»Solange wir streiten, sind wir auf dem richtigen Weg!«

Gespräch mit María do Mar Castro Varela, Rirhandu Mageza-Barthel und Albert Scherr (Langfassung)

Wenn es in westeuropäischen Medien um gewaltsame Ausschreitungen oder Bürgerkriege auf dem afrikanischen oder asiatischen Kontinent geht, wird oftmals von „ethnischen Konflikten“ und „Tribalismus“ berichtet. Spätestens seit dem Ende der Stellvertreterkriege werden immer seltener politische Lager benannt, immer seltener werden komplexe materielle Verhältnisse und Verteilungsfragen hinter den Konflikten thematisiert. Immer häufiger liest man von ethnischem Divisionismus. Ob Berichte über den Genozid in Ruanda oder neue und anhaltende Kriege in der DR Kongo und Südsudan – oder aktuelle Berichte über die Gewalt gegen Rohingya in Burma und Thailand und die von Schwarzen gegen schwarze ArbeitsmigrantInnen in Südafrika: Ausschreitungen allerorten werden nicht nur in Stammtischdebatten als Beweis dafür gesehen, dass Rassismus keine rein europäische Angelegenheit sei, und dass es zumindest neben dem kolonialen Rassismus auch rassistische Zustände gibt, die ganz unabhängig von diesem ihre Gewalt entfalten.

 

In der hier präsentierten Debatte legen María do Mar Castro Varela, Rirhandu Mageza-Barthel und Albert Scherr dar, dass die hochkomplexen Realitäten nicht nur historisch gewachsen und von Machtansprüchen durchdrungen sind. Es geht auch um die Positionen der SprecherInnen und die Funktionen, die mit einem Rassismusvorwurf einhergehen können. iz3w-redaktion

 

 

iz3w: Im April war in nahezu allen Tageszeitungen von gewaltsamen Übergriffen in Südafrika von Schwarzen auf Schwarze berichtet worden. Dabei wurden Begriffe benutzt wie ausländerfeindliche Übergriffe, xenophobe Ausschreitungen, Hassattacken, Hetzjagd, Pogrome. Es waren Sätze zu lesen wie: „In einem afrikanischen Land werden schwarze Afrikaner von Schwarzen als ‚Fremde’ verfolgt und massakriert“. Mitunter lässt die Berichterstattung bei ZeitungsleserInnen gar Interpretationen zu, die da lauten: Es handle sich um Rassismus zwischen schwarzen SüdafrikanerInnen und mosambikanischen ArbeitsmigrantInnen. Postkoloniale DenkerInnen wie Achille Mbembe und Cawo Abdi kritisieren diese Art der Berichterstattung: Diese Sprache mache die in Armut lebenden Schwarzen zu Sündenböcken, statt die neoliberale Politik und das Erbe der Apartheid zu thematisieren. Können nur Weiße RassistInnen sein?

 

Rirhandu Mageza-Barthel (RMB): Aufgrund eines Forschungsaufenthaltes war ich in diesem Jahr in Südafrika, als die xenophoben Attacken stattfanden. Nachdem es 2008 bereits zu ähnlichen Vorfällen kam, wurde die südafrikanische Gesellschaft wieder mit dem Thema konfrontiert. Es gab nun eine sehr große Debatte darüber, inwiefern SüdafrikanerInnen afrophob sind und wie sie ihre Beziehungen zu anderen AfrikanerInnen verstehen. Gleichzeitig trat die Bewegung #RhodesMustFall in Erscheinung, die mit dem Sturz des Denkmals von Cecil Rhodes eine Dekolonisierung des Wissens, des Denkens und der Verhältnisse forderte. Sie hinterfragt sehr stark die soziale Transformation und den politischen Wandel Südafrikas nach der Demokratisierung 1994, nicht nur in den Universitäten. Angesichts dieser diversen Auseinandersetzungen erkennt man, dass Südafrika ein Land ist, in dem Umbrüche auch mit alten Konflikten und neuen Freiheiten einhergehen. Hier spielt das Koloniale bzw. Apartheiderbe auch heute noch eine entscheidende Rolle. Daher würde ich sagen: Nein, nicht nur Weiße können rassistisch sein, wenn die Bedingungen es denn erlauben.

 

Albert Scherr (AS): Ich würde noch schärfer formulieren: Die Frage unterstellt ja erst einmal eine völlige Homogenität derer, die man als "die Schwarzen" oder "die Afrikaner" bezeichnet. Damit wird systematisch übersehen, dass es innerhalb von Staaten und Bevölkerungsgruppen im globalen Süden sehr subtile Abstufungen gibt, die auch rassistisch definiert werden, und die tatsächlich auch biologisch-rassistisch nach mehr oder weniger heller oder dunkler Hautfarbe kategorisieren. Es gibt überhaupt keinen Grund zu glauben, dass nur Weiße - wer immer dann als "Weiß" oder "Schwarz" definiert wird - RassistInnen sein können: Weil Rassismus immer eine greifbare Unterscheidungslogik ist, um Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren.

 

María do Mar Castro Varela (MCV): Wenn man Diskurse in den Berichterstattungen zu Übergriffen afrikanischen Ländern genauer analysiert, dann scheint der fortgesetzte koloniale Blick auf Afrika durch und eine Logik, welche die Verhältnisse im ehemals kolonisierten Afrika als barbarisch und besonders gewalttätig portraitiert. Ich finde es nicht besonders produktiv, darüber nachzudenken, ob Schwarze rassistisch sein können. Es ist evident, dass alle Menschen in der Lage sind, Gewalt anzuwenden und auch bestimmte Kategorien der Ausgrenzung verwenden. Genealogisch betrachtet muss man jedoch sagen, dass diese besondere Form der Gewalt, der Rassismus, auch eine europäische Erfindung ist.

Ein weiterer Einwurf ist die Frage, warum es unbedingt notwendig ist, von Rassismus zu sprechen - oder ob wir auch andere Formen von Ausschluss und Gewalt thematisieren können, ohne diese Begrifflichkeit zu nutzen.

 

iz3w: Ein Merkmal von Rassismus ist, dass sich Gewalt in staatlichen Institutionen und zudem auf einer kulturellen Ebene der Repräsentationen festschreibt, etwa durch diskriminierende Sprache. Bleiben wir beim Beispiel Südafrika: Hier ist staatliche Gewalt gegen Schwarze offensichtlich, es gibt geschlossene Lager, mosambikanische ArbeitmigrantInnen werden rigoros abgeschoben. Zudem scheint eine sehr diskriminierende Sprache nicht obsolet. Wortführer wie Zulu-König Goodwill Zwelithini sagte jüngst: "Die sollen doch ihre Sachen packen und gehen" und machte „die Ausländer“ aus den Nachbarsstaaten für hohe Kriminalitätsraten verantwortlich. Verweist die Kombination von sprachlicher und institutionalisierter Gewalt nicht auf rassistische Zustände?

 

AS: Die Frage nach der der Funktion ist wichtig. Denn Rassismus ist skandalisierbar: Wer immer von Rassismus spricht, kann moralisieren, den moralischen Vorwurf an den jeweils anderen adressieren und sich damit selbst in die Position des Anti-Rassisten begeben.

 

Anknüpfend an Maria würde ich sagen: Ein übergeneralisierter totalisierender Rassismusbegriff hilft nicht weiter, um das Problem in den Griff zu bekommen. Bei dem angeführten Beispiel spielt doch die Unterscheidung nach Staatsbürgerschaften und Staatsangehörigkeit eine Rolle. Die Unterscheidungsachse ist nicht biologisch-rassistisch definiert, sondern verläuft entlang von Privilegierung und Deprivilegierung nach Staatsangehörigkeit. Wer alle möglichen Varianten von Diskriminierung unter einen generalisierten Rassismusbegriff packt, verliert an Unterscheidungsvermögen. Deshalb wäre ich auch entschieden dafür zu sagen, man braucht erst einmal eine abstrakte Kategorie. Die heißt bei mir Diskriminierung. Davon ausgehend kann man in einem zweiten Schritt unterschiedliche Spielarten von Rassismen, von Nationalismen, von ethnischen Differenzkonstruktionen usw. als bestimmte Varianten von Diskriminierung analysieren. Aber die lassen sich nicht alle unter den Rassismusbegriff packen.

 

RMB: Wenn man verschiedene Gewaltverhältnisse und diskursive Strukturen anschaut, kann man parallele Phänomene ausmachen: Zeitgleich zu den xenophoben Attacken in Südafrika tauchten Leute wie Steve Hofmeyer  als konservativer Afrikaanse-Wortführer auf, mit sehr starken Gegenpositionen zum aktuellen Südafrika. Hinter ihrem Protest, dass ihre Kultur nicht geschützt sei, steht auch der Verlust ihrer früheren Privilegien. Das ist etwas ganz anderes als die Angriffe von SüdafrikanerInnen oder Menschen aus den Townships auf ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlinge. Hier geht es um sehr unterschiedliche Gewaltverhältnisse und gebrochene zwischenmenschliche Beziehungen.

 

MCV: Da möchte ich zustimmen und auf zwei Punkte aufmerksam machen: Zum einen gibt es die Tendenz, jede Form von Gewalt einer sozialen Gruppe gegen eine andere soziale Gruppe als Rassismus zu bezeichnen. Bei dieser inflationären Bedeutungszuweisung von Rassismus müssen wir genau anschauen, welche  Funktion der Rassismusvorwurf jeweils hat. Warum ist es für viele in Europa so wichtig, diesen Vorwurf zu äußern?

Ich halte es erstens für wichtig, genau hinzuschauen, was für eine Form der Gewalt wir hier vor uns haben und zweitens, was die Ursachen bestimmter Ausschreitungen sind. Es kann doch kaum verwundern, dass es in Ländern, die über Jahrhunderte kolonialisiert wurden - und in Südafrika herrschte zusätzlich das brutale Apartheidregime -, dass es hier rassistische Strukturen, Formen rassistischer Kategorisierung und auch Praxen gibt, die als rassistisch gelten können. Ich wage hier mal einen Kontinentensprung: In Lateinamerika gibt es in den letzten Jahren eine heftige Debatte, die gerahmt wird durch Anibal Quijano Konzept "Kolonialität der Macht". Quijano zeigt auf , das es immer noch rassistische Denkweisen und auch koloniale Machtstrukturen, die nach wie vor auch die Politik bestimmen. Auch deshalb, weil sich Befreiungs- und Unabhängigkeitsbewegungen genau dieser Systeme und Denkweisen bedient haben. Deswegen ist es fast zynisch und überheblich auf andere zu zeigen: „Da schau mal, in Brasilien gibt es auch noch rassistische Verhältnisse“. Selbstverständlich ist das richtig, aber die Frage ist doch, wie diese aufgebaut wurden und warum sie bis heute überdauert haben.

 

iz3w: Das hieße im Falle von Südafrika, mit der Rede über die Xenophobie wird das Erbe der Apartheid unsichtbar? Oder für Brasilien gesprochen: das Erbe des Kolonialismus?

 

MCV: Genau das ist die Gefahr. Das ist der Grund, warum zum Beispiel Quijano sehr deutlich darauf verweist, dass es eine fortdauernde Kolonialität gibt, dass Kolonialismus nicht etwas ist, was hinter uns liegt. 

 

AS: Auch hier stellt sich die Frage nach der Funktion der Verwendung der Begriffe. Andere Formen von Gewalt- und Ausgrenzung als Rassismus zu kritisieren und skandalisieren, ist schwieriger. Nationalismus zum Beispiel kann man nicht in gleicher Weise kritisieren wie Rassismus. Denn die Ablehnung von Rassismus ist seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein breit geteilter Konsens; die Ablehnung von Nationalismus keineswegs. Zudem wird aus europäischen Perspektive schnell mit dieser Figur der Barbarei und der Unzivilisiertheit eine Rückständigkeit in außereuropäischen Ländern gesehen, nach dem Motto: Die sind doch Rassisten - so wie wir es früher einmal waren, aber längst nicht mehr sind. Damit trägt die Anwendung der Rassismuskategorie auf „Andere“ immer auch die Funktion der Selbstentlastung in sich.

 

MCV: Ja. An der hiesigen Medienberichterstattung interessiert mich genau diese Entlastungsfunktion. Zudem wird heute oft gesagt, die ehemaligen Kolonisierten seien nicht nur rassistisch, sondern schlimmer noch als die EuopäerInnen es je waren. Das ist sehr verdächtig.

 

iz3w: Wenn die Tagespresse Konflikte im Globalen Süden als ethnische darstellt, wird in linken Medien und Analysen oftmals darauf verwiesen, das eigentliche Problem sei der Klassizismus. Die Eliten hielten zusammen, innerhalb ihrer Gruppe sei die Herkunft irrelevant. Es müssen die materiellen Verhältnisse angeschaut werden, denn hinter der Rhetorik der Ethnisierung läge primär ein Konflikt der Klassen. Läuft man da nicht Gefahr, mit dem Fokus auf Klassenverhältnisse die konkreten lokalen Gewaltverhältnisse zu verallgemeinern, und blendet man damit die Komplexität eines solchen Konfliktes leichtfertig aus?

 

AS: Ja, eindeutig. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass es zwei Ebenen gibt: Strukturelle Klassenverhältnisse und kollektive Identitäten. Diese sind vielfach verschränkt, aber nicht identisch. Wenn aus einer marxistischen Perspektive argumentiert wird, die Ebene ethnischer, kultureller oder religiöser Identitäten sei nur ein abgeleitetes und nachrangiges Element, dann unterschätzt dies deren Eigendynamik.

 

Die Verschränkung funktioniert immer dann gut, wenn politische Machtstrukturen, Identitäten und ökonomische Ungleichheitsstrukturen konvergieren. Bei den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien zum Beispiel findet man eine komplexe Gemengelage von ökonomischer Ungleichheit und ethnischen Differenzen. Da kann man nicht einfach sagen, die ökonomische Ungleichheit ist das eigentliche Ursachenelement und die religiösen, sprachlichen und ethnischen Konflikte das Ableitungselement. Letztere haben eben auch eine Eigendynamik. Da gilt es, in einem ersten Schritt zu unterscheiden und erst dann nach dem Zusammenwirken zu fragen.

 

RMB: Es gilt in solchen Analysen kontextspezifisch zu  bleiben, ohne die globalen Verhältnisse oder internationale Gemeinsamkeiten außer Acht zu lassen. Ruanda war vor dem Genozid primär ein Agrarstaat. Das Buch „Rwanda and Burundi“ von René Lemarchand  von 1970 hat versucht, die Unabhängigkeitsrevolution von Ruanda im Vergleich zu Burundi in den 1950er und 60er Jahren entlang von Klassenstrukturen zu erklären. Trotz der sozialen Stratifizierung, die dort damals existierte, entsprechen die Klassen und die Revolution nicht den üblichen westlich-kapitalistischen Phänomenen.

 

iz3w: In Ruanda wird der Begriff des Rassismus, auch im akademischen Kontext, nicht benutzt. Stattdessen spricht man staatlicherseits eher über ethnischen Divisionismus. Ist das aus einer postkolonialen Perspektive angesichts des Genozids, der sich in Ruanda vor über 20 Jahren ereignete, zu befürworten?

 

RMB: Entscheidend ist nicht, ob Ethnizität existiert, sondern wie sie genutzt wird. In Ruanda ging es im Vorlauf des Genozids um ihre Instrumentalisierung und Politisierung und um die Frage, ob Ethnizität im Vergleich zu anderen sozialen Kategorien wie Familie, Religion oder Klasse die wirkungsmächtigste Kategorie ist, auf die man rekurrieren sollte. In Bezug auf das Beispiel Ruanda führt das zu der Frage, ob Divisionismus nicht eher ein politisches Instrument ist. Einerseits setzt es die Norm, dass nicht entlang ethnischer Linien mobilisiert werden darf. Andererseits nimmt es einer historisch geschwächten Opposition, die diese Kategorie möglicherweise anrufen wollen würde, eine Identitätskategorie weg und stört die Möglichkeit zu dieser Art von Mobilisierung.

 

iz3w: Man steckt da also auch immer wieder in einem Dilemma?

 

MCV: Aus diesen Dilemmata kommen wir nicht raus. Die größte Gefahr liegt darin, die Komplexität zu reduzieren. Und wer auf historische und aktuelle Gewaltverhältnisse, auf historische wie aktuelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse schaut, hat immer mit einer großen Komplexität zu tun. Schon deshalb müssen wir uns der Mühe unterziehen, zu analysieren, wie Kategorien verschränkt sind und sich gegenseitig verstärken. Im Übrigen gilt das auch für die orthodoxe, marxistisch-ökonomistische Sicht mit ihrer Idee von Haupt- und Nebenwiderspruch, die Klasse zur wichtigsten Kategorie erklärt.

 

Auf der anderen Seite hatte die Etablierung von rassistischen Systemen, die mit der Kolonialisierung des heutigen Lateinamerika begann, historisch betrachtet genau diese Funktion, Ausbeutung zu legitimieren. Gruppen, die im rassistischen Kategoriensystem die unterste Stufe einnahmen, wurden maximal ausgebeutet. Bekanntlich kannten die spanischen und portugiesischen Kolonisatoren nicht nur zwei oder drei "Rassen", sondern etablierten ein "Kastensystem" mit über zwanzig differenten Kategorien. Das Encomienda-System des 16.Jahrhunderts, wonach die Konquistadoren treuhänderisch nicht nur die Länder verwalten durften, auf denen sie landeten, sondern eben auch die Bevölkerung, die auf diesem Land lebte, dieses System wurde schon 1550 debattiert und die Frage gestellt, ob das rechtens ist.

 

Das Beispiel zeigt, das sich die Ausbildung eines global kapitalistischen Systems und der Rassismus nicht voneinander trennen lassen, sondern eng miteinander verzahnt sind. Doch es bleibt als Problem, dass beide gegeneinander ausgespielt werden, wenn behauptet wird, im Rassismus spiele Klassismus keine Rolle oder umgekehrt, Rassismus sei eigentlich nur sekundär, viel wichtiger sei die Produktion von Klassen.

 

AS: Im gegenwärtigen globalisierten Kapitalismus ist das Verhältnis von Rassismus und kapitalistischer Ökonomie viel gebrochener. Es gibt ein strategisches Interesse globaler ökonomischer Akteure, rassistische Konflikte innerhalb der globalen Eliten, unter Managern, sowie zwischen Ingenieuren und Facharbeitern, zu vermeiden. In den Industriegesellschaften des Nordens wird Rassismus zum Störfaktor, der die Funktionalität der Ökonomie eher behindert und der gerade nicht mehr die primäre Logik von Ausbeutungsverhältnissen darstellt. Noch komplizierter wird es mit Blick auf die Migration: Es handelt sich um eine auf Nationalstaatlichkeit basierende Ausgrenzung, die sich manchmal, aber nicht immer, mit rassistischen Momenten vermischt. Auch mit einer Gegenwartsanalyse ist die Beschreibung, die sagt, der Rassismus ist ein notwendiges funktionales Element des gegenwärtigen Kapitalismus, doch ziemlich unterkomplex. Wenngleich der Rassismus – wie gerade beschrieben – für die historische Entstehung der kolonialen Systeme konstitutiv war.  

 

MCV: Da stimme ich zu. Allerdings besteht nach wie vor eine internationale Arbeitsteilung. Im Westen kann Rassismus von kapitalistischen Strukturen durchaus als Störfaktor erlebt werden: wenn etwa Computeringenieure aus asiatischen Ländern hier nicht arbeiten wollen, weil sie sich dem hiesigen Rassismus nicht aussetzen wollen. Dann wird mit Antidiskriminierungsgesetzen versucht, gewissermaßen das Image zu verbessern.

 

Andererseits müssen wir die Globalisierung im Blick behalten und sehen, dass eine gnadenlose Ausbeutung der Arbeitskraft im globalen Süden nach wie vor stattfindet. Ich denke hier etwa an die tausenden und abertausenden von Menschen, die in Textilfabriken in Bangladesch 14 bis 16 Stunden täglich arbeiten müssen und trotzdem unter dem Existenzminimum leben. 

 

iz3w: Mit Blick auf globale Produktionsketten wie in der Textil- oder der Logistikbranche sind transnationale Bündnisse entstanden. Warum kann es fatal sein, auf eine postkoloniale Perspektive im Rahmen transnationaler Solidaritätsarbeit – sei es gewerkschaftliche oder anti-rassistische - zu verzichten?

 

AS: Die Kernbotschaft lautet immer: Die gegenwärtigen Verhältnisse und auch die ideologischen Diskurse sind historisch imprägniert: Sie sind nicht voraussetzungslos und sie spielen vor allem auch in den Erfahrungszusammenhängen der Akteure eine Rolle. Ein Beispiel: Über die Problemlagen von Roma oder Sinti, die mich derzeit sehr beschäftigen, kann ich überhaupt nicht sinnvoll sprechen, ohne die Geschichte der NS-Diskriminierung als eine im kollektiven Gedächtnis und im Familiengedächtnis hoch relevante Hintergrunderfahrung zur Kenntnis zu nehmen. Und ich kann auch nicht, um ein anderes Beispiel zu nehmen, mit afrikanischen Flüchtlingen in Freiburg in Dialog treten, ohne zu respektieren, dass für ihre gesamte Realitätswahrnehmung hier die Erfahrung des kolonialen und postkolonialen Rassismus eine zentrale Rolle spielt.

 

Wenn dann der Weiße per se als Repräsentant „der Weißen“ und der kolonialen Unterdrücker wahrgenommen und Legitimität ständig bestritten wird, kommt es zu Verwerfungen innerhalb der Solidaritätsbewegungen, wie sie vielfach auftreten. Wichtig ist, sich gegenseitig zu sensibilisieren, um die wechselseitigen Perspektiven überhaupt zu verstehen und eine Ebene zu finden, die nicht permanent in Konstruktionen von  wechselseitigen Zuordnungen und Schuldzuschreibungen zurückfällt. Diese münden schnell in einen ständigen Kampf um die legitime SprecherInnenposition.

 

iz3w: Für wie relevant beziehungsweise hinderlich hältst du den Paternalismus innerhalb solidarischer Bündnisse?

 

AS: Klar, der existiert. Er lässt sich auch nicht einfach auflösen, und er verweist auf ein Paradox: Paternalismus hat es leicht in Begegnungen, in denen Menschen mit geringen Kenntnissen der deutschen Sprache,  oftmals mit einem geringen akademischen Bildungsniveau, mit geringerer Kenntnis der hiesigen Rechtsstrukturen und politischen Verfahren einfach nicht in gleicher Weise handlungsfähig sind wie diejenigen, die über Jahre als professionelle politische AkteurInnen in der Flüchtlingsbewegung aktiv sind. Damit entsteht ein Stellvertreterproblem, das man thematisieren und idealerweise auch auflösen muss, das sich aber nicht einfach nur durch guten Willen wegdenken lässt.

 

iz3w: Mehrere Beiträge unseres Dossiers beschreiben Interventionen von staatlicher Seite gegen rassistische Gewaltzustände, etwa die Democracia Radical in Brasilien, welche die brasilianische Gesellschaft als eine nicht-rassistische definiert; oder die häufig als vorbildlich zitierte Verfassung des Regenbogenstaates Südafrika; oder in Ruanda die Abschaffung ethnischer Begriffe in der Verwaltung. Sind solche von staatlicher Seite institutionalisierten Instrumente ausreichend, um Gewaltzustände abzuschaffen, die auf ethnische und rassistische Kategorien zurückgreifen? Anders gefragt: Warum sind sie es vielleicht nicht? 

 

MCV: Vom Staat geht auf der einen Seite Gewalt aus und auf der anderen Seite hat der Staat natürlich auch die Möglichkeit, Schutzinstrumente zu implementieren. Es ist notwendig, dass Regierungen im Bereich der Antidiskriminierung intervenieren. In der postkolonialen Theorie sprechen wir immer von der Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit: Selbst wenn man ein noch so progressives Recht etabliert, so übersetzt sich dies nicht in vollkommener Gerechtigkeit. Ein Wandel im Denken verläuft langsam und zäh. Staatliche Instrumente reichen nicht, aber ich würde davor warnen zu sagen, dass dies unnötig sei.

 

RMB: Der Staat ist ein Akteur unter mehreren gesellschaftspolitisch relevanten Akteuren. Und natürlich obliegt es ihm - wenn er gleichzeitig bestimmte Strukturen schafft, ob makroökonomische Strukturen oder Visa-Bestimmungen, die die Interaktion zwischen Menschen und Organisationen sowie Netzwerken mit beeinflussen - auch die Rechtslage so zu ändern, dass ein friedlicheres Miteinander möglich ist. Ob in Ruanda oder Südafrika, letzten Endes bleibt der Staat ein sehr relevanter Akteur, der auch diese Verantwortung tragen muss. Andererseits sind andere Akteure extrem wichtig. Dazu gehören auch die transnationalen Bewegungen, etwa die Frauenbewegungen, Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft im Allgemeinen. Und die Verschränkung zwischen Staat und Zivilgesellschaft ist im afrikanischen Kontext meist enger als im europäischen oder nordamerikanischen.

 

iz3w: "Wandel im Denken" - dieses Stichwort würde ich gerne noch einmal aufgreifen. Inwieweit brauchen wir vielleicht auch eine neue Sprache? Visionär gedacht: Würde es helfen, gemeinsam in transnationalen Bündnissen eine neue Sprache zu entwickeln?

 

AS: Wichtig ist, zwischen analytischen und moralischen Kategorien deutlicher unterscheiden zu lernen. Meine Erfahrung ist, dass viele Diskussionen gegenwärtig schief laufen, weil analytische Fragestellungen sofort moralisch überkodiert werden. Weil nicht ausreichend unterschieden wird zwischen der Frage, wann nach einer angemessenen präzisen Beschreibung eines Phänomens gesucht wird, und wann eine moralische Be- und Verurteilung stattfindet. Der Rassismusbegriff birgt genau diese Doppelkonnotation, er ist analytisch und moralisch. Es geht um die Fähigkeit, zwischen analytischen und moralischen Fragestellungen zu unterscheiden.

 

In Deutschland kannte in den 1980er Jahren niemand den Begriff Ethnizität. Nach den Veröffentlichungen in den frühen 1990er Jahren zur Ethnisierung von Gesellschaften haben alle gefragt "Was ist denn das jetzt auf einmal?". In der soziologischen Diskussion wurde von einigen die Position eingebracht, diesen Begriff gäbe es in der klassischen Soziologie gar nicht, obwohl er bei Max Weber breit diskutiert wird. Das war also ein völlig vergessener, uralter Begriff, der auf einmal wiederentdeckt wurde. Das heißt: Man muss aufpassen mit sprachpolitischen Forderungen. Man müsste gemeinsam eine Sprache entwickeln, die Unterscheidungsvermögen herstellt und nicht alles unter einen großen begrifflichen Rahmen packt.

 

iz3w: Das Buch "Wie Rassismus aus Wörtern spricht - die (K)Erben des Kolonialismus" macht darauf aufmerksam, dass "Ethnie" eigentlich nie für den europäischen Kontext angewendet wird. Ist das Aufzeigen solcher "Einbahnstraßen-Sichtweisen" nicht eine wirksame Methode, um für rassistisch konnotierte Sprechweisen zu sensibilisieren?

 

MCV: Sprachpolitik ist schon wichtig. Wir sollten auf Sprache achten und eine rassistische Sprache ächten. Allerdings, die Tatsache, dass rassistische Praxen über Jahrtausende funktioniert haben, zeigt an, dass es nicht von heute auf morgen verschwinden wird. Sprachpolitik allein reicht nicht aus. Zum Teil wird überschätzt, was die Veränderung von Sprache und der Ersatz einzelner Wörter tatsächlich bewirken. Eine Person kann nach wie vor rassistisch denken und auch handeln und dabei trotzdem bestimmte rassistische Begrifflichkeiten umgehen.

 

Man muss sich zudem fragen: Wer soll denn diese neue Sprache entwickeln? Wichtig ist doch, dass wir Sprache auch als etwas sehen, was sich verändert und in die alle, die der Sprache mächtig sind, intervenieren können. Auch wenn Forderungen nach einer nicht rassistischen Sprache wichtig sind, finde ich teilweise die Strategien problematisch – etwa, wenn Leute beschämt und diffamiert werden, weil sie die „falschen“ Worte benutzen. Im Raum transnationaler Zusammenhänge und Zusammenarbeit kommt das Dilemma der Übersetzung hinzu. Wichtig ist, dass Debatte und Selbstkritik möglich gemacht werden. Und dass, wie Albert sagt, bestimmte Diskussionen immer wieder neu geführt werden.

 

iz3w: Macht es also mehr Sinn, statt an Wörtern zu feilen, Bewusstsein zu schaffen für die jeweilige SprecherInnenposition und den Kontext, in dem Sprache verwendet wird? 

 

RMB: Natürlich sind Sprache und Diskurse wichtig. Die relevante Frage und extrem wichtig ist aber, wie Menschen in Solidargemeinschaften handeln. Nach den Erfahrungen der transnationalen Frauenbewegung fragen wir: Wie geht man mit Differenzen und Ungleichheiten um? Wie mit Gleichheitsansprüchen und Forderungen nach Gerechtigkeit? Was bedeutet eine Praxis im Sinne von Anerkennungs- oder Verteilungsgerechtigkeit? Und finden sich Asymmetrien nur in Nord-Süd-Verhältnissen oder auch in Süd-Süd-Beziehungen wieder? Welche Machtpositionen innerhalb dieser Beziehungen könnten einem gemeinsamen Handeln vielleicht auch im Wege stehen – oder dieses befördern?

 

AS: Man muss sich auch die Problematik von Übersetzungen und Missverständnissen in internationalen Kontexten klarmachen. Der Begriff "race" im US-Amerikanischen legt andere Konnotationen nahe als der Begriff "Rasse" in der deutschen Sprache. Zudem: Ich habe den Eindruck, dass in Kreisen der akademischen Linken manchmal Sprachkritik so etwas wie eine Ersatzhandlung für politisches Engagement ist. Ich finde sprachliche Sensibilität wichtig und habe nichts gegen die notwendige Kritik bestimmter Begrifflichkeiten. Wenn jedoch der Eindruck entsteht, dass  - wenn alle gelernt haben richtig zu schreiben und zu reden - dann ein großer Teil des Rassismus-Problems gelöst sei, halte ich das für eine Verschiebung.

 

MCV: Dem würde ich zustimmen. Sprachpolitik ist natürlich wichtig, darf aber nicht das alleinige Feld des politischen Handelns werden. In der Soziologie ist zudem die Tendenz zu beobachten, immer neue Begriffe zu verwenden, die dann möglichst kaum mehr jemand versteht und die dann als harmlos gelten, weil die Assoziationen fehlen. So wurden Ende der 1980er, Anfang der 90er Jahre die aus dem Griechischen abgeleiteten Begriffe Autochthone und Allochthone bemüht. Das hat dann die Mehrheit der Bevölkerung überhaupt nicht mehr verstanden. Und die Begriffe sind dennoch problematisch. Auch Autochthone und Allochthone markieren Dazugehörige und die, die von Außen kommen. Ich denke, wir müssen uns genauso wie bei der Frage der Repräsentation einfach den Dilemmata stellen und eben auch anerkennen, dass Wissen nie neutral ist. Und vielleicht stärker fokussieren, was eigentlich unser Erkenntnisinteresse ist. Dass politische Aktion immer auch Scheitern und immer auch Konflikt bedeuten und nicht Harmonie. Das heißt: Solange gestritten wird und streiten auch möglich gemacht wird, sind wir auf dem richtigen Weg.

 

María Do Mar Castro Varela forscht und lehrt u.a. zu postkolonialer Theorie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin.

Rirhandu Mageza-Barthel forscht und lehrt u.a. zu Genderpolitiken in Ruanda und afrikanisch-asiatischen Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt.

Albert Scherr forscht und lehrt u.a. zu Rassismus und Migration an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

Moderation: Martina Backes (iz3w)

 

Dies ist die Langfassung eines Studiogesprächs. Eine Kurzversion ist in iz3w 350 erschienen.