Demokratie in Zeiten staatlicher Re-Skalierung

Geschlechterkritische Überlegungen

in (12.06.2015)

1. Aktuelle Veränderungen von Staatlichkeit und Demokratie
Staatliche Re-Skalierung, also der Umbau von Nationalstaaten im Kontext neoliberaler Globalisierung, die unter dem Motto „weniger Staat“ eine „neo-soziale Staatlichkeit“, wie Stefan Lessenich[1] dies nennt, hervorbrachte, wurde durch die Finanzkrise nur unmerklich erschüttert. Der Staat soll zwar wieder in die Ökonomie intervenieren, freilich vornehmlich als Nothelfer angeschlagener Finanzhäuser und zur Abstützung trudelnder Wirtschaftsbranchen. Dieser neoliberale Staatsumbau stellt auch die demokratische Frage neu, garantierte doch in Westeuropa bis in die 1980er Jahre der Nationalstaat demokratische Rechte auf der Basis partiellen sozialen Ausgleichs. Die „glückliche Hochzeit“ von Kapitalismus, Wohlfahrtstaat und Demokratie kennzeichnete das Zeitalter sozialer Bewegungen, die in den 1970er und 1980er Jahren erfolgreich politische Partizipation sowie gesellschaftliche Veränderungen – nicht zuletzt auch für Frauen – erstritten.
Heute sind liberal-demokratische Normen und Verfahren in mehrfacher Hinsicht herausgefordert: Internationalisierung und Europäisierung von politischen Entscheidungen höhlen erstens nationalstaatliche demokratische Institutionen aus. Sinkende Wahlbeteiligung, fehlendes Vertrauen in politische RepräsentantInnen und wachsende Unzufriedenheit mit der Leistungsfähigkeit demokratischer Institutionen verweisen zweitens auf die sinkende Legitimations- und Integrationskraft liberaler Demokratie. Diese beiden Trends laufen freilich drittens parallel zu neuartigen zivilgesellschaftlichen, auch widerständigen Initiativen wie „Occupy“ und die „Refugee“-Bewegung, zu politischem Engagement jenseits verfasster demokratischer Institutionen also.
Vorschläge zur Neuerfindung von Demokratie sind dementsprechend vielfältig. Mein Text beschäftigt sich mit dem politisch und wissenschaftlich viel diskutierten, Demokratie verheißenden Konzept Governance, dem Regieren jenseits verfasster staatlicher Institutionen. Governance-Strukturen sollen zivilgesellschaftliche AkteurInnen mobilisieren, neue Formen der Partizipation, der Interessenbündelung sowie neuartige Entscheidungsmuster etablieren, d.h. nicht nur Stimmabgabe, sondern gegenstandsbezogene politische Verhandlungen und steuernde Interventionen in gesellschaftliche Verhältnisse auf nationaler wie auf internationaler Ebene ermöglichen. Governance soll zum Abbau bürokratischer Hierarchien sowie zur Transparenz und BürgerInnenfreundlichkeit, freilich auch zur Effizienz der Verwaltung beitragen. Solche neuen Governance-Formen sind z.B. die UN-Weltkonferenzen, die bundesdeutsche „Islamkonferenz“ oder lokale Runde Tische, aber auch das gleichstellungspolitische Steuerungsinstrument Gender Mainstreaming.
Aus einer feministischen Perspektive stelle ich die Frage, ob Governance geschlechtergerechtere demokratische Formen etablieren kann. Bevor ich das geschlechterdemokratische Potenzial der neuen Governance-Verfahren kritisch ausleuchte, möchte ich einige konzeptuelle Überlegungen zu Staat, Demokratie und Geschlecht vorwegschicken.

2. Staatstheoretische Konzeptualisierung von Demokratie und Geschlecht
Ausgangs- und Zielpunkt feministischer Demokratietheorie ist das Problem, wie die Geschlechterdifferenz, also die sozial hergestellte Unterschiedlichkeit der Erfahrungen, Identitäten und Interessen von Männern und Frauen politisch repräsentierbar gemacht werden kann, ohne dass der Anspruch der Gleichheit preisgegeben wird. Feministische Demokratietheorien verstehen sich als transformative Theorien, die auf eine Veränderung androzentrischer Politikformen abzielen. Sie beleuchten erstens Probleme der politischen Partizipation von Frauen, d.h. ihrer gleichberechtigten Teilnahme an den repräsentativ-demokratischen Verfahren. Zweitens geht es um Fragen der quantitativen Repräsentation von Frauen im politischen System sowie um die aktive Repräsentation der vielfältigen Interessen ganz unterschiedlicher Frauen. Drittens ist die Steigerung der Responsivität politischer Institutionen, also z.B. die Rolle von Gleichstellungsinstitutionen ein feministisch-demokratiepolitisches Anliegen.
Allerdings blenden feministisch-liberale Demokratiekonzepte den Zusammenhang von demokratischen Institutionen und sozialen bzw. ökonomischen Verhältnissen aus. Ein materialistisch-feministisches Konzept fasst demgegenüber Ökonomie, Staat und Demokratie als einen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang und präzisiert, wie gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, wie Geschlechterverhältnisse in den Staat eingeschrieben und wie dadurch demokratische Normen, Institutionen und Verfahren geschlechtsspezifisch kodiert sind. Demokratie wird dann nicht schlicht ein als mehrheitsbezogenes Verfahren der Entscheidungsfindung begriffen, sondern als institutionalisiertes Ergebnis von sozialen Konflikten und Kräfteverhältnissen. Repräsentative Demokratie mit ihren begrenzten und geschlechterselektiven Verfahren politischer Partizipation und Repräsentation kann so als Ausdruck der Kräftekonstellationen im kapitalistisch-patriarchalen Staat kritisiert werden. Demokratie als menschliche Praxis der Selbstbestimmung kann demgegenüber Partizipation und Entscheidung nicht nur auf das politische System begrenzen, sondern muss bei alltäglichen Praxen, bei Prozessen der Subjektbildung ansetzen. Dies ist ein demokratietheoretischer wie auch praktisch-politischer Ansatzpunkt der Transformation der materiellen Grundlagen von Staatlichkeit und Demokratie. Auf dieser demokratietheoretischen und geschlechterpolitischen Grundlage möchte ich nun das geschlechter-transformatorische Potenzial von Governance ausleuchten. 

3. Demokratisierung im Kontext der Transformation von Staatlichkeit und Ökonomie: Geschlechterkritik von Governance
Die materielle Basis re-skalierter Staatlichkeit sowie deren geschlechtsspezifische Grammatik beruhen auf Grenzverschiebungen zwischen Markt, Staat, Familienökonomie bzw. Privatheit und zwischen (National-)Staaten. Märkte werden entgrenzt, Staatlichkeit wird begrenzt bzw. zurück gedrängt und die Familienökonomie wird mit weiteren Reproduktionsaufgaben belastet. In diesen Prozessen brechen tradierte Geschlechterregime, vor allem das des männlichen Familienernährers, auf. Allerdings weisen die gesellschaftlichen Grundlagen der neuen Form von Staatlichkeit nicht in Richtung Geschlechtergerechtigkeit: Die neoliberalen Entgrenzungsprozesse führen vielmehr zu einer geschlechtsspezifischen Prekarisierung von Erwerbsarbeit in den Ländern des Nordens sowie zu einer Re-Konfiguration der ungleichen internationalen geschlechtlichen Arbeitsteilung. Diese geschlechterungleiche materielle Basis der Governance-Architektur schlägt sich auch in Schieflagen auf der politischen Repräsentationsebene nieder: Den neuen globalen patriarchalen Verhältnissen entspricht eine patriarchale (post-nationale) Demokratie, die als Governance bezeichnet wird. Dies möchte ich in fünf Punkten darlegen:
1. Nationale und internationale Governance-Strukturen sind durch die dichtere Knüpfung eines geschlossenen Netzwerks privater, ökonomischer und zivilgesellschaftlicher, Organisationen gekennzeichnet. Governance birgt daher die Gefahr der Informalisierung von Politik in den Substrukturen von Verhandlungsnetzwerken des vorparlamentarischen Raums und somit sinkender Chancen der Partizipation und egalitären Repräsentation von Frauen. In westlichen Demokratien bleibt nicht nur die quantitative Repräsentation von Frauen in politischen Entscheidungsorganen weit hinter den jahrzehntelangen Erwartungen zurück, sondern die informellen Netzwerke schwächen insbesondere jene Entscheidungsorgane wie Parlamente, in die sich Frauen einen quotierten Zugang erkämpft haben. Sie stärken aber die Entscheidungsfindung in politischen Hinterzimmern, zu denen Frauen selten Zugang haben und an denen das Instrument der Quote scheitert.
2. In Governance-Netzwerken schlagen Machtasymmetrien stärker zu Buche als im parlamentarischen Entscheidungsprozess. Die Macht starker ökonomischer Interessengruppen wird beispielsweise in der EU Governance-Struktur deutlich: Die European Women’s Lobby ist zwar integriert, ist aber mit wenig Deutungs- und Entscheidungsmacht ausgestattet und kann oft nur nachholend diskriminierende Entscheidungen skandalisieren. Auch auf nationaler Ebene haben Frauengruppen weit weniger Ressourcen als ökonomische Akteure und können deshalb ihre Interessen in informellen Governance-Foren weit schwerer durchsetzen als ressourcenstarke Interessengruppen; die österreichische Steuerreform macht dies deutlich.
3. Prozesse der Informalisierung von Politik erschweren erfolgreiche Interventionen institutioneller Gleichstellungspolitik, so dass Governance-Institutionen für geschlechtsspezifische Themen undurchlässiger sind. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Frauenthemen entkontextualisiert und instrumentalisiert werden. So degradieren die in internationalen Governance-Regimen ausgehandelten geschlechterpolitischen Maßnahmen Frauen aus dem Süden zu einer Ressource für ökonomisches Wachstum oder zu Instrumenten der Bevölkerungspolitik.
4. Die Einbindung von NGOs in Governance-Strukturen birgt schließlich die Gefahr, eine Herrschaftstechnologie zu werden. Die Anrufung politischen Handelns im zivilgesellschaftlichen Engagement kann der Nutzung der Ressource Zivilgesellschaft und deren Wissensformen dienen. So wurde beispielsweise der Differenz-Gedanke, der die Frauenbewegung kontrovers bewegte, in Diversity-Denken umgemünzt und konnte so zum Instrument neoliberaler Geschlechterpolitik werden.
5. Schließlich nutzt Governance neue Formen des Regierens, in deren Zentrum das Selbstregieren der Menschen steht, also ihre Entlassung aus vermeintlich staatlicher Über-Fürsorge. Die Arbeit der geschlechtslos gedachten Individuen an sich selbst zur Erhaltung und Steigerung ihrer Beschäftigungsfähigkeit ist eine herrschaftliche Subjektivierungsweise, die lebensweltliche Entdemokratisierung nach sich ziehen kann. Ungleichheitsstrukturen wie Klasse, Geschlecht und Religion werden in dieser Herrschaftstechnik gegeneinander ausgespielt. Diese neuen politischen Intersektionalitäten, die exkludierende Debatte um das muslimische Kopftuch oder der ausschließende Diskurs über RaucherInnen und Dicke, sind Elemente einer neuen Gouvernementalität – der Herrschaft durch Disziplinierung und repressiven Selbsttechnologien.

4. Fazit und Ausblick
Die Idee des Regierens ohne Regierung als post-nationale Demokratieform zu idealisieren, ist zu kurz gegriffen. Governance ist vielmehr die politische Repräsentations- und staatliche Steuerungsform von ‚alten’ geschlechtsspezifischen Ungleichheiten entlang der Achsen Klasse, Ethnizität und Religion. Governance ist deshalb aus feministischer Sicht keine demokratischere Form politischen Handelns und Entscheidens, sondern in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit, Partizipation, Repräsentation und Responsivität von nur geringer Reichweite. Governance ist vielmehr das, was Angela Merkels berühmt-berüchtigter, aber ebenso vager Vorschlag einer „kapitalismuskonformen Demokratie“ meint.
Doch die Erarbeitung einer patriarchal-kapitalistischen Hegemonie post-nationaler Staatlichkeit und Demokratie ist ein unvollendetes Projekt, in das Frauenbewegungen eingreifen, das sie prinzipiell verändern können – erstens durch neue Bündnisse, z.B. von Frauenbewegungen der Mehrheitsgesellschaft mit minorisierten Frauen und mit Gewerkschaften, zweitens durch das Einbringen neuer vergeschlechtlichter Perspektiven in die politische Debatte und drittens durch die beständige Infragestellung einer heteronormativen Geschlechterpolitik, z.B. durch eine neuerliche Debatte um die Verteilung von Arbeit, Geld und Zeit.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 35, Frühjahr 2015, „Demokratie im Präsens“.





[1] Stefan Lessenich: Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld: transcript 2008.