat geschritten war, der den unten und unwissend Gehaltenen die Werkzeuge in die Hand gegeben hatte, sich aus diesem Zustand herauszuarbeiten, wofür das alte Regime ihn büßen ließ. Was Marx diesseits des Mythos bewegte, war die Tatsache, dass »das Gesetz […], welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, den Arbeiter fester an das Kapital [schmiedet] als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen« (MEW 23, 675).

In Mattheuers Bild verlässt Prometheus das vom Feuer, das er einst zu gebrauchen gelehrt hat, umzüngelte Theater der Welt. Ist es eine Allegorie der Menschheitsdämmerung? Wendet er sich heute mit Grausen ab von seinem Werk angesichts dessen, was daraus geworden ist? Personifiziert er jetzt in einem die große Absage, die Selbstherabsetzung des Menschen, und den Schuldigen am Ruin unserer Welt? Hans Joachim Kertscher deutet seine Nacktheit anders: »Das ist keine Schutzlosigkeit, sondern vielmehr die Besinnung auf die eigene schöpferische Kraft, die willens ist, sich unvoreingenommen und von allen Äußerlichkeiten befreit der anstehenden und ungewohnten Aufgabe zu widmen.« (22)

Wie es scheint, wird ihm im Gegenteil von denen gekündigt, die ihm vorwerfen, was sie selbst daraus gemacht haben. Mehr noch: Aischylos zufolge weiß Prometheus, dass Zeus und mit ihm die herrschende Ordnung untergehen wird. Auf die Frage, wer den Untergang des Herrschers bewirken werde, lässt er den Gefesselten antworten: »Er selbst sich selber, weil die Torheit ihn berät.« Heute macht solche Torheit – wie schon einmal im Präfaschismus – die kritische Vernunft zum Sündenbock, die einzige (schwache) Macht, mit der wir uns der Gefahr stellen können. Es ist, als ginge es darum, eine neue Gegenaufklärung herbeizuführen. In diese Gemengelage einzugreifen und zur Fortsetzung der Diskussion einzuladen, ist der Zweck dieses Heftes.

***

Mattheuers Allegorie hat noch eine weitere Lesart dazugewonnen, als Gianis Varoufakis, Ökonom von Rang und als solcher Hassobjekt der marktautoritären Kräfte, vom Amt des Finanzministers zurücktrat. Mit ihm verließ ein Exponent der unruhestiftenden Hoffnung das europäische Theater, gefolgt von einem Großteil der europäischen Jugend, die sich von der europäischen Idee angesichts ihrer markt- und finanzautoritären Verengung abwandte. »Neugründung Europas als passive Revolution?«, fragten wir im Titel des Argument-Doppelheftes von 2013. Dabei ging es um die »organische Krise« der EU und speziell der Eurozone, die der von den USA ausstrahlende Finanzkrach von 2008 manifest gemacht hatte. Im Editorial registriert Hans-Jürgen Bieling den als »passive Revolution« sich vollziehenden »autoritären und marktdisziplinären Neugründungsprozess«, dessen Scheitern zu dem des europäischen Projekts zu werden droht. Zur Schicksalsfrage sieht er es werden, »ob durch eine ›andere‹ Politisierung der europäischen Integration progressive Alternativ­optionen, die auf sozialem Ausgleich und demokratischer Partizipation basieren, an Bedeutung gewinnen können«. In Griechenland und Spanien hat die »›andere‹ Politisierung« inzwischen die Umwälzung der politischen Verhältnisse in Gang gesetzt. Der autoritär-marktdisziplinäre Kurs, an Griechenland unter deutscher Führung exemplarisch exekutiert, hinterlässt ein tief gespaltenes Europa, das von allen guten Geistern verlassen scheint.

Eine Politik, die auf einer, wie alle ihre Exponenten unter vier Augen – der IWF inzwischen auch öffentlich – zugeben, ökonomischen Unmöglichkeit gründet, ist eine Politik der Täuschung unter deutscher Führung. Den Exponenten, der diese Täuschung beim Namen nennt und eine Alternative zur Alternativlosigkeit fordert, denunziert die rechte Presse als »Griechenlands Rosstäuscher Tsipras« (Dirk Schümer) und spottet, das sich seiner als Rettung verkleideten Verelendung widersetzende Volk »verweigere sich […] dem 21. Jahrhundert« (Nikolas Busse). Es ist wahr, sie haben sich in diesem Volk ebenso getäuscht wie in Tsipras. Jenes hat sich nicht manipulieren lassen und dieser hat sie hereingelegt, indem er sie dank seiner politischen Schachzüge ertappt hat. Sie haben mit einem Leichtgewicht gerechnet, das sie in die linksradikale Ecke schieben und bei seinem Volk als gewissenlosen »Menschenfänger« (Zacharias Zacharakis) diskreditieren könnten, und herausgekommen ist ein Volkstribun als Staatsmann, zu dem es im krisengeschüttelten Griechenland keine Alternative gibt. Er hat ein doppeltes Mandat der großen Mehrheit seines Volkes: zu verhandeln mit den anderen Regierungen des Euroraums, deren Identität auf die von Gläubigern geschrumpft ist, und in den Verhandlungen die Interessen der sozial Schwächeren zugleich mit dem der Wiederbelebung der griechischen Wirtschaft zu wahren. Gegen seine Überzeugung musste er sich dem Diktat fügen und spricht, da er die Zustimmung dazu einholen muss, diese Überzeugung aus. Wie der gefesselte Prometheus gehorcht er, ohne sich beugen zu lassen. Zumindest hat er erreicht, dass die Welt den ›Gläubigern‹ beim Stellen ihrer Bedingungen und eventuellen erneuten Ablehnen der von seiner Regierung in die Verhandlungen eingebrachten schuldenpolitischen und Einsparalternativen genauer auf die Finger schaut. 

WFH

Hinweis der Redaktion Der thematische Schwerpunkt dieser Ausgabe wird mit Heft 1/2016 fortgesetzt. Vorgesehen sind unter anderem der zweite Teil von Wolfgang Fritz Haugs Beitrag. Er behandelt die Theorie Karen Barads, die vielfach zu Latour konträr steht, in dem Punkt der Einebnung der Untscheidung von Mensch und Sache ihm aber folgt. Im Lichte dieser Diskussion nimmt Frigga Haug eine Neubesichtigung der Arbeiten von Donna Haraway vor, und Christof Ohm leuchtet das Feld der Technowissenschaften weiter aus, auf dem Latour die kapitalismusspezifische Formierung der Hochtechno­logie zum Verschwinden bringt. Wir hoffen nicht zuletzt auf Diskussionsbeiträge, die die hier vorgestellte Kritik auf die Probe stellen.

Literatur

Bieling, Hans-Jürgen, »Editorial«, in: Das Argument 301, 55. Jg., 2013, H. 1/2, 3-5

Busse, Nikolas, »Athener Schauspiel«, in: FAZ, 24.7.2015, 1 Gramsci, Antonio, Gefängnishefte, kritische Ausgabe, Bd. 6, Philosophie der Praxis, hgg., übers. u. eingel. v. Wolfgang Fritz Haug, unter Mitwirkung von Klaus Bochmann und Peter Jehle, Hamburg 1994

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Werke in 20 Bänden, Bd. 3, Frankfurt/M 1970

Kertscher, Hans Joachim, »›Prometheus verlässt das Theater‹. Zur Geschichte eines Mythos in der DDR-Kultur«, in: Germanica, Nr. 45, 2009, 59-72, zit. n. der online-Ausgabe Latour, Bruno, »Ein vorsichtiger Prometheus? Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk«, Keynote lecture for the Networks of Design meeting of the Design History Society, Falmouth, Cornwall, 3.9.2008 (www)

Marx, Karl, Hefte zur epikuräischen Philosophie, und Doktordissertation: Differenz der demokritischen und epikuräischen Naturphilosophie nebst einem Anhang, zit.n. Bd. 40, Marx/Engels, Werke, Berlin/DDR 1957ff, zit. MEW

ders., Das Kapital, I, MEW 23 Schümer, Dirk, »EU fehlt der Plan für Südeuropas verlorene Generation«, in: Die Welt, 9.3.2015 (www)

Zacharakis, Zacharias, »Tsipras, der Menschenfänger«, in: Zeit Online, 14.1.2015