Benjamin, sonst nichts

Zur Neuausgabe von Benjamins Kunstwerk-Essay

Historizität und Aktualität

Als Walter Benjamins Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit « 1936 auf Französisch in der Zeitschrift für Sozialforschung erschien, füllte er 26 Druckseiten. Burkhardt Lindners Edition des Essays im Rahmen der neuen Benjamin-Gesamtausgabe Werke und Nachlass ist 722 Seiten lang. Sie enthält alle drei Fassungen, die der veröffentlichten vorausgingen, dann diese selbst als vierte, und schließlich eine fünfte, an der Benjamin nach der Veröffentlichung weiter arbeitete, allesamt mit textkritischen Markierungen der Korrekturen, Streichungen und Zusätze. Öffnet man den dickleibigen Band, dann fällt der erste Blick auf eine durchgestrichene Seite. So wirkt die Ausgabe wie ein voluminöser Anhang, dem der Lesetext abhandengekommen ist. Mit allen Varianten, Zusätzen, Materialien, Briefwechseln und anderen Zeugnissen hat sie den Höhepunkt in der philologischen Erschließung von Benjamins Kunstwerk-Essay erklommen. Sie sieht aus, als sei der Text nur noch für ein historisch-kritisches Studium da. Trotzdem gibt sich Lindner von der Aktualität des Essays überzeugt.

Die historisch-kritische Lektüre eines Textes bringt allerdings stets seine historische Distanzierung mit sich. Je genauer die editorische Erschließung und historiographische Erforschung früherer geisteswissenschaftlicher Literatur, die heute immer weiter um sich greift, diese Literatur in ihrem geschichtlichen Zusammenhang verortet, desto zweifelhafter wird ihr Geltungsanspruch für die Gegenwart. Die ebenfalls fortschreitende Erschließung und Erforschung der Gegenstände, über die sie einst geschrieben wurde, bestätigt solche Zweifel. Je prinzipienschwerer sie auftritt, je unumstößlicher sie ihre Theoreme statuiert, je vermessener sie sich dagegen sperrt, als Sekundärliteratur relativiert zu werden, desto deutlicher wird ihre Obsoleszenz. Da andererseits die unaufhaltsame Vermehrung historischer Evidenz deren konzeptionelle Synthese durch eigenes Denken immer mehr erschwert, bedient man sich ihrer anachronistischen Begriffsprägungen weiterhin.

Benjamins Schriften bieten ein Beispiel dafür, wie die Sehnsucht nach theoretischer Synthese historiographischer Relativierung widersteht. Denn seit der ersten Gesamtausgabe von 1955 wurde dieser Autor als »Leitstern« (wie ihn Rolf Wiggershaus genannt hat) einer bis heute institutionell befestigten Tradition der Kritischen Theorie fixiert, die die neue Gesamtausgabe von Werk und Nachlass scholastisch aufbläht. Obwohl die reflexiv vertiefte Benjamin-Philologie ihre Texte beileibe nicht als schlechthin gültig auslegt, beschränkt sie sich darauf, sie um ihrer selbst willen zu studieren, statt sie an Hand ihrer Themen zu überprüfen. Beim Kunstwerk-Essay ist eine solche Überprüfung besonders angebracht, und zwar nicht nur deshalb, weil seine Thematik sich heute anders darstellt als zu Benjamins Zeiten, sondern vor allem deshalb, weil Benjamin sie bereits verfehlte, als er seinen Essay schrieb.

 

Kampf im Niemandsland

Gleich im ersten Abschnitt schreibt Benjamin seinen Behauptungen einen »Kampfwert« zu, der sie »zur Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik brauchbar« mache. Für welche Art von Kampf sie wertvoll seien, schreibt er nicht, Forderungen erhebt er keine, und weder Gegner noch Verbündete in einem Kampf sind auszumachen. Schon im Oktober 1935 beklagt er sich bei Max Horkheimer darüber, dass seine Arbeit bei einem Vortrag in der Maison de la Culture vor kommunistischen Emigranten ohne Resonanz geblieben sei, obwohl sie »wahrscheinlich nie einer öffentlichen Nützlichkeit näher gewesen ist als jetzt«. Die Resonanzlosigkeit war wechselseitig. Wie stellte sich Benjamin eine »öffentliche Nützlichkeit« vor, wenn er sich auf keine der öffentlichen Debatten über sein Thema einließ? Lindner druckt eine bisher unbekannte früheste Fassung des Essays ab, die den ersten Abschnitt mit der Berufung auf Marx und der antifaschistischen Zielsetzung noch nicht enthält. Fügte Benjamin diesen Abschnitt erst nach dem missglückten Vortrag als »Einleitung« hinzu, um seine politische Absicht zu bekennen? Für die Veröffentlichung in der Zeitschrift für Sozialforschung strich Horkheimer sie ihm wieder heraus, denn die Arbeit seines Instituts sollte gerade keinen »Kampfwert« haben, das heißt sich keine politische Blöße geben. Als Benjamin später versuchte, den Essay in einer moskauer Exilzeitschrift nachdrucken zu lassen, stellte er den Abschnitt wieder her, doch auch dort richtete er nichts damit aus.

Die öffentliche Wirkungslosigkeit des Kunstwerk-Essays lag zum einen daran, dass Benjamin sich nicht auf die mannigfaltigen Auffassungen über Kunst und Politik einließ, gegen die er hätte argumentieren müssen – weder die kulturpolitischen Verlautbarungen der deutschen und italienischen Diktaturen noch die der Volksfront und der Komintern, geschweige denn der kommunistischen Partei der Sowjetunion. Dabei war in der kommunistischen Kultur, an die er sich anschließen wollte, kaum ein Thema so umstritten wie die Kunstpolitik, die sich an der sowjetischen zu orientieren hatte, ohne ihr deshalb folgen zu müssen. In der UdSSR war seit dem Aprildekret von 1932 die parteiamtliche Kontrolle der Kunstproduktion derart zwanghaft durchgesetzt worden, dass sie die ästhetische Modernisierung der zwanziger Jahre in allen Kunstformen zum Erliegen bringen konnte. Innenpolitisch kodifizierte sie den ›sozialistischen Realismus‹ als maßgeblichen Stil, außenpolitisch strebte sie einen klassenübergreifenden Traditionalismus an, der 1935 auf dem Pariser »Kongress zur Verteidigung der Kultur« für maßgeblich erklärt wurde. Benjamin, der den Kongress besuchte, ignorierte all das nicht aus Unkenntnis, sondern aus Prinzip.

Die öffentliche Wirkungslosigkeit des Kunstwerk-Essays lag zum anderen daran, dass Benjamin mit keinem Wort auf die Zeitgeschichte zu sprechen kommt, die von der Weltwirtschaftskrise zum Zweiten Weltkrieg führte. So blieben seine apodiktischen Urteile über das, was er »Zeitalter« nannte, jeder historischen Verifikation enthoben. Mit seinem nicht weniger apodiktischen Terminus »der Kommunismus« entzog sich Benjamin zudem den politischen Loyalitätskonflikten, denen in diesem Jahrzehnt fast alle Kommunisten Westeuropas angesichts der stalinistischen Diktatur ausgesetzt waren. Dabei war ihm die Kritik an der Stalinisierung der Sowjetunion aus seiner zustimmenden Lektüre von Leo Trotzkis Schriften wohlbekannt. Und da er seinen Gegenbegriff des ›Faschismus‹ zwischen Hitler und Marinetti ebenso wenig bestimmte, war der inhärente Drang zum Krieg, den er ihm zuschrieb, keiner aktuellen Kriegspolitik zuzuordnen, der es zu opponieren galt.

 

Zwischen Aura und Kommunismus

Die beiden fundamentalen Termini des Kunstwerk-Essays sind ›Aura‹ und ›Kommunismus‹. Den ersten setzt Benjamin gleich anfangs zur Bestimmung der Einmaligkeit von Kunstwerken ein, versucht ihn zu erläutern und kommt wiederholt darauf zurück. Den zweiten statuiert er erst in einem kurzen Satz am Schluss, ohne auch nur anzudeuten, was er damit meint. Zwischen dem ausgeführten und dem unausgeführten Terminus spannt er seine Argumentation aus wie ein durchhängendes Seil zwischen zwei ungleich hohen Masten. Lindners Ausgabe lässt erkennen, wie er seine Ausführungen zum Kunstwerk und zum Film von Fassung zu Fassung variiert, erweitert oder verkürzt. Dagegen hält er an den beiden Termini ›Aura‹ und ›Kommunismus‹ durch alle Fassungen hindurch in fast gleichem Wortlaut und Umfang fest.

Die technische Reproduktion visueller Kunstwerke – und nur um solche geht es hier – stellt eine alternative Wahrnehmung her. Hat man sie selber vor sich, kann man von erlebter Identität sprechen, ihre technische Reproduktion vermittelt eine dematerialisierte Erfahrung. Nur mit derart eindeutigen Begriffen lassen sich Kunstwerke historisch kategorisieren. Denn es geht dabei nicht primär um ihre Wahrnehmung, sondern um ihre Produktion, ihren Besitz, ihre Zweckbestimmung, ihre Zugänglichkeit. Benjamin mystifiziert erlebte Identität mit dem Terminus »Aura« und nennt dematerialisierte Erfahrung deren »Zerstörung« oder »Verfall«. Er illustriert den Terminus – Lindner wertet ihn zu Unrecht »als historisch differenzierte, analytisch handhabbare Kategorie« – mit der anekdotischen Beschreibung eines Naturerlebnisses aus der Sommerfrische: »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.« Vom Kunstwerk ist hier gar nicht mehr die Rede. Später, in den »Manuskripten und Notizen zur Fortsetzung«, notiert Benjamin unter dem Schlagwort »zur Aura« sechs Episoden aus Marcel Prousts Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in denen der fiktive Autor biographisch bedeutsame Augenblicke intensiven Naturerlebens schildert und deutet. Honorierte er damit den Anspruch, großbürgerliche Lebenserfahrungen zu verallgemeinern, den Proust im ständigen »wir« seiner Erläuterungen stellt? Oder fand er hier die Klassenbegrenzung dessen bestätigt, was er »Aura« nennt, im Gegensatz zur reproduzierbaren Massenkunst des sowjetischen Films, die, wie er meinte, dem Proletariat eine authentische Selbstvergewisserung verschafft?

An Lindners Transkription der ersten, bisher unbekannten Fassung kann man ablesen, wie Benjamin den Begriff Kommunismus im letzten Satz des Essays näher zu bestimmen sucht. »Er antwortet«, setzt er an. »Er stellt fest, dass es kein«, schreibt er dann. »Diese [die Ästhetisierung der Politik] führt ihn«, versucht er es noch einmal. Alle drei Ansätze streicht er wieder durch. So kommt es, dass Benjamin gerade in dem Text, der sein aktivistischster Beitrag zur kommunistischen Kultur werden sollte, nichts über den Kommunismus schreibt, und das zu eben der Zeit, da ihn die kommunistischen Parteien unter der Ägide der Komintern in teilweise erbitterten Debatten ›antifaschistisch‹ zu aktualisieren suchten. Bereits am 6. Mai 1934 hatte er Gershom Scholem geschrieben, dass »mein Kommunismus von allen möglichen Formen und Ausdrucksweisen am wenigsten die eines Credos sich zu eigen macht, dass er … nichts, aber garnichts ist, als der Ausdruck gewisser Erfahrungen, die ich in meinem Denken und in meiner Existenz gemacht habe.« Das genügte nicht, um seinem Argument eine politische Perspektive mitzuteilen, die seine Leser hätten teilen können.

 

Der asymmetrische Schluss

Im Gegensatz zu seinen acht Worten über eine Kunst des Kommunismus führt Benjamin seine Charakterisierung einer Ästhetik des ›Faschismus‹ des längeren aus, in der ersten Fassung am weitläufigsten, in den folgenden Fassungen nur wenig kürzer. Die Asymmetrie der Entgegensetzung steigert sich noch dadurch, dass er weder von einer politisierten Kunst des ›Faschismus‹ noch von einer kommunistischen Ästhetisierung der Politik schreibt, obgleich es sowohl die eine wie die andere gab. Offenbar ging es Benjamin darum, die Ästhetisierung der Wirklichkeit, die er ›Aura‹ nennt, in der ›faschistischen‹ Verklärung des technisierten Krieges gipfeln zu lassen, um diese aus der bürgerlichen Kultur ableiten zu können. Wenn er schreibt, die ›faschistischen‹ Massenschaustellungen ließen die kapitalistischen Besitzverhältnisse unangetastet, so lässt sich hinzufügen, dass die sowjetische Verstaatlichung der Wirtschaft in ähnlichen Massenschaustellungen als revolutionäre Überführung in Volksbesitz gefeiert wurde. Diese – und nicht eine hypothetische Kunst des Kommunismus – hätten eine folgerichtige Antithese hergestellt. Dass Benjamin die »Politisierung der Kunst« ebenso einseitig bestimmte, hängt mit der verfehlten Antithese zusammen. Denn nirgends wurde die Kunst aufwendiger politisiert als in jenen Großbauten, die die ›faschistischen‹ Regimes ebenso wie das bolschewistische als monumentale Schauplätze für ihre Massenaufmärsche errichteten. Was Benjamin als Antithese konstruieren wollte, war also tatsächlich eine Analogie.

Eine immanente Kritik von Benjamins defekter Logik würde in den exegetischen Teufelskreis der Benjamin-Philologie zurückfallen. Weiter führt eine historische Kritik des Kunstwerk-Essays im Zusammenhang der kulturpolitischen Situation, in der sich Benjamin befand, wie hoch auch immer er sich darüber zu erheben meinte. Chryssoula Kambas hat das 1983 in ihrem Buch Walter Benjamin im Exil: Zum Verhältnis von Literaturpolitik und Ästhetik zum ersten Mal unternommen, ohne sich allerdings zu einer substanziellen Kritik am Kunstwerk-Essay durchzuringen. Darüber, wie eine Politisierung der Kunst im Kommunismus einer kriegerischen Ästhetisierung der Wirklichkeit im ›Faschismus‹ hätte entgegenwirken sollen, schweigt Benjamin sich aus. Im Namen des Friedens, wie es 1935 die pazifistische Kulturpolitik der Komintern und der Volksfront proklamierte? Wohl kaum, denn Benjamins Kunstverständnis war bei der ›revolutionären‹ Kunst des Ersten Fünfjahresplans stehen geblieben. Noch 1936 erhoffte er sich Unterstützung für die Neuveröffentlichung des Kunstwerk-Essays in Moskau von Sergej Tretjakow, also einem Vertreter jener früheren Kunst, den das NKWD im folgenden Jahr umbringen ließ. Doch über die zwanghafte Einführung des Sozialistischen Realismus, die bereits seit 1933 im Gange war, konnte oder wollte Benjamin nichts wissen.

Die Pariser Weltausstellung, die im Juli 1937 eröffnet wurde, hätte Benjamin eine unübertreffliche Gelegenheit geboten, die Behauptungen seines Essays für einen erneuten Abdruck zu überprüfen. Die spiegelbildliche Konfrontation des deutschen und des sowjetischen Pavillons auf der Plaza vor dem Palais Chaillot hätte ihn über den vermeintlichen Gegensatz zwischen einer faschistischen »Ästhetisierung der Politik« und einer kommunistischen »Politisierung der Kunst« eines Besseren belehren können, zumal sie sich sowohl als Gegensatz wie auch als Analogie verstehen ließ. Und gleich neben dem hohen deutschen Pavillon hätte ihm der kleine spanische eine kommunistisch inspirierte Propagandakunst vor Augen geführt, die den Verteidigungskampf der Republik gegen General Francisco Francos Militäraufstand als Volkskrieg heroisierte. Als jedoch Benjamin die Weltausstellung besuchte, fand er, dass es »in deren Pavillons […] nicht viel zu sehen gibt«, wie er Franz Glück am 9. August 1937 schreibt. Was er zu sehen versäumte, war, dass die Politisierung der Kunst kein kommunistisches Monopol war, und dass es dabei weniger um einen Kampf zwischen Kommunismus und ›Faschismus‹ ging, als vielmehr um eine Konfrontation zwischen Diktatur und Demokratie, die quer zur ›antifaschistischen‹ Ideologie verlief. Picassos Guernica im spanischen Pavillon, das der berühmte Maler binnen zweier Wochen aus einem Propagandabild für den Volkskrieg in ein Antikriegsbild verwandelt hatte, hätte ihm eine künstlerische Sensibilität für die Agonien politischer Stellungnahme vorgeführt, vor denen er sich selber hütete.

 

Von der politischen Abstinenz zur postumen Kanonisierung

Dass Benjamin sich bei der Weiterarbeit an seinem Kunstwerk-Essay von zeitgeschichtlichen Erfahrungen ebenso wenig beirren ließ wie von der politisierten Kunst auf der Pariser Weltausstellung, ist aus den »Manuskripten und Notizen zur Fortsetzung« ersichtlich. Die Realitätsverweigerung, von der sie zeugen, kommt der verbissenen Apodiktik des Arguments zugute, an die Benjamin sich klammerte. Über seine alten Papiere aus der Zeit vor dem Exil gebeugt, denen er nichts als passende Lesefrüchte hinzufügte, ersparte er sich jene Aufwühlungen des politischen Gewissens, von denen mutigere Zeitgenossen auf der Linken wie André Breton oder Simone Weil Zeugnis geben. Bereits in einer Fußnote der veröffentlichten Fassung hatte er Bretons Satz zitiert: »Das Kunstwerk hat Wert nur insofern als es von Reflexen der Zukunft durchzittert wird.« Er entnahm ihn, wie Lindner nachweist, der Schrift Position politique du surréalisme, die im Jahr zuvor erschienen war, und in der Breton den Bruch der Surrealisten mit der Sowjetunion und der kommunistischen Partei proklamierte. Letzteres konnte Benjamin ignorieren. Hatte doch die sowjetische Kulturpolitik schon für die Kunst des Ersten Fünfjahresplans und erst recht für den Sozialistischen Realismus eine prinzipielle Zukunftsträchtigkeit behauptet, nur ohne künstlerische Freiheit.

In den »Manuskripten und Notizen zur Fortsetzung« notierte sich Benjamin einen Satz aus Marx’ und Engels’ Kommunistischem Manifest, der den Kunstwerk-Essay seines uneinlösbaren antifaschistischen »Kampfwerts« entbunden hätte: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.« Benjamin wollte ihn dem Essay bei einer erneuten Veröffentlichung sogar als Motto voranstellen. Dann hätte er seine abgebrochene Erklärung des Kommunismus weiterschreiben können.

»Die Frage, ob Benjamins Analyse historisch zutreffend war oder ob sie schon damals falsch gewesen sei, verfehlt […] ganz wesentlich den Text«, warnt Lindner in seinem Nachwort. Genau diese Frage habe ich in der vorliegenden Kritik gestellt. Wenn es um die kommunistische Zielsetzung des Kunstwerk-Essays geht, ist Lindner allerdings mit kritischen Abstrichen schnell bei der Hand. Schon in seinem ausführlichen Beitrag über den Essay im Benjamin-Handbuch von 2006 hatte er eingeräumt, dass »die revolutionär-marxistische Ausrichtung des Kunstwerkaufsatzes in der heutigen Rezeption als der überholteste Teil des Kunstwerkaufsatzes gilt«. Und auch im Nachwort findet er für kommunistische Argumente nur abfällige Worte – »Politbüro-Dekrete«, »Funktionärsbegriff des Politischen, […] in dem Menschen nur noch als disponible Massen vorkommen«. Dass Benjamin sich einen imaginären Kommunismus auf den Leib zuschnitt, der sich auf nichts dergleichen einließ, kommt Lindners Kanonisierung des Kunstwerk-Essays zugute. »Dessen synthetische Kraft besteht darin, ein dialektisches Bild des historischen Augenblicks entstehen zu lassen, in dem der kultische Ursprung der Kunst, die Kunstavantgarden, das Massenmedium Film und die Zerstörung Europas durch den Faschismus zu einer prägnanten Konstellation zusammenfinden. Gerade diese strikte Bindung an den historischen Augenblick lädt den Text mit einer Kraft auf, die ihn überlieferungsfähig macht.« Dieser für sich genommen inhaltsleere Satz ist aus drei altbekannten Benjaminschen Termini zusammengestückt – »dialektisches Bild«, »historischer Augenblick«, »Konstellation«. Er erklärt Benjamin durch Benjamin, sonst nichts.

 

Literatur

Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, hgg. v. B. Lindner unter Mitarb. v. S. Broll u. J. Nitsche, Werke und Nachlass, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 16, Berlin 2013

 

© DAS ARGUMENT 309/2014, 531-536