Massenstreiks und Straßenproteste in Indien und Brasilien

in (09.06.2015)

In den letzten fünf bis zehn Jahren kam es in vielen der emerging economies zu größeren sozialen Unruhen, was in einer gewissen Spannung zur oft auch von linken Sozialwissenschaftlerinnen verbreiteten Erfolgsgeschichte dieser Länder steht (Schmalz & Ebenau 2013; May 2013: 264). Am Beispiel von Indien und Brasilien sollen in diesem Artikel das Verhältnis von Massenstreiks und Straßenprotesten und die damit verbundenen klassenpolitischen Implikationen näher betrachtet werden. Beide Länder gehören zu den aufstrebenden Weltmächten, und in ihnen folgten auf hohe Wachstumsraten umfangreiche gesellschaftliche Proteste. In beiden Ländern haben die Straßenproteste international Aufsehen erregt, die Streiks wurden dagegen nur in den nationalen Öffentlichkeiten wahrgenommen. Um diese Informationslücke zu füllen, forsche ich seit Sommer 2013 zu Massenstreiks in Indien und Brasilien. Die Informationen über die Streiks beruhen auf Medienberichten, Sekundärliteratur, politischen Schriften und auf 60 Interviews, die ich in Indien zwischen Oktober 2013 und Januar 2014 durchgeführt habe, sowie auf 75 Interviews zwischen Juli und Oktober 2014 in Brasilien.

Keywords: Brazil, India, class conflicts, industrial strikes, street protests, working class, middle class

Schlüsselwörter: Brasilien, Indien, Klassenkonflikte, industrielle Streiks, Straßenproteste, ArbeiterInnen-Klasse, Mittelklasse

In den letzten fünf bis zehn Jahren kam es in vielen der emerging economies zu größeren sozialen Unruhen, was in einer gewissen Spannung zur oft auch von linken Sozialwissenschaftlerinnen verbreiteten Erfolgsgeschichte dieser Länder steht (Schmalz & Ebenau 2013; May 2013: 264). Am Beispiel von Indien und Brasilien sollen in diesem Artikel das Verhältnis von Massenstreiks und Straßenprotesten und die damit verbundenen klassenpolitischen Implikationen näher betrachtet werden. Beide Länder gehören zu den aufstrebenden Weltmächten, und in ihnen folgten auf hohe Wachstumsraten umfangreiche gesellschaftliche Proteste. In beiden Ländern haben die Straßenproteste international Aufsehen erregt, die Streiks wurden dagegen nur in den nationalen Öffentlichkeiten wahrgenommen. Um diese Informationslücke zu füllen, forsche ich seit Sommer 2013 zu Massenstreiks in Indien und Brasilien. Die Informationen über die Streiks beruhen auf Medienberichten, Sekundärliteratur, politischen Schriften und auf 60 Interviews, die ich in Indien zwischen Oktober 2013 und Januar 2014 durchgeführt habe, sowie auf 75 Interviews zwischen Juli und Oktober 2014 in Brasilien.

Bei den Streiks und Straßenprotesten in Indien und Brasilien fallen zunächst zwei Charakteristika auf: (1) Entgegen oft angeführter Zuschreibungen, nach denen Streiks Sache der organisierten ArbeiterInnen-Klasse, diffuse Straßenproteste hingegen Widerstandsformen der Prekären oder der Unterklasse bzw. des sog. Lumpenproletariats sind (vgl. Saul 2014), verhielt es sich in Indien und Brasilien anders: Gut organisierte, aber oft gewaltsam verlaufende Massenstreiks wurden von Angehörigen der ArbeiterInnen-Klasse durchgeführt, und zwar vor allem von deren stärker von Prekarität betroffenen Fraktionen, wohingegen politisch eher diffuse Straßenproteste stark von Mitgliedern der Mittelklassen getragen wurden.[1]

(2) Anders als Ende der 1960er Jahre, als vor allem StudentInnen[2] aus den Mittelklassen die Proteste begannen (in den USA, Mexiko, Japan, Frankreich, Deutschland und Italien) und dann in einigen Ländern die ArbeiterInnen-Klasse mit größeren Streikbewegungen folgte (vor allem in Frankreich, Deutschland und Italien), waren es in den 2000er Jahren meist große Streikbewegungen, die Straßenprotesten der Mittelklassen vorausgingen, etwa in Ägypten, China/Hongkong und eben auch in Indien und Brasilien. Dies steht in einer nicht unerheblichen Spannung zur Darstellung der aktuellen Protestbewegungen durch verschiedene „kritische“ Intellektuelle, die die Streikbewegungen großherzig ignorieren (Hardt & Negri 2012; Kraushaar 2012; Castells 2012). Erst kürzlich wurde in einigen Publikationen ein breiterer Blick auf den Charakter der neueren Protestwellen geworfen (Gallas u.a. 2012; Bewernitz 2014; Karataşlı u.a. 2015).

Ziel des Artikels ist es, die Unterschiede von Streiks als Protesten der ArbeiterInnen-Klasse und interklassistischen Straßenprotesten unter der Dominanz der Mittelklasse in beiden Ländern nachzuzeichnen und die damit verbundenen Organisierungs‑ und Politisierungsprozesse erkennbar zu machen. Dabei unterscheide ich mit Bezug auf Nicos Poulantzas (1975) und Uwe Becker (2010) zwischen einer strukturellen Klassendeterminierung bzw. Klasse als ökonomischer Kategorie und Klassen als politischen Kräften (ebd.: 39). Dabei gehe ich mit Becker davon aus, dass Klassen als ökonomische Kategorien sich zu politischen Kräften konstituieren können, dies aber keineswegs immer der Fall ist (ebd.). Politische Artikulationen können durch ökonomische Klassenpositionen determiniert sein und sich gleichzeitig als religiöse oder kulturelle Konflikte formieren oder durch andere politische Formierungsprozesse überdeterminiert sein. Mit Erik Olin Wright gehe ich davon aus, dass die ArbeiterInnen-Klasse den größten Teil der Lohnabhängigen umfasst, dass es jedoch neben der Bourgeoisie im engeren Sinne noch die Mittelklassen als widersprüchliche Klassenposition gibt: Zu den Mittelklassen gehören neben den kleinen Selbständigen auch verschiedene Gruppen der Angestellten und Ingenieure, die eine leitende Funktion in der privaten Wirtschaft und im Staatsdienst einnehmen (Wright 1978: 62).

Die in diesem Artikel verfolgte These ist, dass sich die widersprüchliche Klassenposition der Mittelklassen auf ihre Protestformen auswirkt: Sie sind einerseits von kürzerer Dauer, aber oftmals besser sichtbar als die von den ArbeiterInnen-Klassen geprägten Proteste. Zum anderen kennzeichnet die Mittelklassen eine Tendenz, zwischen linksradikalen und konservativen politischen Ausrichtungen in oftmals überraschenden Wendungen hin‑ und herzuschwanken. Damit verbunden ist die am Material erarbeitete These einer stärkeren Kohärenz der meist durch Streiks manifestierten Proteste der ArbeiterInnen-Klassen. Die unterschiedlichen Charakteristika der Protestformen lassen erkennen, wie schwierig es ist, dauerhafte politische Bündnisse zwischen ArbeiterInnen‑ und Mittelklassen herzustellen.

Im Folgenden werden zuerst die Streik‑ und Protestbewegungen und ihre Kontexte in beiden Ländern in ihren Spezifika dargestellt. Im Anschluss werden dann klassenpolitische und klassentheoretische Folgerungen und mögliche Konsequenzen für eine künftige marxistische Theoriebildung gezogen.

Indien: Aufstände in Automobilfabriken und „India Against Corruption“

Indien hat seit Beginn der 1990er Jahre eine doppelte Bewegung erfahren: 1991 wurde der interne Markt geöffnet für die Prozesse der Liberalisierung, Privatisierung und Globalisierung. Zugleich begannen 1990 die Massenmobilisierungen der Hindunationalisten, vor allem des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) und der Bharatiya Janata Party (BJP), die im Dezember 1992 mit der Zerstörung der Moschee Babri Masjid in Ayodhya und den Mumbai Riots ihren Höhepunkt fanden: Es kam im Zuge der religiös motivierten Unruhen zu mehr als 2.000 Toten allein im Dezember 1992. Insofern verliefen wirtschaftliche Öffnung und der Aufstieg der Hindunationalisten parallel: Die BJP gewann im Zuge der religiösen Polarisierung erheblich an Sitzen, nämlich nach 85 Sitzen im Unterhaus (Lok Sabha) im Jahr 1989 182 Sitze (von insgesamt 545) im Jahr 1998. Im selben Zeitraum hatte die wirtschaftliche Liberalisierung für erhebliche Wachstumsraten gesorgt, die Gewerkschaften und die indische Linke wurden zugleich stark geschwächt. Während der ersten von der BJP geführten Regierung von 1998 bis 2004 wurde auf eine weitere religiöse Polarisierung verzichtet, jedoch ein aggressiver neoliberaler Kurs fortgeführt. Der Plan einer weitgehenden Flexibilisierung des Arbeitsmarktes hatte 2003 eine Protestwelle entfacht, die 2004 für die nächsten zehn Jahre die Kongresspartei zurück an die Macht brachte. Die Kongresspartei agierte insgesamt wirtschaftsfreundlich, bemühte sich aber, einige soziale Sicherungen für die Landbevölkerung einzuführen wie 2005 den National Rural Employment Guarantee Act (NREGA), der (regional unterschiedliche) Mindestlöhne und den Haushalten Beschäftigung für hundert Tage im Jahr garantieren soll. Die Einkommensentwicklung ist von widersprüchlichen Indizes geprägt: Während der Durchschnittslohn gestiegen ist, hat die Ungleichheit seit dem Jahr 2000 signifikant zugenommen, sowohl zwischen als auch innerhalb von Bundesstaaten.

Zwischen 2005 und 2009 kam es im Industriegürtel südlich von New Delhi zu einer Reihe von Unruhen in Fabriken, vor allem bei Motorradherstellern und Autozulieferern. Im Juni 2011 eskalierten dann zeitgleich die Straßenproteste gegen die Korruption und Streiks beim größten Autohersteller Maruti Suzuki. Es waren vor allem der Einbruch der Wirtschaft im Laufe des Jahres 2013, steigende Strompreise, explosiv steigende Preise von Grundnahrungsmitteln und neue Ermittlungen zu Korruptionsfällen, die im Frühjahr 2014 für einen erneuten Wahlsieg der BJP sorgten, die sich vor allem als wirtschaftsfreundliche Partei präsentierte. Sie verfügt nun über 281 Sitze im Unterhaus, was zum ersten Mal in der Geschichte Indiens eine absolute Mehrheit für diese Partei auf nationaler Ebene darstellt.

Aufstände in den Automobilfabriken

Die indische Automobilindustrie hat seit den frühen 2000er Jahren einen rasanten Aufstieg erlebt: Die Produktion stieg von 1,3 auf 4,1 Millionen Autos pro Jahr zwischen 2001 und 2012 (OICA 2012). Damit ist Indien weltweit der sechstgrößte Hersteller von PKWs und Nutzfahrzeugen und mit 14 Millionen Motorrädern pro Jahr nach China der zweitgrößte Produzent in diesem Bereich.

Etwa im selben Zeitraum, in dem sich die Produktion der PKWs vervierfacht hat, sank der Durchschnittslohn in der Automobilindustrie um etwa 25 % (PUDR 2013: 6). Was war geschehen? Beim größten Autohersteller Maruti Suzuki, der erst ein Joint Venture zwischen der indischen Regierung und dem japanischen Multi Suzuki war und seit 2007 im Mehrheitsbesitz der Suzuki Motor Corporation (SMC) ist, gab es in den Jahren 2000 und 2001 eine exemplarische Auseinandersetzung im bis dahin einzigen Werk in Gurgaon südlich von New Delhi. Mehreren tausend ArbeiterInnen wurde eine „freiwillige“ Frühverrentung angeboten. Als diese dagegen mit monatelangen Streiks und Versammlungen vor dem Werktor protestierten, wurde mehrfach die Polizei eingesetzt und es kam zu zahlreichen Kündigungen. Am Ende hatte das Unternehmen die Auseinandersetzung gewonnen, eine ihr genehme Gewerkschaft im Werk installiert, und die Zahl der LeiharbeiterInnen im Werk stieg rapide an (PUDR 2001). Dieses Modell hat in der indischen Industrie Schule gemacht. Fest angestellte ArbeiterInnen bilden nun in den Fabriken der großen Firmen zwischen 30 % und 50 % der Arbeitskräfte, in den Zuliefererfirmen sind es in der Regel nur noch zwischen 5 % und 30 % Festangestellte.[3] Im Jahr 2005 gab es den ersten großen Konflikt in einem neuen Kampfzyklus in der Fabrik von Honda Motorcycles (HMSI) in Manesar, einem neuen Industriegebiet. Dieser Streik wurde von Festangestellten und LeiharbeiterInnen[4] gemeinsam geführt. In seinem Verlauf wurde eine große ArbeiterInnen-Demonstration von der Polizei angegriffen, mehr als 800 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Der Streik endete mit Lohnerhöhungen für die Festangestellten, die in einer der AITUC (All India Trade Union Congress – Gewerkschaftsbund der Communist Party of India) angeschlossenen Gewerkschaft organisiert waren. Als die LeiharbeiterInnen im kommenden Jahr einen eigenen Streik organisierten, bezeichnete die Gewerkschaft dies als Verschwörung des Managements. Ebenso gab es im Jahr 2006 einen illegalen Streik von 5.500 LeiharbeiterInnen bei Hero Honda Motorcycles in Gurgaon ohne Beteiligung von Gewerkschaften und Festangestellten. Um Aussperrung und Polizeiangriffe wie bei HMSI zu vermeiden, hatten die ArbeiterInnen die Fabrik für sechs Tage besetzt (GWN 2007; Wildcat 2008). In der Phase von 2005 bis 2009 war die Initiative der LeiharbeiterInnen entscheidend, aber die Spaltung zwischen beiden Gruppen von ArbeiterInnen blieb prägend. Im Jahr 2008 kam es im Laufe eines Arbeitskampfes beim italienischen Autozulieferer Graziano in Noida östlich von New Delhi zur Tötung eines Managers durch ArbeiterInnen. Die ArbeiterInnen bei Graziano waren für Lohnforderungen in den Streik getreten, als Reaktion darauf wurden 200 ArbeiterInnen gekündigt. Nachdem in einem Handgemenge ein Sicherheitsangestellter in die Luft geschossen hatte, kam es zum Tumult und der Manager wurde erschlagen (Pratap 2011). Zu ähnlichen Vorfällen kam es 2009 bei den Autozulieferern Pricol in Coimbatore in Südindien und 2010 bei Allied Nippon in Ghaziabad, ebenfalls ein Vorort von New Delhi. Im September und Oktober 2009 gab es beim Autoteilehersteller Rico Auto Ltd. in Gurgaon eine lange Aussperrung, drei Werke von General Motors in den USA und Kanada mussten deswegen zeitweise die Arbeit einstellen. Im Zuge der Auseinandersetzungen bei Rico wurde ein Arbeiter von Sicherheitsleuten und bezahlten Schlägern getötet.[5] Der Konflikt endete mit einem Fiasko, da es dem Management gelang, mehr als 200 AkivistInnen und GewerkschaftsführerInnen mit Abfindungen auszukaufen (GWN 2009; Pratap 2011). Es gelang in den späten 2000er Jahren kaum, die Kämpfe von Festangestellten und LeiharbeiterInnen zu verbinden, die hohe Anzahl der Abfindungen bei Rico Industries war zwar ein finanzieller Gewinn für die Rausgekauften, aber wurde als moralische Niederlage der Bewegung wahrgenommen (IMK 2013).

Die Praxis der Betriebsbesetzung war als Reaktion auf den Angriff der Polizei auf die ArbeiterInnen-Demonstration im Jahr 2005 entstanden, da Versammlungen vor den Toren von Fabriken es dem Management ermöglichen, mit Hilfe der Polizei StreikbrecherInnen einzuschleusen und zumindest einen Teil der Produktion aufrechtzuerhalten. Außerdem sind die ArbeiterInnen vor den Toren regelmäßig gewalttätigen Angriffen durch Polizei, private Sicherheitskräfte und bezahlte Schläger ausgesetzt. Bei einer Besetzung besteht zwar die Herausforderung, eine Versorgung mit Wasser und Essen zu gewährleisten – das Management scheut aber aus Angst um die teuren Maschinen in der Regel vor Polizeieinsätzen in der Fabrik zurück und benötigt dafür eine höhere Zahl an Polizeikräften, die nicht immer zur Verfügung stehen. Die Praxis der Besetzung wurde in Gurgaon im Frühjahr 2011 bei Napino Auto Electronics wieder aufgenommen.

Die Arbeitskämpfe ab 2011 bei Maruti Suzuki – dem größten indischen Autohersteller – bilden den bisherigen Höhepunkt der Konflikte in der Autoindustrie und zogen Auseinandersetzungen in anderen Betrieben nach sich. Im Jahr 2007 wurde die Produktion in einem zweiten Werk von Maruti in der Industrial Model Town (IMT) Manesar aufgenommen, wo 2005 die Konflikte bei HMSI begannen. Hier waren die ArbeiterInnen jünger als im Stammwerk in Gurgaon. Von 4.400 ArbeiterInnen waren 70 % LeiharbeiterInnen, PraktikantInnen oder Auszubildende. Anders als beim Zulieferer Napino arbeiteten hier keine Frauen. Die Lohndifferenz zwischen LeiharbeiterInnen und Festangestellten war geringer als in anderen Betrieben, die LeiharbeiterInnen verdienten etwa 6.000 Rupien im Monat (85 €), die Festangestellten etwa 12‑14.000 Rupien (170‑200 €).

Wegen der hohen Arbeitsgeschwindigkeit bei vollautomatischer Produktion (alle 45 Sekunden läuft ein Auto vom Band) und gesundheitlichen Problemen wegen zu kurzer und zu seltener Pausen war die Unzufriedenheit groß und die ArbeiterInnen wollten eine eigene Gewerkschaft gründen, die Maruti Suzuki Employees Union (MSEU). Die Registrierung einer Gewerkschaft erfordert im Bundesstaat Haryana de facto, obwohl dies ungesetzlich ist, die Zustimmung des Managements. Darüber hinaus dürfen Festangestellte und LeiharbeiterInnen nicht in derselben Gewerkschaft Mitglied sein. Die Chefs von Maruti Suzuki wollten die festangestellten ArbeiterInnen zwingen, Mitglied bei der gelben Gewerkschaft Maruti Udyog Kamgar Union (MUKU) zu werden, die im Stammbetrieb in Gurgaon installiert war, und verteilten im Werk in Manesar entsprechende Formulare. 10 % der ArbeiterInnen unterschrieben die Formulare, während 3.000 ArbeiterInnen am 4. Juni einen Streik in der Fabrik begannen. Die Stärke des kurzfristig organisierten Streiks bestand darin, dass er eine gemeinsame Aktion von LeiharbeiterInnen und Festangestellten war, obwohl es eigentlich um die Gewerkschaft der Festangestellten ging. In der Nacht zum 5. Juni kam es zu einem groß angelegten, gewaltsamen Polizeieinsatz im Zentrum von New Delhi gegen die Anti-Korruptionsbewegung (s.u.). Dies spielte sich zwar ca. 40 Kilometer entfernt ab, band aber viele Polizeikräfte. Am 17. Juni wurde die Besetzung beendet, das Management sicherte die Anerkennung der Gewerkschaft zu. Anfang Oktober wurden 1.100 LeiharbeiterInnen ausgesperrt und es kam zur zweiten Besetzung: Dieses Mal engagierten sich die Festangestellten für die LeiharbeiterInnen. Die drei anderen Fabriken von Suzuki in Manesar, wo andere Gewerkschaften aktiv sind, wurden ebenfalls besetzt. Etwa 15 weitere Zuliefererbetriebe schlossen sich dem Streik für zwei Tage an. Wegen parallel stattfindender Wahlen standen wieder nicht genügend Polizeikräfte für eine Räumung zur Verfügung. Diese erfolgte nach den Wahlen am 14. Oktober. Die ArbeiterInnen vermieden eine Konfrontation und zogen sich aus den Fabriken zurück, streikten aber in allen vier Werken von Suzuki weiter bis zum 21. Oktober. Es gab eine erneute Einigung, die Führung der MSEU wurde jedoch unter Drohungen mit Gefängnisstrafen aus dem Betrieb durch Abfindungen herausgekauft.

Im März 2012 konnte die Gewerkschaft schließlich unter dem Namen Maruti Suzuki Workers Union (MSWU) registriert werden. Die Verhandlungen über die Forderungen der MSWU – mehr Lohn, mehr Einstellungen, mehr Urlaubstage, mehr Pausen, feste Einstellungen von LeiharbeiterInnen – blieben erfolglos, stattdessen hatte das Management mit einer Kampagne über angeblich gefälschte Abschlüsse von Ingenieursschulen etwa 70 unliebsame Kollegen entlassen (GWN 2012). Am 14. Juli gab es zum letzten Mal ergebnislose Gespräche. Es kam zu lebhaften Diskussionen im Werk und schließlich zu einem Aufstand der ArbeiterInnen in der Fabrik am 18. Juli, in dessen Verlauf mindestens 50 leitende Angestellte verletzt und Teile der Fabrik angezündet wurden, ein Manager verbrannte in den Flammen. Die ArbeiterInnen flohen aus der Fabrik, zahlreiche ArbeiterInnen wurden verletzt.

Die Fabrik blieb nach dem Aufstand für einen Monat geschlossen; 1.800 LeiharbeiterInnen und 500 Festangestellte wurden ohne Angabe von Gründen entlassen. 148 ArbeiterInnen wurden verhaftet, darunter einige, die am 18. Juli 2012 Urlaub hatten oder krank geschrieben waren; sie sind bis heute in Kaithal im Bundesstaat Haryana inhaftiert (für eine ausführlichere Analyse der Konflikte bei Maruti Suzuki vgl. Nowak i.E.).

Die Auseinandersetzung bei Maruti Suzuki zeigt, dass die ArbeiterInnen im Industriegürtel um New Delhi innerhalb von sechs, sieben Jahren eine enormen Lernprozess durchlaufen haben: Ihnen wurde klar, dass nur ein gemeinsamer Widerstand von Festangestellten und LeiharbeiterInnen Erfolg haben kann[6] und dass sie mit Besetzungen mehr Druck ausüben können als durch Proteste vor dem Tor. Zudem haben sie eine Vernetzung mit ArbeiterInnen anderer Betriebe erreicht, die oft zur direkten Zuliefererkette gehören. Es gelang aber nicht, das zweite Werk von Maruti Suzuki in Gurgaon in den Streik mit einzubinden. Nach dem Aufstand bei Maruti hatten viele Konzerne wie Honda provisorisch die Löhne erhöht, um Unruhen vorzubeugen (Wildcat 2014). Die Gewerkschaft MSWU, die 2011 noch stark unter Einfluss von etablierten Gewerkschaften wie der AITUC stand,[7] hat sich von den großen Gewerkschaftsverbänden unabhängig gemacht und setzt nun eher auf Bündnisse und Mobilisierung in der Fläche. Sie unterhält gute Verbindungen zu Betriebsgewerkschaften in Gurgaon, aber auch zu Intellektuellen wie Arundhati Roy und zu Akteuren der sozialen Bewegungen wie zu Gruppen von radikalen Studierenden, maoistischen Basisgruppen und Kleinparteien, bolschewistischen Organisationen der LandarbeiterInnen usw. – ein klassischer Ansatz des Social Movement Unionism, der sich nicht in die etablierten Verhandlungsmuster pressen lässt. Dazu gehört auch, dass es gelang, Netzwerke über den ganzen indischen Subkontinent zu spannen: Im Laufe des Jahres 2013 gelang es zweimal, nationale Aktionstage für die Maruti-ArbeiterInnen in etwa 20 Städten abzuhalten. In Chennai wurde die Demonstration im Februar 2013 von Hyundai-ArbeiterInnen angeführt.

Für einen Lernprozess bei den ArbeiterInnen spricht auch, dass die MSWU seit den Gewerkschaftswahlen 2014 nun in beiden Werken von Maruti Suzuki die überwiegende Mehrheit stellt, in Manesar sind es 11 von 12 GewerkschaftsvertreterInnen, aber auch im Stammwerk in Gurgaon dominiert nun die MSWU, während ihre alte Führung weiterhin im Gefängnis sitzt, unter Mordanklage.

Treibende Kraft des Widerstands waren die LeiharbeiterInnen, die jedoch nicht in der Gewerkschaft vertreten werden konnten. Entlassene ArbeiterInnen von Maruti gründeten 2013 das Gurgaon Workers Centre (GWC) als offene Koordination, um diese starren Strukturen zu umgehen. Im GWC werden inzwischen mehrere parallel verlaufende Fabrikkämpfe (im Dezember 2014 bei Asti Electronics, Baxter Pharmaceuticals und Munjal Kiriu) miteinander verbunden. Nach der Wiedereröffnung der Fabrik von Maruti Suzuki wurden die Löhne der Festangestellten erheblich (auf etwa 30.000 Rupien) erhöht; das Gros der LeiharbeiterInnen wird nun nicht mehr von 60 verschiedenen Verleihern, sondern befristet für sechs Monate direkt beim Konzern angestellt, mit ebenfalls erhöhten Löhnen (etwa 12.000 Rupien) (Wildcat 2014). Der Abstand zwischen den Löhnen beider Kategorien ist erheblich gestiegen, offensichtlich setzt der Konzern auf eine engere Bindung an die Festangestellten.

Dem Aufstand bei Maruti Suzuki folgten weitere Mobilsierungen: Im Sommer 2013 kam es zu einem 50tägigen Streik beim Motorradhersteller Bajaj in Pune, im Frühjahr 2014 zu einem einmonatigen Streik bei Toyota Kirloskar bei Bangalore – beide Auseinandersetzungen endeten ergebnislos. Zwei längere Besetzungen im Industriegürtel um New Delhi bei drei Fabriken von Napino Auto und einer Fabrik von Shiram Pistons & Rings im April und Mai 2014, beides Autozulieferer für indische und internationale Autokonzerne, endeten durch Polizeieinsätze und waren mit vielen Verhaftungen verbunden. Bei einer Verteuerung der Preise für Grundnahrungsmittel um 20 % jährlich bedeutete die Erhöhung der Löhne der LeiharbeiterInnen bei Maruti Suzuki von 6.000 Rupien im Jahr 2011 auf 12.000 Rupien im Jahr 2013 einen leichten Reallohnzuwachs. Einen qualitativen Sprung erfuhr dagegen die Zusammenarbeit von ArbeiterInnen verschiedener Betriebe über gemeinsame Komitees – die starre Orientierung auf die GewerkschaftsführerInnen der jeweiligen Föderation ist zumindest nicht mehr selbstverständlich.

Kämpfe gegen die Korruption und ein neues Parteiprojekt

Im November und Dezember 2010 sorgten eine Reihe von Korruptionsskandalen u.a. bei der Vergabe von Wohnungen für Militärs (Adarsh Housing Society Scam), der Vergabe von Immobilienkrediten und bei der Versteigerung von Mobilfunklizenzen (2G spectrum scam) für Aufsehen. Ende Dezember 2010 protestierten erstmals 20.000 wegen des 2G spectrum scam in New Delhi. Ende Januar 2011 gab es in 52 Städten in Indien Demonstrationen gegen Korruption. Mitte Januar hatten bereits führende Industriebosse wie Keshub Mahindra in einem offenen Brief die Korruption angeprangert und sich hinter die Mobilisierungen gestellt. Am 27. Februar 2011 protestierten erneut 100.000 in New Delhi gegen Korruption. Anna Hazare, der bekannteste AnführerInnen der Bewegung, hat bereits seit den 1990er Jahren in Maharashtra gegen Korruption gekämpft, erst 1997/1998 gegen die rechte Shiv Sena und die BJP, dann im Jahr 2003 mit einem öffentlichen Todesfasten gegen die zentristische Nationalist Congress Party, einer Abspaltung vom Kongress. Seine Taktiken folgen dem Vorbild von Gandhi, wurde aber wegen ihrer Verankerung in „upper caste Hindu values“ und in den Werten der urbanen Mittelklasse häufig von Dalits und Linken kritisiert (Visvanathan 2012: 108).

Es folgte im April 2011 ein öffentlicher Hungerstreik von Hazare im Zentrum von New Delhi: Er forderte die Umsetzung eines Anti-Korruptionsgesetzes, dem Jan Lokpal Bill, nach dem eine Kontrollinstanz zur Bekämpfung der Korruption gebildet werden soll, die aus Regierung und zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen gesetzt ist. Verbale Unterstützung erhielt die Bewegung neben prominenten Kricketstars auch von PolitikerInnen der oppositionellen Partei BJP und von linken Parteien. Für Hazare selbst war die Distanz zu politischen Parteien essentieller Teil seines Protests. Wenig später gab die regierende Kongresspartei nach und berief fünf AnführerInnen der Bewegung in das Komitee zur Formulierung des Gesetzes, darunter Hazare und Arvind Kerjriwal.

Für Anfang Juni 2011 lud eine weitere zentrale Figur des Anti-Korruptions-Protests, der Yoga-Fernsehprediger Baba Ramdev, zum 40tägigen Protest auf den Ramlila-Platz in New Delhi. Er forderte u.a. eine Beschlagnahme von Geldern indischer Konzerne, die auf Schweizer Banken angeblich Schwarzgeld deponieren. Am 4. Juni, am Tag, als die Maruti Suzuki-Fabrik in Manesar zum ersten Mal besetzt wurde, kamen 65.000 seiner Unterstützer auf den Platz und kampierten dort. In der folgenden Nacht wurden diese von 10.000 Polizisten mit Tränengas und Knüppeln angegriffen. Ramdev wurde festgenommen. Alle politischen Parteien, außer der Kongresspartei, protestierten gegen die gewaltsame Unterdrückung der Proteste. Im Jahr 2014 bekundete Ramdev seine Unterstützung für den Kandidaten Narendra Modi von der BJP.

Ab dem 16. August 2011 kündigte Hazare einen weiteren öffentlichen Hungerstreik im Zentrum von New Delhi an. Er sowie weitere 1.500 Protestierende wurden umgehend festgenommen, was eine weitere Protestwelle im ganzen Land auslöste. Nach drei Tagen wurden sie freigelassen. Weitere Proteste im Dezember waren erheblich schlechter besucht. Ende Dezember wurde der Jan Lokpal Bill vom Unterhaus angenommen. Eine Wiederbelebung der Proteste im Frühjahr 2012 wegen des verwässerten Gesetzes gelang nur mit geringen TeilnehmerInnen-Zahlen und gegen Ende des Jahres 2012 trennte sich Kejriwal von Hazare, um die Aam Admi Party (AAP – Partei des einfachen Mannes) zu gründen. Kejriwal und andere versuchten, die in der Bewegung erfahrene Unterstützung durch die Gründung einer neuen Partei zu verstetigen.

Im März 2013 führte Kejriwal fast zwei Wochen lang einen Hungerstreik in einem armen Stadtteil im Norden von New Delhi durch, um gegen die überhöhten Strom‑ und Wasserpreise zu protestieren. Er forderte die Betroffenen auf, die Rechnungen nicht zu bezahlen. Damit wurde das Thema der Korruption verlassen hin zu einer direkten Betroffenheit von armen Haushalten. Im Dezember 2013 wurde die AAP im Parlament von New Delhi überraschend zweistärkste Partei mit 28 von 70 Sitzen. Die BJP erhielt 31 Sitze, die vormals regierende Kongresspartei nur acht Sitze. Die WählerInnenschaft der AAP wurde vor den Wahlen vor allem in der Mittelschicht verortet. Die AAP erhielt jedoch sowohl in Stadtteilen der Mittelschicht wie in armen Stadtteilen große Stimmenanteile. Entgegen der Ankündigung, nicht mit etablierten Parteien zusammen zu arbeiten, ließ sie sich vom Kongress unterstützen. Unmittelbare Ziele ihrer Regierung in New Delhi waren die Halbierung der Strompreise, freier Bezug einer bestimmten Menge von Wasser und die Einführung des Jan Lokpal Bill nach 15 Tagen. Die Reduzierung der Strom‑ und Wasserpreise wurde sofort ins Werk gesetzt, war aber hoch umstritten, da sie vor allem der Mittelschicht nützte: 50 % der Bevölkerung von New Delhi haben keine Strom‑ und Wasserzähler und konnten nicht von den Maßnahmen profitieren.

Bei einer weiteren Forderung der AAP, der allgemeinen Abschaffung der Leiharbeit, wurde von der Stadtregierung von New Delhi nicht gehandelt, weswegen Ende Januar 2014 die als LeiharbeiterInnen angestellten BusfahrerInnen der Stadt New Delhi einen zweitägigen Streik ausriefen, der stark befolgt wurde. Ihnen wurde mit Entlassung gedroht. Die Unklarheit der AAP in Wirtschaftsfragen wurde breit diskutiert, da es sowohl Unterstützung von bekannten linken AktivistInnen wie Medha Patkar als auch spektakuläre Beitritte von ehemaligen CEOs bekannter Fluglinien und Medienkonzerne sowie von reichen SchauspielerInnen und Cricketstars gab. Als die AAP den Jan Lokpal Bill für New Delhi ins Regionalparlament einbringen wollte, verweigerten BJP und Kongress die Abstimmung. Daraufhin trat die AAP nach 49 Tagen von der Regierung in New Delhi zurück. Der schnelle Abtritt wurde von BeobachterInnen als taktische Maßnahme vor den nationalen Wahlen angesehen. Hierbei errang die Partei jedoch nur 4 Sitze im Unterhaus und verfehlte damit deutlich ihre Ziele.

Eine Schwäche der Anti-Korruptionsbewegung war, dass sie über die Verabschiedung von Anti-Korruptionsgesetzen hinaus keine klare Agenda entwickeln konnte. Die Schaffung einer breiteren Agenda und einer politischen Identität gelang auch der AAP nicht, die im Dezember 2013/Januar 2014 von einer Welle der Euphorie getragen wurde, aber durch ihre chaotische Amtsführung und programmatische Unklarheit die Sympathien schnell verspielte.

Fabrikkämpfe und „India Against Corruption“ – Beziehung einer Nicht-Beziehung

Durch Zufall begann der Kampf um die Fabrik von Maruti Suzuki am selben Tag wie eine der größten Mobilisierungen gegen Korruption, die wegen des nächtlichen Angriffs der Polizei zu einem wichtigen Ereignis wurde. Beide Protestbewegungen blieben aber wesentlich unverbunden, auch wenn es seit dem Aufstand 2012 immer wieder Solidaritätsbekundungen von Arvind Kejriwal und Yogendra Yadav für die Maruti-ArbeiterInnen gab. Diese blieben aber symbolisch und punktuell. Zuletzt sprach Yadav als Chefideologe der AAP auf dem zweiwöchigen Marsch der Maruti-ArbeiterInnen im Januar 2014 durch Haryana und New Delhi (Nowak 2014) – zu einem Zeitpunkt, als die AAP die Regierung in New Delhi stellte.

Die Anti-Korruptionsbewegung war von Beginn an eine interklassistische Bewegung, die eine Basis bei der Mittelklasse und den Armen hatte und immer wieder Zuspruch und Unterstützung auch bei einflussreichen Industriellen fand. Ihre Ideologie und ihre Führungsfiguren präsentieren die Werte der neuen Mittelklasse in Indien, die aus der Privatwirtschaft kommt – im Gegensatz zur alten, im Staatsdienst verankerten Mittelklasse (Sitapati 2011). Die Haltung ihres bekanntesten Anführers Anna Hazare, Parteien grundsätzlich abzulehnen, prägt das Muster einer antipolitischen Politik, wie sie auch in europäischen Staaten im Gefolge der Wirtschaftskrise an Einfluss gewonnen hatte, etwa mit der Piratenpartei oder dem Movimento Cinque Stelle in Italien. Aber auch der parteipolitische Flügel der Anti-Korruptionsbewegung vermied politische Festlegungen entlang einer Links-Rechts-Achse – wohl auch aus der Furcht heraus, den Nimbus des Neuen und Unverbrauchten wieder zu verlieren.

Der interklassistische Charakter der Anti-Korruptionsbewegung, der zunächst ihr großer Vorteil zu sein schien, entwickelte sich schließlich zu ihrem Nachteil, da sie mit der Vermeidung von Festlegungen einherging – ganz anders als der ebenso interklassistisch auftretende Wirtschaftsfreund Modi. Die ArbeiterInnen-Kämpfe dagegen, die den Straßenprotesten vorausgingen, waren stark von den Interessen der LeiharbeiterInnen geprägt, die mit Monatslöhnen von unter 10.000 Rupien im Monat gerade das Nötigste zum Leben haben – eine Wohnung, aber keinen regelmäßigen Wasser‑ und Stromzugang.[8] Die gemeinsamen Interessen von Festangestellten und LeiharbeiterInnen formierten sich durch den gemeinsamen Arbeitsprozess, in dem sehr kurze Pausen und eine hohe Arbeitsbelastung beide Kategorien betreffen.[9] Die Kontakte entstanden nicht nur während der Arbeit, sondern auch in den Nachbarschaften und beim Transport zu den Fabriken in von der Firma gestellten Bussen. Da die traditionellen linken Parteien CPI und CPI (ML) kaum noch eine Präsenz in den Städten haben und vollkommen überaltert sind, bewegt sich die IndustriearbeiterInnenschaft in einem politischen Vakuum. Die Beziehungen zur Anti-Korruptionsbewegung bleiben vage, auch wenn es durchaus Sympathien für einzelne Figuren wie Hazare unter den ArbeiterInnen gibt oder einzelne ParteiführerInnen der AAP bei Veranstaltungen der Maruti-ArbeiterInnen sprachen. Die langfristige Mobilisierung und organisatorische Konstituierung der IndustriearbeiterInnen zu einer bewussten Klasse in den Fabrikbezirken über Jahre hinweg steht im Kontrast zu den häufig großen, aber schnell an‑ und abschwellenden Versammlungen der Anti-Korruptionsbewegung, die sich auf Teile der Mittelschicht, der städtischen Armutsbevölkerung sowie der Bourgeoisie stützt.

Brasilien: Massenstreiks auf Baustellen und Straßenproteste gegen Fahrpreiserhöhungen

In Brasilien eilte die Regierungsbeteiligung des Partido dos Trabalhadores (PT) unter der Präsidentschaft von Lula und Dilma Rousseff durch Wirtschaftswachstum und umfassende Sozialprogramme zunächst von Erfolg zu Erfolg: Die absolute Armut ging zwischen 2003 und 2012 zurück von 36 % auf 16 %, das Durchschnittseinkommen stieg an, der Mindestlohn wurde kräftig erhöht, die informelle Beschäftigung ging zugunsten formeller zurück und die Arbeitslosigkeit fiel auf sechs Prozent (Krein & Baltar 2013). Seit dem Eintreten der globalen Krise haben sich jedoch die Wachstumsraten in Brasilien nicht wieder erholt, sie bleiben weit unter denen anderer emerging economies, um 2014 mit 0,2 % fast am Nullpunkt zu landen. Dazu trägt nicht nur der globale Abschwung bei, sondern auch ein Investitionsstreik der brasilianischen UnternehmerInnen, die Rousseffs als technokratisch empfundenen Regierungsstil politisch bestrafen wollen. Insgesamt kann seit der Ablösung Lulas von der Spitze der PT eine doppelte Bewegung beobachtet werden: Sowohl UnternehmerInnen wie ArbeiterInnen fühlen sich entfremdet von der Führung der PT, während Lula durch seinen persönlichen Führungsstil beide Seiten für sich einnehmen konnte. Die Zeit der Übernahme der Präsidentschaft durch Rousseff fiel in eine Phase der Abkühlung des Wachstums. Zudem begann sich in dieser Phase ein Teil der Mittelklasse, der traditionell eine Basis der PT war, von der Partei abzusetzen (Singer 2012). Der alte Hass auf die Armen erwachte allmählich zu neuer Blüte – vor allem dadurch, dass die Hausangestellten nunmehr einen stark erhöhten Mindestlohn erwarteten und die neuen, unteren Mittelklassen in soziale Orte Zutritt erlangten, die bisher den alten Mittelklassen vorbehalten waren – teure Restaurants, Flughäfen, Geschäfte für Luxusgüter etc.

Mit der Streikwelle ab dem Frühjahr 2011 wurde die Radikalisierung der unteren Fraktionen der ArbeiterInnen-Klasse Gegenstand der Alltagsgespräche und Zeitungsberichte. Die PT‑Regierung war gewissermaßen zwischen den neuen Ansprüchen der ArbeiterInnen auf höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen und der Abwendung der Mittelklasse eingeklemmt. Die bis 2014 andauernden Massenstreiks trieben die Mittelklassen nach rechts, bis hin zu den kurz nach dem knappen Wahlsieg von Rousseff im Oktober 2014 stattfindenden Demonstrationen, auf denen mehrere tausend Rechte eine Intervention des Militärs forderten.

Ein dauerhaftes Problem der PT war und ist, dass sie weit davon entfernt ist, eine Mehrheit in Parlament oder Senat (Oberhaus) zu erreichen. Ihre besten Werte im Parlament hatte sie bei der ersten Wahl von Lula mit 91 von 513 Sitzen. Aktuell sind es nur noch 70 Sitze im Parlament und 15 Sitze von 81 im Senat. Damit verfügt sie in den mit Parteien der alten klientelistischen Eliten eingegangenen Koalitionen über etwa ein Drittel der Sitze – und es ist diese Konstellation, die die PT zu Kompromissen zwingt, die sie auch bei ihrer WählerInnenschaft „im Volk“ zunehmend unbeliebt macht.

Massenstreiks der BauarbeiterInnen
und der städtischen Angestellten

Eines der zentralen Projekte der PT‑Regierungen war und ist die Industrialisierung des Nordens und Nordostens, wo das Durchschnitteinkommen etwa ein Drittel beträgt im Vergleich zu den Wirtschaftszentren des Südens. Historisch war die Migration aus dem Nordosten in den Südosten das dominante Muster, das politisch in den Streiks der MetallarbeiterInnen 1979/1980 in der Großregion São Paulo zum Ausdruck kam, die Lula als politischen Führer etablierten und Grundlage für die Entstehung der PT im Jahr 1980 und des Gewerkschaftsbunds Central Única dos Trabalhadores (CUT) im Jahr 1983 waren (Antunes 1988; Véras 2011). Grundlage für den Plan einer nachhaltigen Industrialisierung der armen, auf Rohstoffexport basierenden Regionen ist das Programm zur Beschleunigung des Wachstums, Programa de Aceleração do Crescimento (PAC). Das Programm wurde 2007 begonnen und durch PAC 2 im Jahr 2010 fortgesetzt. Es schafft die Voraussetzungen für weitere Industrialisierung durch den Bau von neuen Straßen und Eisenbahnlinien, den Bau großer Wasserkraftwerke in Amazonien und den Bau von Raffinerien, Stahlwerken und petrochemischen Komplexen in Küstennähe.

Die bedeutenden Streiks ab 2011 ereigneten sich auf den PAC-Baustellen, die von den großen brasilianischen Baukonzernen wie Odebrecht, Camargo Correa und Andrade Gutierrez betrieben werden. Im Februar 2011 kam es zu einer Streikwelle auf Baustellen im Bundesstaat Bahia, hier waren 80.000 ArbeiterInnen im Streik. Mitte März sprang die Welle dann auf die PAC-Baustelle in Pecém bei Fortaleza im Bundesstaat Ceará über. Der spanische Energiekonzern Endesa[10] leitete hier den Bau eines Wärmekraftwerks. Die 6.000 BauarbeiterInnen organisierten den Streik ohne Beteiligung der Gewerkschaft und verbrannten zahlreiche der verhassten, weil schlecht ausgestatteten Unterkünfte. Wenige Tage später wurde die 3.800 Kilometer entfernte Baustelle des Wasserkraftwerks in Jirau, Rondonia, vom Streik erfasst, wo 20.000 ArbeiterInnen tätig waren. Jirau wurde zum Fanal für die brasilianische Arbeitswelt, da hier die Zerstörungen besonders heftig waren und die Nationalgarde (Força Nacional) gegen die ArbeiterInnen eingesetzt wurde. Kurz danach erreichte die Streikwelle das nahe gelegene Santo Antonio mit 15.000 ArbeiterInnen, wo ein weiteres Wasserkraftwerk gebaut wurde, sowie zwei Baustellen des petrochemischen Komplexes Suape bei Recife, wo viele der 35.000 BauarbeiterInnen große Teile der Infrastruktur zerstörten, bis die Nationalgarde den Streik unterdrückte. Im Februar und März 2011 waren insgesamt 180.000 BauarbeiterInnen im Streik, im ganzen Jahr 2011 waren es 580.000. Das Jahr 2012 zählte 500.000 Streikende im Bausektor.

Die schnelle Ausbreitung der Streiks ohne zentrale Organisation ist dadurch erklärbar, dass die meisten BauarbeiterInnen WanderarbeiterInnen sind, die von den Firmen für die Dauer des Baus angestellt werden – daher gibt es viele überregionale Kontakte. Zum zweiten hat die Kommunikation durch Mobiltelefone, ab 2012 auch zunehmend durch soziale Netzwerke im Internet, eine schnelle Ausbreitung ermöglicht. Die Probleme auf den Baustellen waren sehr ähnlich: schlechte Verpflegung, die häufig zu Vergiftungen führte, schlechte Unterkünfte, schlechte oder keine Transportmöglichkeiten zum Arbeitsort, Löhne zwischen ein und zwei Mindestlöhnen, nur alle drei Monate Urlaub, oft auch räumliche Isolation durch die Arbeit in entlegenen Gegenden. Die Muster des Protests, umfangreiche Sachbeschädigung, auch Steinwürfe gegen GewerkschafterInnen und UnternehmerInnen (in Suape im August 2012 und in Belo Monte im November 2012) sind seit den Streiks auf Baustellen Anfang der 1980er Jahre unverändert, ebenso die Reaktionen des Staates: schneller Einsatz von Militär oder anderen Spezialkräften (Campos 2014). Historisch neu sind jedoch die große Zahl der Streikenden im Bausektor und die gleichzeitigen Aktionen in mehreren Bundesstaaten. Die Streiks dauerten im Schnitt zwischen ein bis zwei Wochen (Véras 2013; 2014). Die Gewerkschaften nutzten die Streiks als Grundlage für Verhandlungen, bei denen sie Lohnerhöhungen zwischen 10 und 13 % aushandeln konnten. Die hohe Zahl von Streiks im Jahr 2011 geht zu einem Teil auf mehrmalige Streiks an denselben Orten zurück, da die Unternehmen die Lohnerhöhungen oft nicht auszahlten und diese erst durch erneute Streiks durchgesetzt werden konnten. Andere Baustellen, z.B. die größte Einzelbaustelle für den Mega-Staudamm in Belo Monte mit aktuell 35.000 ArbeiterInnen, traten erst 2012 nach Baubeginn in mehrere Streiks. In Belo Monte verbündeten sich die streikenden ArbeiterInnen mit den Bewegungen gegen den Bau des Staudamms, die bereits seit den 1980er Jahren aktiv waren und sich aus Indigenen, FischerInnen, ÖkologInnen und anderen von Vertreibung Betroffenen zusammensetzen.[11] Um diesen Bündnissen etwas entgegenzusetzen, installierte die PT‑Regierung ab dem Sommer 2012 eine permanente Einheit von 500 Soldaten der Nationalgarde auf der Baustelle – diese beteiligte sich auch außerhalb der Streiks intensiv an der Unterdrückung der BauarbeiterInnen.[12] Belo Monte wurde neben Suape und Jirau zum dritten Fokus der Streiks auf den Baustellen. 2014 kamen die Baustelle für den petrochemischen Komplex COMPERJ im Bundesstaat Rio de Janeiro und eine neue Baustelle in Pecém bei Fortaleza hinzu: Der südkoreanische Stahlkonzern POSCO baut hier das zweitgrößte Stahlwerk der Welt mit 10.000 BauarbeiterInnen. Während eines einmonatigen Streiks um die Bezahlung der Anreisezeit zur Arbeit versuchte POSCO im Juni 2014, den Streik mit koreanischen BauarbeiterInnen zu brechen, woraufhin die Streikenden Fahrzeuge der Firma und ein Auto der Militärpolizei anzündeten;[13] die Militärpolizei nahm daraufhin 68 Streikende fest.

Die Streiks auf den Baustellen erzielten unter den Arbeitskämpfen der letzten Jahre eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit – wegen der hohen Beteiligung an einzelnen Orten, der Organisation von unten und den spektakulären Kampfformen. Insgesamt kam der größte Teil der sonstigen Streikenden in den Jahren ab 2010, die im Vergleich zu den Vorjahren ein hohes Niveau an Beteiligung auswiesen, aus dem öffentlichen Dienst – diese Streiks waren aber mit Ausnahme des einmonatigen nationalen Streiks im August 2012 öffentlich weniger sichtbar. Nach der Protestwelle im Sommer 2013 wurden größere Streiks in den Großstädten geführt, oft gegen die etablierten Gewerkschaften. Dazu gehören die Streiks der LehrerInnen in Rio de Janeiro im Herbst 2013, die Proteste der ÖlarbeiterInnen im Herbst 2013 sowie eine Streikwelle der BusfahrerInnen in Rio de Janeiro, São Paulo, Recife, Belem und Fortaleza im Laufe des Jahres 2014. Besondere landesweite Sympathie genoss der Streik der StraßenfegerInnen in Rio de Janeiro während des Karnevals 2014, die gegen ihre Gewerkschaft und gegen die Drohungen, sie mit Waffengewalt zur Arbeit zu zwingen, hohe Lohnerhöhungen durchsetzen konnten.

Die Streiks auf den Baustellen sind eine entschlossene und bereits über mehrere Jahre anhaltende Initiative der BauarbeiterInnen, die vom Aufstieg anderer Gruppen der ArbeiterInnen-Klasse bisher ausgeschlossen waren. Besondere Empörung bei den ArbeiterInnen hat hervorgerufen, dass es sich bei den meisten der PAC-Baustellen um Bauten im Auftrag der Regierung handelte, die weder die gesetzlichen Sicherheitsvorschriften durchsetzte noch sich um die Infrastruktur in den kleinen Orten, an denen die Baustellen lagen, kümmerte. Auch die städtischen ArbeiterInnen wie LehrerInnen oder BusfahrerInnen arbeiten im öffentlichen Auftrag, auch wenn die Busunternehmen in der Regel private Betriebe sind. Sie arbeiten unter schlechten Bedingungen und für geringe Löhne. Daher wurde ein großer Teil dieser Arbeitskämpfe von den beteiligten ArbeiterInnen auch als Konflikt mit dem Staat interpretiert,[14] nicht zuletzt auch deshalb, weil der Staat bei Gesetzesverletzungen – wie der illegalen Beschäftigung hunderter koreanischer BauarbeiterInnen[15] – nicht einschritt, jedoch durchaus bei Streikaktionen der ArbeiterInnen.

Ergebnisse der Streiks auf den Baustellen waren mehrmalige Lohnerhöhungen oberhalb der Inflationsrate und Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen, vor allem bei Transport, Unterkünften, Urlaubsregelungen und der Verpflegung. Die mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen werden zwar vom Arbeitsministerium dokumentiert, können jedoch wegen zu langsamer Abläufe im Justizwesen kaum durchgesetzt werden.[16] Für die Organisierung der ArbeiterInnen auf den Baustellen ist es bezeichnend, dass aus den Basiskomitees, die die Streiks organisiert haben, keine größeren Vernetzungen entstanden. Die trotzkistische Gewerkschaft Conlutas leistete an einigen Orten konspirative Arbeit, dies aber nicht flächendeckend.[17] Dies hängt eng mit der Marginalisierung der ArbeiterInnen in diesem Sektor zusammen, aber auch mit den durch die Wanderarbeit bedingten kurzfristigen Zeithorizonten der Lebensplanung. Dennoch ist es ein bemerkenswertes Phänomen, dass die Gruppe der BauarbeiterInnen, die als unqualifizierte ArbeiterInnen gelten, eine jahrelang andauernde Streikwelle ohne festen organisatorischen Rahmen durchhalten konnte, die damit auch zum Bezugspunkt für andere Arbeitskämpfe wurde.

Straßenproteste im Sommer 2013 – Fahrpreiserhöhungen und Polizeigewalt

Die bereits erwähnte Klemme der durch die PT geführten Regierung zwischen Protesten „von unten“ und einer sich mehr und mehr in alte Klassenvorurteile zurückziehenden Mittelklasse im Bunde mit den alten Eliten prägte auch die Straßenproteste, die im Juni 2013 begannen. Die von linken AktivistInnen aus dem studentischen und anarchistischen Spektrum gegründete und angeführte Basisbewegung für einen kostenlosen Nahverkehr wurde auf einer Demonstration in São Paulo massiv von der Polizei angegriffen, was große Empörung und Solidarisierungseffekte hervorrief. Dabei spielten die rechtsgerichteten Mainstream-Medien, die geradezu feindlich gegen die PT‑Regierung eingestellt sind, eine Schlüsselrolle. Hinzu kam, dass bei einem der ersten Polizeieinsätze ein Reporter einer der etablierten Tageszeitungen erheblich verletzt wurde. Insofern wuchsen die Straßenproteste durch eine informelle Allianz von linken AktivistInnen und rechtsgerichteten Medien. Bei den Protesten wurden zunächst vor allem Forderungen nach einem Ausbau der öffentlichen Infrastruktur gestellt, die klassischen Forderungen der brasilianischen Linken: Ausbau des öffentlichen Gesundheits‑ und Bildungssystems, zudem ein preiswerterer und besser ausgebauter Nahverkehr (Gohn 2014: 431, 433). Die Straßenproteste dehnten sich schnell in ganz Brasilien aus. Zum Teil waren auch die PT und andere linke Parteien an der Organisation beteiligt, die oft bestrebt waren, diese nur als Kundgebungen abzuhalten, zum Teil wurden die Proteste von der anarchistischen Szene organisiert. Bereits nach einer Woche wurden Forderungen nach einem Kampf gegen die Korruption auf den Demonstrationen stärker. In Rio de Janeiro und São Paulo griffen in dieser zweiten Phase anarchistische wie rechte Gruppen Angehörige von traditionellen linken Organisationen an, sowohl der PT, Gewerkschaften wie auch der trotzkistischen Parteien PSOL und PSTU – alle, die irgendwie rot getönte Fahnen trugen. Elisio Estanque verweist darauf, dass in São Paulo mit zunehmender Größe und Dauer der Bewegung der Anteil gut Qualifizierter aus reichen Stadtteilen stieg; dies fällt mit der Periode der gewaltsamen Angriffe gegen Linke zusammen (Estanque 2014: 71).

Alle politischen Strömungen versuchten, von der Bewegung zu profitieren, inklusive der Regierung selber. Die Präsidentin und der PT übten sich in einer erstickenden Umarmung der Bewegung: Die kleinen linken Parteien begrüßten sie genauso wie die rechte Opposition und die Anarchisten versuchten vergeblich, ihre anfängliche Dominanz in den Bewegungen aufrecht zu erhalten. In einer dritten Phase richteten sich die Demonstrationen schließlich gegen die Austragung der Fußballspiele des Confederations Cup. Die Veranstaltung der Männer-Fußball-WM in Brasilien steht symbolisch für das Bündnis der linken Partei PT mit der alten Elite, da von den Bauvorhaben im Rahmen der WM, die auch Teil des PAC waren, vor allem die großen brasilianischen Baukonzerne profitierten, die sich in der Diktatur etabliert hatten. Auch wurde die Männer-Fußball-WM genutzt, um Armenviertel abzureißen und neue Straßen für den Autoverkehr zu bauen.

Wie mehrere Untersuchungen gezeigt haben (Estanque 2014; Gohl 2014), waren die an den Demonstrationen Beteiligten überdurchschnittlich gebildet im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Laut einer Umfrage von IBOPE (Instituto Brasileiro de Opinião Pública e Estatística) in acht Großstädten gehörten 15 % der Protestierenden zu den Armen aus Familien mit bis zu zwei Mindestlöhnen, 30 % aus Familien mit zwei bis fünf Mindestlöhnen Monatseinkommen, 32 % mit sechs bis zehn Mindestlöhnen und 23 % mit über 10 Mindestlöhnen. Damit sind gut verdienende Teile der Bevölkerung deutlich überrepräsentiert und Arme deutlich unterrepräsentiert.[18]

Bei den Auseinandersetzungen mit der Polizei dominierten eher TeilnehmerInnen aus den verarmten Vorstädten, die aber insgesamt nur eine kleine Minderheit darstellten. In Brasilien gab es durch den Anstieg des Konsumniveaus vieler Angehöriger der ArbeiterInnen-Klasse bereits in den letzten Jahren eine umfangreiche Debatte über die Existenz einer „neuen Mittelklasse“.[19] Estanque betrachtet die Demonstrationen im Sommer 2013 als ein Zusammentreffen von Angehörigen der Mittelklasse und von ArbeiterInnen, die sich subjektiv wegen eines ähnlichen Konsumniveaus der Mittelklasse zuordnen, sich aber von ihr aufgrund ihrer unsicheren materiellen Situation unterscheiden (Estanque 2014: 54). Dabei hebt er hervor, dass die enorme Fragmentierung der ArbeiterInnen-Klasse, „Frucht des Metabolismus des globalen Kapitalismus“ (ebd.: 59, Übersetzung J.N.), auch mit einer enormen Fragmentierung der Massenbewegung im Sommer 2013 einherging – die einzelnen Bestandteile bilden laut Estanque nur prekäre und punktuelle Allianzen (ebd.: 59; Scherer-Warren 2014: 427), oder wie Maria da Glória Gohn es formuliert: „Einheit ist unmöglich.“ (2014: 435; Übersetzung J.N.)

Insgesamt sorgten die Straßenproteste für eine allgemeine Mobilisierung und Politisierung, die auch die Gewerkschaften noch im Laufe des August 2013 für eine erfolgreiche Mobilisierung gegen ein Gesetzesvorhaben zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse nutzen konnten. Bei den LehrerInnen-Streiks in Rio de Janeiro im September 2013 trafen schließlich zum ersten Mal die in den vorherigen Monaten erprobten Aktionsformen des Black Bloc[20] (Gohn 2014: 433) mit dem Arbeitskampf einer Berufsgruppe zusammen – auch das sorgte für größere Aufmerksamkeit für die Streiks der LehrerInnen. Während der Austragung der Männer-Fußball-WM im Sommer 2014 konnten die Straßenproteste nicht mehr ähnliche Menschenmassen mobilisieren – die Dynamik der diffusen Bewegung hatte sich verlaufen und Proteste wurden von der dieses Mal gut vorbereiteten Polizei konsequent unterdrückt – genauso wie die einzigen während der WM stattfindenden Streiks von BauarbeiterInnen in Fortaleza und in Pecém im Norden des Landes.

Die Straßenproteste brachten die Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung zum Ausdruck, die zwar seit 2003 wesentliche Verbesserungen der Situation der Ärmsten erreichen konnte, aber keine grundlegende Transformation des Einflusses der alten politischen Eliten und der Eigentums‑ und Machtverhältnisse versucht hat. Die Allianz der PT mit dem großen Kapital hatte ihre spezifischen Grenzen und die Probleme im öffentlichen Nahverkehr stehen symbolisch dafür: In großen Städten wie São Paulo sind vor allem die ärmeren Bewohner auf Busse angewiesen, da ihre Stadtviertel meist nicht an die U‑Bahn oder Vorortzüge angeschlossen sind – entsprechend verlängern sich die Arbeitswege mit einer Zunahme des Individualverkehrs. Der Streik im öffentlichen Dienst 2012 hingegen drehte sich zentral um die Bezahlung von LehrerInnen und Angestellten der Universitäten – auch hier sind die Investitionen nicht ausreichend. Besonders die jüngere Generation der heute 20-Jährigen ist mit PT‑Regierungen aufgewachsen und stellt neue Forderungen, die über die Beseitigung der absoluten Armut hinausgehen. Angesichts des mauen Wachstums und häufiger fauler Kompromisse der PT‑Regierungen scheint aber eine weitere Verbesserung der Lebensverhältnisse außer Reichweite.

Streiks und Straßenproteste als Katalysatoren

In Brasilien haben beide Protestformen, Streiks und Straßenproteste, stärker aufeinander Bezug genommen, als dies in Indien der Fall war. Auch wenn in Brasilien die soziale Zusammensetzung beider Protestbewegungen unterschiedlich war und es keine unmittelbaren Bezüge gab, war doch eine gemeinsame Stoßrichtung erkennbar: Die Unzufriedenheit mit der Form der Industrialisierung und des Wirtschaftswachstums standen im Vordergrund. Angesichts der ungebrochenen Dominanz der konservativen Eliten in Baukonzernen, Agrobusiness und in der politischen Elite insgesamt unterscheidet sich das aktuelle brasilianische Entwicklungsmodell nur in wenigen Aspekten von dem während der Militärdiktatur und der neoliberalen Periode in den 1990er Jahren verfolgten Modell. Gleichzeitig ist es bezeichnend, dass sich weder durch die Massenstreiks noch durch die Straßenproteste neue dauerhafte Organisationen der armen Mehrheit gebildet haben. Die beiden linken Parteien PSOL und PSTU haben nach den Protesten zwar einige neue Mitglieder gewonnen – zu den Wahlen konnten beide Parteien jedoch nur ca. 2 Millionen WählerInnen mobilisieren, etwa 2 %. Auch die linke Gewerkschaft Conlutas gewann Mitglieder, organisiert aber bisher nicht mehr als 5 % aller gewerkschaftlich Organisierten. Insofern ist trotz der medial präsenten Proteste und Streiks keine neue politische Strömung entstanden, und viele der NGOs und Basisbewegungen orientieren sich nach wie vor an der Regierungspartei PT und versuchen, neu entstehende Spielräume in den Institutionen zu nutzen.

Indien und Brasilien: Ähnliche Mobilisierungsmuster, unterschiedliche politische Kontexte

In beiden Ländern ähneln sich Abfolge und soziale Zusammensetzung der Proteste: Den stärker von den Mittelklassen geprägten Straßenprotesten gehen längere Streikbewegungen von ArbeiterInnen in der Industrie voraus. In Brasilien kamen noch die Streiks im öffentlichen Sektor hinzu. Insofern kann vermutet werden, dass die sich zunächst vor allem im Arbeitsbereich artikulierenden sozialen Bewegungen schließlich einen Widerhall in den Mittelklassen gefunden haben, die durch stärker diffuse Straßenproteste ihre Unzufriedenheit geäußert haben. Die oft getroffene Zuschreibung, dass sich vor allem die stärker prekären Fraktionen des Proletariats in Straßenprotesten organisieren und artikulieren (vgl. Saul 2014), trifft hier nicht zu – diese waren dagegen treibende Kräfte der Massenstreiks.

Neben diesen Gemeinsamkeiten der Proteste in Indien und Brasilien gibt es wichtige Unterschiede: Die AutomobilarbeiterInnen in Indien sind durch den Einfluss maoistischer und bolschewistischer Organisationen erheblich stärker politisiert und verbindlicher organisiert als die BauarbeiterInnen in Brasilien. Dies ist dadurch möglich, dass es in Indien eine stärkere Tradition von unabhängigen Gewerkschaften gibt, die oft auch unpolitisch oder verlängerter Arm des Managements sind, aber dieses Organisationsmodell erlaubt auch linke Varianten. In Brasilien dagegen ist aufgrund der Migration der ArbeiterInnen vor allem aus dem ländlichen Nordosten und ihrer geringeren Ausbildung das politische Bewusstsein der BauarbeiterInnen weniger ausgeprägt. Die starke Präsenz der rechten Gewerkschaft Força Sindical auf den Großbaustellen verstärkt diese Entpolitisierung. Trotz der Tradition der CUT gibt es aktuell auf den Großbaustellen nur sehr zaghafte Ansätze eines social movement unionism. Das ist anders auf Baustellen in den Städten (etwa für Einkaufszentren) oder bei anderen städtischen ArbeiterInnen, die stärker im Kontakt mit anderen Berufsgruppen stehen. Die oft abgelegenen und kleinen Orte, an denen die Großbaustellen sich befinden, erleichtern die Marginalisierung der ArbeiterInnen – dieses Vakuum wird durch die militanten Aktionsformen gefüllt. Auch in Belo Monte, wo es zum Bündnis mit GegnerInnen des Staudamms kam, war dies nicht anders – beide Gruppen sind dort inzwischen durch die erhebliche staatliche Repression in einer traditionell sehr von Gewalt geprägten Region nur wenig handlungsfähig.

Dagegen waren die Straßenproteste in Indien erheblich weniger politisiert als in Brasilien, da sie sich exklusiv auf Korruption als vermeintlichem „Grundübel“ der indischen Gesellschaft konzentriert haben. Bei den Straßenprotesten in Brasilien war Korruption nur ein Thema von vielen – Fahrpreise für den öffentlichen Nahverkehr, Polizeigewalt und öffentliche Dienste insgesamt waren weitere Themen, die den Protesten eine klarere Richtung im Hinblick auf den Ausbau des Wohlfahrtsstaates gaben. Den Straßenprotesten war darüber hinaus gemeinsam, dass sie im Gegensatz zu den Streiks nicht von langer Dauer waren – sie kamen so überraschend, wie sie gingen. In Brasilien haben sich die Streiks im Bausektor, aber auch bei den städtischen ArbeiterInnen über das ganze Land verteilt, ebenso die Straßenproteste. In Indien gab es bei den Streiks und bei den Straßenprotesten eine starke Fokussierung auf die Region New Delhi. Die Anti-Korruptionsproteste fanden zwar in ganz Indien statt und es gab Vorläufer dieser Proteste im Bundesstaat Maharashtra in den 1990ern und 2000er Jahren, aber die medienwirksamen Fastenaktionen von Hazare und der Polizeiangriff im Juni 2011 fanden in New Delhi statt. Die Streiks im Automobilsektor haben sich ebenfalls über das ganze Land verteilt, waren aber nirgendwo so intensiv und so häufig wie in der Umgebung von New Delhi. Beide Werke des größten Produzenten Maruti Suzuki befinden sich südlich von New Delhi und dort fand der bei Weitem spektakulärste Arbeitskampf der letzten Jahre statt. Insofern ist in Indien eine gewisse Zentralisierung des Protestgeschehens auf die Hauptstadtregion zu verzeichnen.

Was die klassenspezifischen Artikulationsformen der Streiks und Proteste angeht, ist bei den Massenstreiks eher eine Art Stellungskrieg mit gewaltsamen Ausbrüchen zu verzeichnen. Die ArbeiterInnen machen kleine Fortschritte bei der Verbesserung der Lebensbedingungen, erwarten aber deutlich mehr. Durch Kündigungswellen nach Streiks und den Einsatz der Staatsgewalt gegen Streikende entsteht eine Patt-Situation, die wahrscheinlich nur durch flächendeckende gemeinsame Streiks der ArbeiterInnen durchbrochen werden kann, die bisher schwer zu organisieren sind. Von den großen Gewerkschaftsverbänden ist wegen politischer Spaltungen, aber auch angesichts mangelnder Konfrontationsbereitschaft in diesem Sinne wenig zu erwarten.

Die Straßenproteste der Mittelklassen haben ein anderes Erscheinungsbild: Hier werden eher schnelle Veränderungen erwartet, was das schnelle Abflauen der Proteste erklärt – und die Forderungen sind weniger konkret und einheitlich. Im Fall der indischen Anti-Korruptions-Bewegung waren die Forderungen auf ein bestimmtes Gesetz, den Jan Lokpal Bill, fokussiert. Als diese aber in einer verwässerten Form verabschiedet wurde, fehlte der Bewegung ein klares Ziel, das über die Nachjustierung des Gesetzes hinausging.

Ein dauerhaftes „Mitte-Unten“-Bündnis gelang weder in Indien noch in Brasilien, dafür wäre eine die Interessen beider Klassen artikulierende und verbindende größere Organisation oder Bewegung notwendig. In beiden Ländern hatten die Streiks in der Industrie keine große Anziehungskraft für die Mittelklassen, insofern ist die ArbeiterInnen-Klasse in beiden Ländern weit entfernt von einer politischen oder ideologischen Hegemonie über die Mittelklassen. Umgekehrt hatten aber auch die Straßenproteste wenig Anziehungskraft für die ArbeiterInnen in Brasilien. In Indien bildeten die Anti-Korruptionsproteste trotz ihres engen politischen Fokus zumindest für Teile der ArbeiterInnen-Klasse einen Bezugspunkt – vor allem durch die Existenz von bekannten Führungsfiguren wie Hazare und die Formierung der AAP als Parteiprojekt. In Brasilien war die einzige Organisation, die in den Straßenprotesten und den Streiks der BauarbeiterInnen kontinuierlich präsent war, die trotzkistische Gewerkschaft Conlutas. Sie ist jedoch noch zu klein, um für größere Teile der Bevölkerung einen Bezugspunkt zu bilden.

Bei den Straßenprotesten in beiden Ländern wurde auch deutlich, dass es den Teilnehmenden vor allem um eine höhere Lebensqualität ging, um die Teilhabe am Wohlstand – nicht um eine radikale Veränderung der Gesellschaft. Gohn formuliert für den brasilianischen Fall treffend: „Sie lehnen den Staat nicht ab, sondern sie wollen einen effizienteren Staat.“ (Gohn 2014: 436)[21] Zu dieser politischen Enthaltsamkeit gehört auch, dass das von Alan Touraine als zentral bezeichnete Merkmal der neuen sozialen Bewegungen, die gemeinsame Identität, bei den Straßenprotesten in Brasilien abwesend war (Touraine 1985; Estanque 2014: 55), Analog gilt dies auch für die Anti-Korruptions-Bewegung in Indien.

Was ergibt sich aus dieser neuen und unklaren Gemengelage für eine marxistische Klassentheorie? Estanque verwendet den Begriff „Mittelklasse“ und stellt ihn zugleich infrage, da mit ihm im 20. Jahrhundert nicht mehr die von Karl Marx und Friedrich Engels gemeinten klassischen Kleineigentümer beschrieben werden können (Estanque 2014: 60, 76), die in den Revolutionen um 1848 zwar kämpften, aber schnell den Rückzug antraten, wenn es um die Machtfrage ging (Engels 1852; Marx 1852). Vielmehr handele es sich heute um (ehemalige) ArbeiterInnen, die durch Klassenkämpfe um den Ausbau des Wohlfahrtsstaats auf ein Konsumniveau aufgestiegen seien, dass den Mittelklassen ähnelt, die aber nicht den habituellen Elitismus der (brasilianischen) Mittelklassen teilen und inzwischen von häufigem Jobwechsel und allgemeiner Unsicherheit geprägt seien (Estanque 2014: 58). Insofern handelt es sich eher um eine Art ArbeiterInnen-Aristokratie – und von dieser Prägung und der nie völlig abgesicherten Situation leitet Estanque auch die Bereitschaft zur Rebellion ab – aber sie seien auch keine Avantgarde oder Stimme der Subalternen (ebd.: 76; entsprechend für Indien auch Sitapati 2011). Dennoch muss festgehalten werden, dass diese neuen Mittelklassen eine gewisse Gemeinsamkeit mit den von Marx und Engels so gehässig dargestellten KleinbürgerInnen haben: Zum einen die von Estanque betonte politische Orientierungslosigkeit, die er auf die Fragmentierung und Prekarität der Arbeitswelt zurückführt, und die Form der sozialen und politischen Bewegung, die kurz und scheinbar entschlossen aufflammt, um dann schnell in sich zusammenzufallen (Sitapati 2011: 44). Estanque spricht in dieser Hinsicht von einer Inkongruenz zwischen der sozialen Zusammensetzung der ArbeiterInnen-Klasse und ihrer soziopolitischen Artikulation (ebd.: 60) – ignoriert aber vollständig die Streikbewegungen in Brasilien. Eine weitere Gemeinsamkeit mit der „alten Mittelklasse“ der KleinbürgerInnen ist die besondere Bedeutung moralischer Werte (Sitapati 2011: 43; Estanque 2014: 75; Gohn 2014: 433). Gemeinsam ist den „alten“ und den „neuen“ Mittelklassen schließlich ihre Anfälligkeit dafür, von linken zu rechten Positionen umzuschwenken (Engels 1852: 10). Dies kann zumindest für den brasilianischen Fall konstatiert werden: Während des Wahlkampfes im Sommer und Herbst 2014 stellte sich heraus, dass das sozialstrukturelle Profil der Demonstrierenden vom Sommer 2013 exakt der WählerInnenschaft der rechten Umweltschützerin Marina da Silva[22] entsprach, die während des Wahlkampfes zum ersten Wahlgang die Hauptgegnerin von Rousseff war (Gorczeski & Ribeiro 2014). Darüber hinaus ist angesichts des knappen Ausgangs der Wahl anzunehmen, dass im zweiten Wahlgang viele der Stimmen für Marina da Silva an Aecio Neves, den Kandidaten der rechten Opposition, gingen. In Indien bildet die Mittelklasse nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung und ist daher weniger ausschlaggebend für die Wahlen – aber angesichts des Misserfolgs der AAP bei den Wahlen 2014 ist es plausibel, dass auch die Mittelklassen in Indien zu einem großen Teil ihre Stimmen der rechten Partei BJP gaben.

Auffällig ist in jedem Fall die offenkundige Trennung beider Formen von Bewegungen, Streiks und Straßenproteste, die in der Regel auch bei den progressiven Intellektuellen durchgehalten wird. Offenkundig waren Themen aus der Arbeitswelt auf den Straßenprotesten in Indien und Brasilien komplett abwesend. In beiden Ländern schienen sich in den letzten Jahren zwei Blöcke des Protests herauszubilden: a) Massenstreiks, in denen Festangestellte und prekäre ArbeiterInnen zusammen agierten, und in denen die prekären und/oder niedrig entlohnten ArbeiterInnen eine treibende Kraft darstellten, b) Straßenproteste, die von den heterogen zusammengesetzten Mittelklassen dominiert wurden. Damit ist eine rigorose Trennung von „Proletariat“ und „Prekariat“ bzw. „prekären Bevölkerungsgruppen“, wie sie einige Theoretiker formulieren (Saul 2014; Standing 2014), empirisch auf der Handlungsebene nicht durchzuhalten – es sei denn, man begreift das Prekariat, wie dies Estanque (2014) andeutet, als städtische Angestellte, die mehr verdienen als IndustriearbeiterInnen, aber von hoher Jobunsicherheit geplagt sind. Die von John S. Saul vorgeschlagene Trennung von Proletariat und Prekariat macht auch insofern keinen Sinn, da die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Proletariats sich eben um die Unsicherheit der Lebensbedingungen dreht (Engels 1847). Sie macht aber auch in den speziellen Fällen von Indien und Brasilien keinen Sinn, da der übergroße Teil der ArbeiterInnen-Klasse unter informellen und unsicheren Bedingungen arbeitet – auch dann, wenn es sich um Beschäftigung im sogenannten formellen Sektor handelt, der in beiden Ländern weiterhin von Informalität geprägt ist, etwa durch unregelmäßige und unvollständige Entlohnung, fehlenden Kündigungsschutz, fehlende Sicherheitsvorkehrungen und hohe gesundheitliche Belastung am Arbeitsplatz.

Auf der Handlungsebene macht es Sinn, neben den ArbeiterInnen-Klassen einen zweiten Block innerhalb der Mittelklassen zu definieren, der sich aus öffentlichen Angestellten, urbanen Angestellten mit Bildungsabschluss sowie höheren Angestellten in der Privatwirtschaft zusammensetzt. Für diesen spielen Statusgefühle eine große Rolle (Estanque 2014) und es macht durchaus Sinn, einen Teil dieser durch Einkommen oder Konsumniveau definierten Mittelklassen auch der ArbeiterInnen-Klasse zuzurechnen, wie Estanque dies vorschlägt. Auf der politischen Ebene spielen aber die Statusgefühle, die diese Gruppen einen, durchaus eine Rolle. Dieser Block ist auf der Handlungsebene aber wesentlich fragiler und verfügt über eine vielfältigere und kaum fassbare politische Identität als der Block der ArbeiterInnen-Klassen. Vinay Sitapati (2011) macht für die Anti-Korruptions-Bewegung in Indien gleich vier ideologische Strömungen aus, während Estanque und Gohn den völlig disparaten Charakter der Straßenproteste in Brasilien betonen.

Interessant ist, dass sich in den zwei wichtigsten brasilianischen Großstädten, Rio de Janeiro und São Paulo, nach den Straßenprotesten ein allerdings nicht einmal ein Jahr währendes Bündnis von unterbezahlten städtischen ArbeiterInnen mit Teilen der Straßenproteste und Studierenden gebildet hatte. Dieses reichte von der Unterstützung der LehrerInnen in Rio Janeiro durch den Black Bloc, zum Kampf der ÖlarbeiterInnen gegen Privatisierung (beides im September/Oktober 2013) über den Streik der Straßenfeger in Rio de Janeiro im Februar 2014 bis hin zum Streik der Metroangestellten in São Paulo kurz vor der Männer-Fußball-WM im Juni 2014. Diese Koalitionen könnten ein neues Modell bilden, haben sich aber bisher nicht in anderen Städten etablieren können. Anfang Januar 2015 kehrten dagegen überraschend die AutomobilarbeiterInnen Brasiliens auf die historische Bühne zurück: Bei VW do Brasil waren 3.000 Entlassungen geplant und 13.000 ArbeiterInnen traten für elf Tage in den Streik. Als das Unternehmen weitere Kundgebungen auf dem Werksgelände verbieten lassen wollte, blockierten die VW-ArbeiterInnen und weitere 7.000 AutoarbeiterInnen aus umliegenden Fabriken für einen Tag eine der Hauptverkehrsachsen: Am nächsten Tag wurden die Entlassungen zurückgenommen. Am 20. Februar 2015 traten 5.000 ArbeiterInnen bei General Motors in den Streik, ebenfalls in São José dos Campos bei São Paulo, auch hier drohen 800 Entlassungen; der Streik dauert bei Redaktionsschluss noch an.

Auch in Indien kam es zu einer Überraschung, da die AAP bei Neuwahlen in New Delhi im Februar 2015 67 von 70 Sitzen gewann: ein wichtiges Zeichen dafür, dass die BJP nach ihren Erdrutschsiegen in den wichtigen Staaten Haryana – dort befindet sich ein großer Teil des Industriegürtels um New Delhi – und Maharashtra mit den Zentren Mumbai und Pune nicht unangefochten dominiert. Die Streiks der FabrikarbeiterInnen finden in Indien in einem politischen Vakuum statt, das vom rapiden Niedergang der kommunistischen Parteien und der Kongresspartei geprägt ist: Die ArbeiterInnen-Klasse in Indien ist, im besten Sinne des Wortes, politisch nicht repräsentiert.

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Anschrift des Autors:
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Peripherie, Nr. 137, 35. Jg. 2015, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 74-102
Bestelladresse: info@zeitschrift-peripherie.de



[1]    Sitapati 2011; Banerjee 2011; Visvanathan 2012; Estanque 2014.

[2]    Die Form -Innen wird auch dann benutzt, wenn es sich um Gruppen von ArbeiterInnen handelt, die ausschließlich aus Männern bestehen, wie im Fall der ArbeiterInnen bei Maruti Suzuki sowie der BauarbeiterInnen in Brasilien.

[3]    Der Anteil der informellen Arbeit beträgt in Indien über 90 % (Mukherjee 2009: 5). Bereits zwischen 1984 und 2000 gab es in der Metallindustrie ein bemerkenswertes Wachstum des informellen Sektors (ebd.: 63, 69, 75).

[4]    Der überwiegende Teil der LeiharbeiterInnen in Indien werden als contract workers bezeichnet, die über contractors an andere Firmen verliehen werden. Sie arbeiten jeweils maximal sechs Monate für eine Firma, müssen dann sechs Monate pausieren und werden dann häufig von derselben Firma wieder angestellt, um dann erneut zu pausieren. Direkt von großen Firmen wie Maruti angestellte LeiharbeiterInnen werden demgegenüber als casual workers oder temporary workers bezeichnet. Die Festangestellten heißen permanent workers. Auch in Hindi als Hauptverkehrssprache werden in der Regel die englischen Begriffe verwendet.

[5]    „Then, in the Rico factory, there was an attack by paid goones, one worker was dead, another is missing since then. Before that, the workers were attacked by the police, and as a response 25.000 downed their tools for one day in Gurgaon. After the murder, there was a demonstration and 100.000 were on strike for a day [...].“ (Shyambir Shukla, Inqulabi Mazdoor Kendra [Revolutionary Workers Center], Interview am 25. 10. 2013)

[6]    „It was a constant class war. Permanent workers were an organised force but the contract workers always remain insecure about their job. And the management tried very hard to intimidate a section of contract workers using all sorts of tricks. But the uniqueness of the Maruti Suzuki struggle was that we could strike a unity between contract workers and permanent workers. So there is an emerging unity between contract and permanent workers, it is a sign of upcoming danger for capitalists.“ (Maruti Worker 9, Interview am 26. 1. 2014)

[7]    „Maruti union was an independent union but we didn´t have any experience of trade union activities. Initially we didn´t know the character of these big trade unions like HMS and AITUC. They supported us and we too accepted their support. But later on there were some compromises with the company and they were handled by these unions. Later on we could see the double game of these unions.“ (Maruti Worker 9, Interview am 26. 1. 2014)

[8]    „The wage was below the subsistence and if you look at the inflation and market rates of Gurgaon, it is a very expensive area and it becomes very difficult to survive and run a family at such a low wage.“ (Maruti Worker 9, Interview am 26. 1. 2014)

[9]    „The very first problem in the factory was that they gave no holiday to the workers. They tortured them. They did not even allow the workers to go to the bathroom.“ (Maruti Worker 2, Interview am 5. 12. 2013) „Many of the strikes that took place were as a revolt against the brutal working conditions and the work pressure [...] And one main problem was about leave. If we didn´t work for one day they used to cut the leave for whole month. [...].“ (Maruti Worker 9, Interview am 26. 1. 2014) „If we used to get late by one second then it was considered as half a day (of wages, J.N.) and on the other hand there was no pay for extra work [...] When the financial crisis was going on at that time all workers were forced to do overtime. At 9 am we used to get seven and a half minutes tea break and so you have to have your tea, snacks or whatever [...] within that seven and a half minutes.“ (Maruti Worker 8, Interview am 26. 1. 2014)

[10]  Endesa ist der größte private Energieversorger in Lateinamerika.

[11]  Interviews mit ArbeiterInnen 1 und 2 bei Consorcío de Construcao de Belo Monte (CCBM), 11. 9. 2014; Antonia Melo, Movimento Xingu Vivo para Sempre, 10. 9. 2014; Jose Geraldo, Movimento dos Atingidos por Barragens, 15. 9. 2014.

[12]  Interviews mit Alexandre Sampaio, Anwalt bei AIDA (Asociación Interamericana para la defensa del ambiente), 10. 9. 2014; Thais Santi Cardoso da Silva, Procuradora do Ministerio Público Federal, Altamira, 11. 9. 2014; Fernandes Fernandez, Anwalt für Arbeitsrecht, Altamira; Aurelio Ganzer, Secretaria da Presidencia da Republica, Altamira, 15. 9. 2014.

[13]  Interview mit ArbeiterIn 18 bei CSP (Companhia Siderurgica Pecém), 29. 9. 2014.

[14]  Interviews mit ArbeiterInnen 1 und 2 bei CCBM, 11. 9. 2014; ArbeiterIn 18 bei CSP, 29. 9. 2014.

[15]  Interview mit Francisco Gérson Marques de Lima, Bevollmächtigter beim Ministerio Público de Trabalho, Fortaleza, 10. 10. 2014.

[16]  Interview mit Luis Alves, Ministerio de Trabalho, Fortaleza, 7. 10. 2014; Francisco Gérson Marques de Lima.

[17]  Interview mit Ze Goutinho, Sindicato dos Trabalhadores na Industria da Construcão Civil de Belém, 3. 10. 2014.

[18]  Der Mindestlohn betrug im Jahre 2012 620 Real. Der Einkommensgruppe, die zwischen 300 und 1.000 Real verdient, gehörten 2012 54 % der Bevölkerung an, 8,5 % gehörten zu den extrem Armen, die von bis zu 70 Real im Monat leben, weitere 7,5 % gehören zu den Armen, die unter 300 Real verdienen. Damit verdienen 70 % der Bevölkerung unter zwei Mindestlöhnen – diese 70 % stellten jedoch nur 15 % der Demonstrierenden.

[19]  Souza 2010; Pochmann 2012; Neri 2012; Bartelt 2013

[20]  Die in Europa bereits in den 1970er und 1980er Jahren etablierte Protestform der schwarzen Blöcke wurde bei den Protesten in Brasilien im Sommer 2013 zum ersten Mal massenhaft aufgegriffen und hat sich seitdem etabliert.

[21]  „Não negam o Estado, mas querem um Estado mais eficiente.“ (Übersetzung J.N.)

[22]  Marina da Silva hat sich von der Mitkämpferin von Chico Mendes, der 1988 wegen seines Einsatzes für den amazonischen Regenwald ermordet wurde, zur Vertrauten von Lula und zeitweiligen Ministerin zur Gegenspielerin von Dilma Rouseff entwickelt – sie gehört inzwischen zu einer der konservativsten und größten Pfingstkirchen, der Assembleia de Deus, und vertritt stark wertkonservative Positionen.