Griechische Tragödie

 

In der griechischen Tragödie ist der Handelnde in eine schicksalhafte Konstellation verstrickt. Aus auswegloser Lage gibt es kein Entrinnen. Was immer er tut, durch sein Handeln oder Nichthandeln kann seine Schuld nur größer werden. Am Ende lässt sich die herannahende, sich immer deutlicher abzeichnende Katastrophe trotz größter Anstrengungen nicht mehr abwenden.
Wenn man das Wort Schuld mit Schulden assoziiert, gilt der Satz ebenfalls, nun nicht mehr für das griechische antike Theater, sondern für die jetzige Lage Griechenlands. Das Referendum am 5. Juli wird am Ende an den Verstrickungen nichts ändern. Die Europäische Union, die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds holen die alten Schuldscheine hervor und fordern das „Pfund Fleisch“, das rechtmäßig aus dem Leib des Schuldners herausgeschnitten werden soll, wie es bei Shakespeare der Kaufmann von Venedig fordert, ohne Mitgefühl oder gar Mitleid.
Am 1. Juli 2015 höhnte das sonst eher ernsthafter argumentierende ARD-Wirtschaftsmagazin Plusminus, Griechenland sei für die deutschen Exporte nicht mehr so wichtig, sie seien von knapp acht Milliarden Euro im Jahre 2008 auf weniger als fünf Milliarden Euro 2014 gesunken. Dass dieser Rückgang genau mit der Kürzungs- beziehungsweise Austeritätspolitik korreliert, wurde mit Bedacht ausgespart. Die Wirtschaftsleistung Griechenlands ist seit 2007 um etwa ein Viertel geschrumpft. Die Inlandsnachfrage sank bis Ende 2014 um dreißig Prozent, das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Person von 14.000 Euro auf 9.300 Euro, das heißt um ein Drittel. Solche Zahlen gibt es in der neueren Geschichte Europas in Friedenszeiten für kein Land. Im Zeitraum der Kürzungspolitik durch das segensreiche Wirken der sogenannten Troika, bis 2014 im Vergleich zu 2010, sanken die Staatsausgaben – das heißt auch die Ausgaben für Krankenhäuser, Medikamente, Universitäten – um 23 Prozent. Die Arbeitslosigkeit wurde mehr als verdoppelt. Jeder vierte Grieche ist arbeitslos, darunter jeder zweite Jugendliche. Die Armutsquote lag im Jahre 2013 offiziell bei 26 Prozent; allerdings war die Einkommensgrenze, unterhalb derer jemand als arm gilt, 2009 von 6.900 auf 5.000 Euro im Jahr gesenkt worden. Die Staatsverschuldung stieg unterdessen um dreißig Prozent; sie lag 2010 bei 120 Prozent der Wirtschaftsleistung Griechenlands, Ende 2014 bei 180 Prozent. Die Auflagen von EU und IWF haben die „Konkurrenzfähigkeit“ Griechenlands also nicht verbessert, sondern Wirtschaftswachstum abgewürgt und die Verschuldung vergrößert.
Verantwortlich für die Anhäufung der Schulden, die bis zur drohenden Staatspleite 2010/11 geführt hatte, waren abwechselnd die konservative Nea Dimokratia und die sozialdemokratische PASOK-Partei, die Schwesterparteien von CDU/CSU und SPD. Nachdem EU und IWF den Bankrott verhindert hatten, nahmen die Austeritätsauflagen ihren Lauf. Verantwortlich für die Kürzungen, die vor allem die Armen und die arbeitende Bevölkerung trafen, waren die Parteien, die zuvor die Schulden verursacht hatten. Es war dies der Hintergrund, vor dem die linke SYRIZA die Parlamentswahlen am 25. Januar 2015 gewann und ihr Spitzenkandidat Alexis Tsipras der neue Ministerpräsident wurde. Finanzminister wurde Yanis Varoufakis, ein renommierter Wirtschaftswissenschaftler, der bereits lange vor der Wahl begründet hatte, dass ein solches Austeritätsprogramm, wie es die Troika Griechenland verordnet hatte, auch wirtschaftspolitisch eine Sackgasse ist. Vielmehr sei eine Ankurbelung der griechischen Wirtschaft erforderlich, um die Wirtschaftsleistung des Landes zu vergrößern, die Not zu lindern und zu beseitigen und dann auch frühere Kredite zu bedienen. Dazu sollte ein Schuldenschnitt erfolgen, die Schulden auf ein tragfähiges Maß reduziert werden, aber keine neuen Schulden aufgenommen werden, die nur dazu dienen, die alten zu bedienen.
Das Programm, mit dem die Tsipras-Regierung der EU gegenübertrat, war ein politisches. Erstens: das Europa der EU muss mehr sein, als ein Wirtschaftsclub; die absichtlich herbeigeführte Armut eines großen Teils der griechischen Bevölkerung ist europäischer Werte unwürdig. Zweitens: Die griechische Regierung ist nicht bereit, Renten, Löhne und Sozialeinkommen weiter zu kürzen, sondern will ein Umsteuern auf wirtschaftliches Wachstum, das durch Kredite von außen unterstützt werden muss. Drittens: Für all das gibt es nur eine politische Lösung, das heißt nicht die Beamten und Bürokraten der „Institutionen“ von EU und IWF dürfen die Entscheidungen treffen, sondern das müssen die Spitzenpolitiker Europas tun, der Europäische Rat.
Dazu waren die Staats- und Regierungschefs der anderen EU-Staaten beziehungsweise der Staaten der Euro-Zone nicht bereit. Die Entscheidungen wurden zwischen dem Europäischen Rat, dem Rat der Finanzminister und der Eurogruppe hin und hergeschoben. Auch wenn die griechische Regierung zwischenzeitlich Hoffnung schöpfte, es könne eine Lösung geben. Am Ende haben die Europäische Kommission, insbesondere Kommissionspräsident Juncker, die EZB und ihr Chef Draghi sowie der Präsident der Eurogruppe, der Niederländer Jeroen Dijsselbloem, sich immer nur den Ball zugespielt, um eine Zustimmung der Syriza-Regierung zu einem Paket zu erlangen, das abzulehnen sie ihren Wählern versprochen hatte.
Es war dies der Punkt, an dem Tsipras entschied, ein Referendum in Griechenland dazu abzuhalten. Im Hintergrund steht zugleich, dass die Stimmung in Griechenland von vornherein doppeldeutig war: die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Kürzungspolitik ab, aber eine Mehrheit ist auch für den Verbleib im Euro. Die erpresserische Verhandlungstaktik der Institutionen und vor allem auch der deutschen Regierung hat eine Situation geschaffen, dass beides offenbar nicht gehen soll. Entweder Griechenland bleibt in der Euro-Zone und die Bevölkerung muss weiter verarmen – das war das „Ja“ im Volksentscheid. Oder die staatlich durchgesetzten, von „den Institutionen“ verordneten Kürzungen hören auf – das war das von Tsipras favorisierte „Nein“. Nun aber auf die Gefahr hin, dass die anderen Staaten Griechenland aus der Euro-Zone drängen. Dazu gibt es keine rechtliche Grundlage in den EU-Verträgen. Aber das Zudrehen des Geldhahns durch die EZB schafft weitere Fakten.
Gesine Schwan, ehemals SPD-Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin in Deutschland, sagte dieser Tage, dass die Eurozone und der IWF die Zuspitzung im Verhältnis zu Griechenland absichtsvoll herbeigeführt haben. „Wolfgang Schäuble hatte von Anfang an die Absicht, Syriza an die Wand fahren zu lassen.“ Nach der Wahl von Syriza hofften viele Linke in Europa, auch in Deutschland, dass nun die Politik und die Demokratie ein Übergewicht gegenüber der neoliberalen Macht der Finanzinteressen erlangen könnten. Offenbar ist dies der „Domino-Effekt“, der in den verlogenen Talkshows immer wieder beschworen wird, um den es wirklich geht: Nicht dass andere Staaten Schulden nicht mehr bezahlen, sondern dass weitere linke Regierungen in Europa eine andere Politik machen. Schäubles Botschaft lautet: „Links wählen führt zu Verarmung.“ Die Schuldenregime, die auch die Macht Deutschlands innerhalb der EU weiter festigen, sollen als uneinnehmbare Festung erscheinen. Und die Bilder aus Griechenland sollen in Spanien und anderswo abschreckend wirken. Derweil nimmt dort die Tragödie weiter ihren Lauf.