Strahlende Hinterlassenschaften aus Produktion und Konsumtion

Zur Politischen Ökonomie des Atommülls¹

Weder Karl Marx noch die Autoren des Kreislaufwirtschaftsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland hatten eine Vorstellung, um welche Art Abfall es sich bei Atommüll handelt. Beim Atommüll handelt es sich nicht um Exkremente, die auf Rieselfeldern oder in Komposthaufen zu Dünger werden, und keineswegs sind alle Komponenten und Isotope im Atommüll recycle- oder wiederverwendbar. Den „nuklearen Brennstoffkreislauf “ gibt es gar nicht – und eine in jeder Hinsicht nachhaltige Entsorgung von Atommüll ist bisher in keinem Land gefunden worden. Seit über 70 Jahren wird hochradioaktiver Müll beim Atombombenbau, in Forschungsreaktoren und in Atomkraftwerken produziert, aber eine sichere Deponie, ein risikofreies „Endlager“ für Atommüll ist in all den Jahren nicht realisiert worden. Wie lässt sich das erklären?

 

Zunächst mit den Charakteristika von Atommüll selbst. Denn Müll ist nicht immer „Müll“, vor allem sind die Abfälle in der Atomwirtschaft kein normaler Müll. Ein Teil der nuklearen Abfälle kann auch als Wertstoff deklariert werden, weil die Komponenten bzw. Isotope wiederverwendet werden können. Das gilt zum Beispiel für abgereichertes Uran, das in den Anreicherungsanlagen entsteht, wenn der Anteil des spaltbaren Urans-235 von 0,7 Prozent auf 3 bis 4 Prozent für Brennelemente von Leichtwasserreaktoren erhöht wird. Ebenso sind die abgebrannten Brennelemente nach ihrem Einsatz im AKW nicht einfach Atommüll, vor allem dann nicht, wenn in Wiederaufarbeitungsanlagen wiederverwendbare Isotope extrahiert werden. So können Uran-235 und Plutonium als kernwaffenfähiges Material Wiederverwendung finden. Und aus abgereichertem Uran können Granaten, Geschosse und anderes Kriegsmaterial hergestellt werden. Das Wort Recycling, Wiederverwertung, bekommt im Vergleich zum üblichen Sprachgebrauch dann eine völlig andere, zivil-militärische Bedeutung.

 

Es ist aber die Antwort auf die Ausgangsfrage. Atommüll kann keineswegs als „Exkrement der Produktion“ (Karl Marx) bezeichnet werden, das ohne Gefahren für Gesundheit und Leben auf Rieselfeldern oder Komposthaufen zu Dünger oder Erde wird – er kann auch nicht verbrannt, im Meer versenkt, durch Schornsteine in die Luft entlassen oder auf eine Mülldeponie verbracht oder vernichtet werden. Er kann auch nicht mit Raketen in die Sonne oder den Weltraum geschossen oder durch Vulkanschlote ins Erdinnere verbracht werden, oder was es sonst noch für phantasievolle Vorschläge im Laufe der Zeit für die unlösbare Aufgabe gegeben hat. Und dennoch gilt, der Atommüll muss so sicher wie nur irgend möglich eingelagert und von den Menschen, die ihn produziert haben, ferngehalten werden. Jeder Umgang mit radioaktivem Material, vom Uranabbau, der Extraktion und der Anreicherung von Uran, bis zur Fertigung der Brennelemente, dem Einsatz im Atomkraftwerk, der Transporte zur und von der Wiederaufarbeitungsanlage und schließlich der Einlagerung des Atommülls in Zwischen- oder Endlagern bringt Gefahren mit sich.

 

Jede Stufe muss nicht nur erheblichen Sicherheitsansprüchen genügen, sondern auch gesellschaftlich gegen große Widerstände wie bei den Castor-Transporten durchgesetzt werden. Das hat bislang erhebliche Kosten verursacht, die im Wesentlichen von der Allgemeinheit getragen werden mussten. Weder die Atomindustrie noch die Länder, in denen Atommüll entsteht, wollen die Verantwortung und die immensen Kosten übernehmen. Das ist eine weitere Antwort auf die Frage, warum es weltweit noch immer kein „nukleares Endlager“ gibt. Der Beitrag geht der Frage nach, welche polit-ökonomischen Gründe gegen das „Projekt Endlager“ sprechen. Er skizziert die sich verändernde Landschaft aus staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren der Atommüllpolitik, um zu klären, ob in Deutschland eine günstige Gelegenheit, ein window of opportunity in der „Endlagersuche“ eröffnet wurde.

 

 

1. Müll ohne Ende

 

Die Problemdimension der Atomenergie wird vor allem dann deutlich, wenn die gesamte Un-Wertschöpfungskette in den Blick genommen wird. Auf jeder Stufe entstehen erhebliche Mengen von radioaktivem Müll; nicht nur durch den Betrieb der AKW, auch in den vor- und nachgelagerten Produktionsphasen. Was selten – vor allem nicht von den AKW-Betreibern – thematisiert wird: Der meiste Atommüll fällt in den Uran-Bergwerken an. Dieser Müll wird nicht exportiert, sondern verbleibt in den Ländern, in denen das Uran abgebaut wird (Schönberger 2013: 9). Die Entfernung zu den Abbauländern trägt dazu bei, dass der elektrische Strom von AKW wie in Frankreich als „saubere heimische Energiequelle“ deklariert wird. Aber der Abraum, die Schlämme, der kontaminierte Staub und das kontaminierte Wasser sowie die kontaminierten Werkzeuge müssen „entsorgt“ werden. Das ist keineswegs problemlos möglich und wurde auch nicht immer ernsthaft betrieben. Vor allem in den frühen Jahren der Atomkraftnutzung wurden Minen oft still gelegt, ohne dass der Müll beseitigt und die Mine saniert worden wären. Große Rückstandsdeponien finden sich in Namibia (Rössing Mine), aber auch in Deutschland (Wismut). Ferner gibt es in den USA und Kanada zahlreiche kleinere Uranbergwerke, in denen keine Sanierungsmaßnahmen unternommen wurden (Kreusch et al. 2006: 137).

 

Bei der Urangewinnung entstehen riesige Abraumhalden und Abwässer, die das Grundwasser bedrohen. In solchen Gebieten – wie etwa im Uran-Bergwerk Sertão in Brasilien nahe der Kleinstadt Caetité – muss inzwischen Trinkwasser angeliefert werden, da das Grundwasser verseucht ist. Die Landwirtschaft kommt zum Erliegen und die Menschen leben von Sozialhilfe, wenn es keine Arbeit mehr in den Minen gibt. Nichtsdestotrotz will Brasilien bzw. der staatliche und „verfilzte Atomsektor“² die Förderung von Uran erheblich ausbauen. Die Vorkommen sind groß und 30 Prozent des Landes sind noch gar nicht erkundet.

 

Die zehn wichtigsten Uranförderländer – absteigend sortiert nach der Produktionsmenge in den Jahren 2010-2012 – sind derzeit Kasachstan (ca. 21.000 t), Kanada (9.000 t), Australien (7.000 t), Niger (4.600 t), Namibia (4.500 t), Russland (2.800 t), Usbekistan (2.400 t), die USA (1.600 t), China (1.500 t) und Malawi (1.100 t).³

 

Auf den nächsten Produktionsstufen des sogenannten „nuklearen Brennstoffkreislaufs“ – der Yellow Cake Produktion, der Anreicherung und der Brennelementefertigung – entsteht ebenfalls Atommüll, ebenso wie beim Betrieb im AKW bzw. bei der Wiederaufarbeitung der abgebrannten Brennelemente, die in wiederverwendbares Uran und Plutonium zerlegt werden.

 

Auf jeder Stufe des Produktionsprozesses entstehen aber andere Formen von Atommüll, der unbedingt sicher „endgelagert“ werden muss. Atommüll ist also der Sammelbegriff für die strahlenden Hinterlassenschaften des „Brennstoffkreislaufs“, mit denen wir zukünftige Generationen für unabsehbare Zeiträume konfrontieren.

 

Technisch wird bei Atommüll unterschieden zwischen schwachradioaktivem Abfall (low level waste, LLW), mittelradioaktivem Abfall (intermediate level waste, ILW) und hochradioaktivem Abfall (high level waste, HLW). Etwa 95 Prozent der radioaktiven Abfälle zählen zur Kategorie schwach- oder mittelradioaktiv, die verbleibenden fünf Prozent sind hochradioaktiver Abfall, der in Deutschland – weil hier keine Atomwaffen hergestellt werden – vor allem in AKW erzeugt wird. Atommüll kann auch nach der Gefahrendauer unterschieden werden: Diese Dauer hängt von der Halbwertszeit der Radionuklide im Müll ab. Atommüll mit einer Halbwertszeit von etwa 30 Jahren wird als kurzlebig angesehen. Eine besonders lange Halbwertszeit hat dagegen Plutonium 239 mit 24.110 und Plutonium 242 mit etwa 376.000 Jahren. Die Halbwertszeit von Uran 235 beträgt sogar fast 704 Millionen Jahre. Die radioaktiven Isotope sind erst nach zehn Halbwertszeiten völlig zerfallen.4

 

Die unterschiedlichen Kategorien für Atommüll, ob mit Halbwertszeiten oder dem Grad der Radioaktivität begründet, lassen sich keineswegs nur aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten. Sonst ließe es sich kaum erklären, dass sich die Klassifikationen bzw. der Umgang mit dem Atommüll von Land zu Land unterscheiden können. In Frankreich beispielsweise werden alle Anlagenteile und Stoffe, die radioaktiv kontaminiert waren und sehr gering belastet sind, eingelagert. In der Bundesrepublik werden diese Fraktionen des Mülls „freigemessen“ und der wirtschaftlichen Nutzung zugeführt. Abgereichertes Uran wird in den Niederlanden eingelagert, in Deutschland gilt es hingegen als Wertstoff.

 

Abgereichertes Uran – depleted uranium (DU), auch Tails genannt – wird vor allem als Uranmunition in panzerbrechenden Geschossen eingesetzt. Durch den Urankern haben diese Geschosse eine hohe Masse und besitzen dadurch eine viel höhere Durchschlagskraft als zum Beispiel Blei oder Stahl. DU-Munition wurde unter anderem im Irak-Krieg und während des Kosovokrieges eingesetzt. Abgereichertes Uran wird auch für Ausgleichsgewichte in Flugzeugen verwendet. Wenn die Flugzeuge abstürzen oder abgeschossen werden, kann es allerdings freigesetzt werden und die Umwelt verseuchen. In der Urananreicherungsanlage in Gronau lagern zehntausende von Tonnen abgereichertes Uran. Die Nachfrage nach dem „Wertstoff“ ist also gering. Abgereichertes Uranhexafluorit aus Gronau wird dagegen nach Russland, Frankreich, Großbritannien und in die Niederlande exportiert.

 

 

2. Paradoxien und Polarisierungen

 

Der Widerspruch zwischen der weiteren Erzeugung von Atomabfällen und der ungeklärten Frage nach der Einlagerung dieses Mülls prägt das gesamte Zeitalter der Atomenergienutzung. Das Problem der Externalisierung der Kosten wurde als gering erachtetet, bagatellisiert oder auch völlig ignoriert. Die Debatte über den Standort Gorleben sowie die Probleme im Umgang mit den nuklearen Hinterlassenschaften in der Asse in Deutschland oder dem Waste Isolation Pilot Plant (WIPP) in den USA verweisen aber auch darauf, dass wir es bei der Einlagerung (hoch-)radioaktiver Abfälle mit einem wicked problem zu tun haben (Brunnengräber et al. 2012). Die bisherige Erfahrung zeigt, dass weder die technologischen noch die geologischen Barrieren, die verhindern sollen, dass die radioaktiven Stoffe in die Umwelt gelangen, eine möglichst hohe Sicherheit garantieren können. Aber auch die politischen Prozesse sind Teil des wicked problems. Die Suche nach einem Endlager – und das haben alle politischen Versuche der letzten Jahrzehnte gezeigt – steht überall auf der Welt erst am Anfang (zur Endlager-Governance in verschiedenen Ländern siehe Mez et al. 2014). Und doch hat der laufende Prozess die historisch entstandene Konfliktlandschaft inhaltlich wie politisch bereits verändert, auch in Deutschland. Insbesondere durch den Referenzrahmen der Energiewende, dem Niedergang der Nutzung der Atomtechnologie (Radkau/Hahn 2013) und dem sogenannten Atomausstieg ist die Atompolitik möglicherweise in ein „Zeitalter des Aufräumens“ eingetreten.

 

In Deutschland wurde die Wiederaufarbeitung von abgebrannten Brennelementen im Zuge des rot-grünen Atomausstiegs mit der Novelle des Atomgesetzes von 2002 seit dem 1. Juli 2005 verboten. Aber die Betreiber der Atomkraftwerke – E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW – hatten seit den 1980er Jahren vertragsgemäß abgebrannte Brennelemente aus deutschen AKW nach Frankreich oder Großbritannien verbracht. Die abgebrannten Brennelemente wurden in den Wiederaufbereitungsanlagen La Hague und Sellafield zerlegt und vor allem das wieder einsetzbare Plutonium für sog. MOX-Brennelemente verarbeitet. Der rest liche Atommüll sowie die noch nicht verarbeiteten abgebrannten Brennelemente wurden in Castor-Behältern nach Deutschland zurückgeschickt und in Gorleben „zwischengelagert“. Über die Lagerung der ausstehenden 26 Castorbehälter ist jedoch der politische Streit entfacht, zumal keine Castoren mehr nach Gorleben gebracht werden dürfen.

 

Aber der mengenmäßig größte Anteil des Atommülls ist schwach- und mittelaktiver Atommüll. Ein Teil davon wurde in der „Asse“ eingelagert, einem stillgelegten Steinsalzbergwerk der Wintershall AG, das die Bundesrepublik Mitte der 1960er Jahre für 600.000 DM zum Zwecke der „Versuchslagerung von radioaktiven Rückständen“ kaufte. Von 1967 bis 1978 wurden dort fast 126.000 Fässer schwachaktiver und etwa 1.500 Fässer mittelaktiver Atommüll eingelagert bzw. abgekippt. Beim Kauf der Asse war zwar bekannt, dass in das Bergwerk Wasser einläuft – die Risse wurden 1956 entdeckt und seit 1960 liefen 2 l pro Minute ein – aber es gelang nicht, den Wassereinlauf durch Zementieren einzudämmen. Vielmehr stellte sich heraus, dass immer mehr Wasser in die Asse lief, so dass nicht nur eine radioaktive Verseuchung des Grundwassers befürchtet wurde, sondern sogar der Einsturz des ehemaligen Bergwerks. Die ersten Kostenschätzungen zur Behebung des Problems beliefen sich auf 2 Mrd. Euro, dann auf 4 Mrd. Euro – und seitdem darüber nachgedacht wird, das gesamte Atommüll-Inventar aus der Asse zu bergen, werden die Kosten gar nicht mehr veröffentlicht. Ein ähnliches Problem ist auch in Morsleben zu beobachten, wo die DDR ihren schwach- und mittelaktiven Atommüll eingelagert hat. Lediglich der Schacht Konrad steht potentiell, aber mit erheblichen technischen Problemen, für diese Arten von Atommüll in Deutschland zur Verfügung.

 

Vor wenigen Jahren ging man noch davon aus, dass die Zwischenlagerung nur für zwei bis drei Jahrzehnte erforderlich ist. Inzwischen ist jedoch klar, dass es sich um einen wesentlich längeren Zeitraum handeln wird. Die Standort-Gemeinden von Atomkraftwerken, die vor dem Atomausstiegsbeschluss in der Regel pro-Atom eingestellt waren, weil sie von den Gewerbesteuereinnahmen und den Arbeitsplätzen in den AKWs profitierten, beginnen sich Sorgen zu machen. Sie befürchten, dass ihre Zwischenlager schleichend zu Langzeitlagern werden. Was den hochradioaktiven Atommüll betrifft, so gibt es in der Bundesrepublik (noch) den Konsens, dass dieser nicht ins Ausland verbracht sondern auf deutschem Territorium gelagert werden soll. Aber hier besteht inzwischen ein hoher Handlungsbedarf und Zeitdruck, denn bis zum 23. August 2015 muss Deutschland – wie auch die anderen EU-Länder – eine Direktive der EU umsetzen und ein nationales Programm für die sichere Lagerung von Atommüll notifizieren.5

 

Nach dem Super-GAU in Fukushima entstand in Deutschland ein parteiübergreifender Konsens, dass nach der Abschaltung der AKWs nun auch das Atommüll-Problem zu lösen sei. Mitte 2013 trat das Endlagersuchgesetz in Kraft, ein Jahr später wurde gemäß Paragraph 3 dieses Gesetzes die „Kommission zur Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ eingerichtet. Dies führt zu neuen polit-ökonomischen Dynamiken in der „Endlagersuche“, denn es ist nicht nur unklar, wie das Verfahren zur „Endlagersuche“ politisch gestaltet werden soll und wie mit (welchem) Atommüll umgegangen werden soll, sondern auch, wer letztlich die Kosten dafür tragen wird.

 

 

3. Privat goods, public bads

 

Die Betreiber von AKW sind zwar daran interessiert, mit ihren Anlagen möglichst hohe Profite zu erzielen, aber die volle Übernahme der Stilllegungs- und Entsorgungskosten wollen sie möglichst vermeiden. Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich oder Spanien liegen die Betreiber im Streit mit ihren Regierungen über die finanziellen Verantwortlichkeiten. Entweder ist in diesen Ländern die Finanzierung nicht eindeutig geregelt oder es fallen Zusatzkosten an, weil die Rückstellungen, die zum Beispiel die deutschen Energieversorgungs Unternehmen (EVU) für den Rückbau der AKWs und die Entsorgung der nuklearen Abfälle gebildet haben, vermutlich nicht ausreichen.

 

Auch für die AKW-betreibenden EVU gilt das Verursacherprinzip, das so genannte polluter pays principle, der Umweltpolitik. Die Grundlage für die handelsrechtliche Rückstellungsbildung bildet das Handelsgesetzbuch. Rückstellungen sind unversteuerte Gewinne, die vorher von den Betreibern über den Strompreis von den Stromkunden kassiert wurden. Mit diesem, für sie sehr vorteilhaften Rückstellungssystem arbeiten die Betreiber seit Beginn der Nutzung der Atomkraft in Deutschland. Aus Sicht der Betreiber wird das im Atomgesetz materiell rechtlich niedergelegte Verursacherprinzip „1:1“ auf das System der finanziellen Entsorgungsvorsorge übertragen. Ferner behaupten die Betreiber, dass so nicht nur dem Verursacherprinzip, sondern zugleich dem Gebot der Generationengerechtigkeit vollständig Rechnung getragen würde.6 Dass die „Endlagersuche“ von den Abfallverursachern bezahlt werden muss, ist unstrittig. Streitpunkt ist aber, welche Kosten überhaupt übernommen werden müssen. Die Rückstellungen wurden für den Rückbau der AKWs und die Einlagerung des Atommülls gebildet. Wer aber zahlt für den Endlagersuchprozess, die Forschung und für das anspruchsvolle, demokratische Verfahren, das es zu organisieren gilt?

 

Mit der Suche nach einem geeigneten Standort und dem Bau des Endlagers ist es nicht getan. Nach der Inbetriebnahme werden weitere Kosten für den Transport und die Einlagerung des Atommülls anfallen. Die Höhe der Kosten dürfte erheblich davon abhängen, ob ein Verschluss des „Endlagers“ erfolgt oder ob die Rückholbarkeit des Mülls vorgesehen wird. Eine Offenhaltung und Überwachung wird mit Sicherheit höhere Folgekosten verursachen als der Verschluss. Aber auch bei letzterem muss ein Kontrollsystem am Laufen gehalten werden, das auf mögliche Strahlungsaustritte in zehn, hundert und auch in tausend Jahren noch reagiert. Wer wollte hierfür eine Kostenschätzung vornehmen und wer den Versicherungsschutz? Schon bei den AKW ging es den Betreibern im Übrigen weniger um eine Investitionsbeteiligung des Bundes als um eine Risikobeteiligung. Denn neben der ökonomischen Bürde für künftige Generationen stellt das Risiko eines atomaren Unfalls beim Betrieb, dem Rückbau, dem Transport und der Einlagerung ein betriebswirtschaftlich unkalkulierbares Risiko dar.

 

Trotzdem ist die Endlagersuche für die EVU kein Thema von hoher Priorität. Denn für sie sind mit dem Weiterbetrieb der verbleibenden AKWs so lange wie möglich Profite – und mit der „Endlagersuche“ neue und letztlich nicht absehbarer Kosten verbunden. In Deutschland haben die AKW-Betreiber Entsorgungs Rückstellungen in die Bilanzen eingestellt, derzeit insgesamt rund 36 Mrd. Euro. Diese sind für den Rückbau und die Stilllegung der AKWs sowie die Einlagerung radioaktiver Abfälle vorgesehen, nicht aber für die erneute Endlagersuche. Die Betreiber sind der Auffassung, dass eine alternative Standortsuche nur sinnvoll ist, wenn sich herausstellt, dass Gorleben nicht dem Anforderungsprofil des Standortauswahlgesetzes von 2013 (StandAG) entspricht. Sie bzw. das Deutsche Atomforum weisen außerdem darauf hin, dass in den Salzstock Gorleben schon 1,6 Mrd. Euro investiert worden seien. Da sie „bereits in der Vergangenheit die Endlager-Erkundung und -Errichtung anteilig zu ihrem Abfallaufkommen finanziert“ 7 haben, lehnen sie eine weitere Kostenübernahme ab.

 

Aber es gibt noch ein weiteres Problem: Im Falle einer Insolvenz und der Zahlungsunfähigkeit der AKW-Betreiber sind die Rückstellungen für die Stilllegung der AKWs und die „Endlagerung“ des Atommülls womöglich verloren. Deshalb wird in Deutschland von wissenschaftlicher Seite, um die Refinanzierung des Verfahrens durch die Abfallverursacher zu gewährleisten, die Überführung der Rückstellungen in einen öffentlichen-rechtlichen Fonds empfohlen und von der Anti-Atom-Bewegung mit Nachdruck eingefordert. Aber ist das ohne weiteres möglich? Die Rückstellungen liegen bei E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW nicht liquide vor, sondern sind investiert bzw. liegen in Sacheinlagen wie Kraftwerks-Beteiligungen vor. Und was ist, wenn die Einlagen an Wert verlieren oder sich nicht mehr liquidieren lassen? Würde die Bundesregierung die Gelder einfordern, wäre das eine schwer tragbare Belastung für die EVU, denen angeblich schon die Energiewende zusetzt.

 

Nicht nur deshalb wurde von den AKW-Betreibern E.ON, RWE und EnBW Mitte 2014 die Idee einer öffentlich-rechtlichen Stiftung ins Spiel gebracht, die als „Bad Bank“ der Atomwirtschaft bezeichnet wurde. Nach den Recherchen des „Spiegel“ war die Regierung in die „geheimen Pläne der Energiekonzerne“ allerdings eingeweiht: „Was die Bürger aber nicht wissen sollen: Der Abbau der Reaktoren wird teurer als bekannt und ist schlecht vorbereitet“.8 Aus dieser Situation wird ein Ausweg gesucht. Die Idee ist, dass die Betreiber ihre Rücklagen in eine Stiftung überführen, die in der Zukunft für den milliardenteuren Abriss der AKW und die Lagerung der radioaktiven Abfälle zuständig sein soll. Im Gegenzug würden die EVU u.a. ihre anhängigen Klagen und Schadenser-

satzforderungen wegen des deutschen Atomausstiegs in Höhe von mehr als 15 Milliarden Euro gegen die Bundesregierung zurückziehen. Vattenfall hat eine andere Strategie gewählt: nach der 2012 erfolgten Umstrukturierung, bei der die Vattenfall Europe AG mit der Vattenfall GmbH verschmolzen wurde, ist die schwedische Konzernmutter nicht mehr voll in der Haftung.

 

Nach der Privatisierung der Gewinne werden die Lasten der Allgemeinheit aufgebürdet. Auf private goods folgen – wie so oft – die public bads. Mit dem marktwirtschaftlichen Verursacherprinzip hat das nichts zu tun. Und doch ist das Angebot nicht nur unanständig. Es regt zumindest die Debatte an und ist überlegenswert, weil ein Weg gefunden werden muss, die Rückstellungen der AKW-Betreiber für die Allgemeinheit zu sichern. Auch die Frage, wer die Finanzmittel nachschießen muss, wenn Abriss und „Endlagerung“ teurer werden, muss schließlich geklärt werden. Fest steht, dass es den Atommüll auch in hunderten bzw. tausenden von Jahren noch geben wird, ganz sicher aber nicht die AKW- Betreiber, wie wir sie heute – im fossilen Zeitalter – kennen. Aus der Haftung dürfen sie deshalb jedoch keineswegs genommen werden, vielmehr ist über die noch weiter aufzubringende Haftungssumme zu verhandeln. Eine Überprüfung sowie eine volle und transparente Ausweisung der Rückstellungen in Verbindung mit Kostenkalkulationen für die Entsorgung des Atommülls sind deshalb nicht nur längst überfällig, sondern dringend geboten. Hier sind die Regierung bzw. die entsprechenden Einrichtungen wie das Bundesamt für Strahlenschutz und die EVU in der Pflicht. Die jetzige Regelung, dass die anfallenden Kosten je nach Bedarf bei den Unternehmen abgerufen werden und die Rückstellungen von den Unternehmen selbst verwaltet werden,9 wird den Erfordernissen bei der Endlagersuche keineswegs gerecht.

 

Durch die Dauer und die entstehenden „Ewigkeitskosten“ der „Endlagerung“ wird auch ein Schlaglicht auf die Probleme der institutionellen Ausgestaltung des zukünftigen dauerhaften Prozesses geworfen. Zwar sind bestimmte Institutionen wie die Energiekonzerne besonders verantwortlich für die Erzeugung des Atommülls – doch sie werden bereits in einigen Jahren oder Jahrzehnten vielleicht gar nicht mehr existieren. Nicht nur eine Insolvenz der Betreibergesellschaften (mit beschränkter Haftung) sondern Änderungen des Rechtsstatus wie bei Vattenfall, Fusionen zwischen verschiedenen Energieunternehmen, Aktienverkäufe etc. ändern den Status der Kapitalunternehmen fortwährend. Die „Identität“ der Verursacher (polluters) und der Besitzer der Unternehmen wie der Profite aus dem Atomgeschäft wird sich mit Sicherheit verändern. Auch vor diesem Hintergrund könnte eine Stiftung oder einer andere Rechtsform sinnvoll sein, würde sie doch darauf verweisen, dass nicht der Staat und damit die Allgemeinheit die alleinige Verantwortung für die Produktion des Atommülls zu tragen hat.

 

 

4. Schlussfolgerungen: neue Endlager-Governance

 

Es klingt ganz einfach: Der Staat müsste jetzt die Peitsche zeigen, zumindest um die finanzielle Seite des wicked problems zu beheben. Zugleich gilt aber auch, dass durch Regierungshandeln im top down-Verfahren die Atommüllfrage Jahrzehnte lang nicht beantwortet werden konnte. Früh schon wurde die Forderung nach einer umfassenden Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure erhoben; in der Forschung wurde dieses Defizit ebenfalls eingehend thematisiert (Hocke et al. 2006; Mez 2006). Doch auch der Prozess bis zur Verabschiedung des StandAG entsprach in keiner Weise dem Anspruch breiter demokratischer Partizipation. Es fiel hinter die Prinzipien zurück, die der „Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte“ (AkEnd) bereits 2002 erarbeitet hat. Als Empfehlung wird dort formuliert, dass es bei der Endlagersuche „um die kooperative Gestaltung von Entwicklungen [geht]. Zur Kooperation kommen Experten, Interessenvertreter, Parlamentarier, Mitglieder der Regierung und Verwaltungen mit Bürgern und Bürgerinnen zusammen und versuchen, Konflikte zu lösen und Zukunftskonzepte oder konkrete Planungen zu entwickeln. Diesen neuen Aufgaben entsprechen neue Methoden.“10 Weder das BMU-Forum noch das StandAG folgten diesen partizipativen Ansätzen des AKEnd.

 

Nochmals gefragt: Braucht die „Endlagerfrage“ den Staat als Vermittler und als Regelinstanz? Oder benötigen wir einen anderen Staat, der einen partizipativen Suchprozess anstoßen kann? Die beiden Fragen sind nicht nur rhetorischer Art. Vielmehr sind die polit-ökonomischen Interessenüberschneidungen zwischen den staatlichen Instanzen und den EVU mit ausschlaggebend dafür, dass der „Endlagersuchprozess“ weltweit so schleppend verläuft und sich als wicked problem herausstellt. Der „Atomkomplex“ ist nicht nur in Deutschland (Radkau/ Hahn 2013), sondern in allen Ländern, die AKW betreiben, eher ein Hindernis im Suchprozess als eine treibende Kraft. Warnend hat die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ darüber hinaus darauf hingewiesen, dass politische Projekte dieses Ausmaßes auch scheitern können: „Bei großen Infrastrukturprojekten wie dem Neu- oder Ausbau von Strom- und Schienennetzen, Autobahnen, Windparks oder Atommüllendlagern wird immer deutlicher, dass staatliche Politik dann scheitert, wenn sie Bürgerinnen und Bürger erst im Nachhinein informiert und unzureichend beteiligt“ (Enquete-Kommission 2013: 475f). Fest steht: Die partizipative Gestaltung des Auswahlverfahrens ist min-destens so wichtig wie die Veränderungen der staatlichen und wirtschaftlichen Interessenslagen. Hierfür erscheint es unumgänglich, dass politischer Druck für die „Endlagersuche“ aufgebaut wird, insbesondere auch von der Zivilgesellschaft und einer aktiven Bürgerschaft. Die konkreten und praxistauglichen Verfahrensregeln sowie die Voraussetzungen für eine Kultur des politischen Dialogs sind erst noch zu schaffen, damit die „Endlagersuche“ erfolgversprechend verlaufen kann.

 

 

 

Fußnoten

 

1. Der Text entstand im Rahmen des vom BMBF geförderten Projektes „Nukleare Entsorgung aus Multi Level Governance-Perspektive“ am Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) der FU Berlin. Es ist ein Teilprojekt der Forschungsplattform „Entsorgungsoptionen für radioaktive Reststoffe: Interdisziplinäre Analysen und Entwicklung von Bewertungsgrundlagen“ (für ausführliche Informationen siehe www.entria.de).

 

2. So Wolfgang Kunath in der Berliner Zeitung vom 04.02.2014 über „Brasiliens strahlende Zukunft“.

 

3. Zahlen von http://de.statista.com/statistik/daten/studie/13486/umfrage/produktion- von-uran-nach-laendern-weltweit/(eingesehen am 23.06.2014).

 

4. Für eine Übersicht siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Radioaktiver_Abfall (eingesehen am 23.06.2014).

 

5. EU Richtlinie 2011/70/Euratom „Über einen Gemeinschaftsrahmen für die verantwortungsvolle und sichere Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle“, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2011:199:004 8:0056:DE:PDF (eingesehen am 10.7.2013).

 

6. Christian Müller-Dehn, 2008: Rückstellungen. Finanzielle Entsorgungsvorsorge aus

Sicht der Betreiber, in atw 6/2008, http://www.kernenergie.de/kernenergie/themen/

finanzierung/rueckstellungen.php

 

7. Deutsches Atomforum, 2013: Stilllegung und Rückbau von Kernkraftwerken, http:// www.kernenergie.de/kernenergie-wAssets/docs/service/060rueckbau-von-kkw.pdf (eingesehen am 10.07.2013).

 

8. Siehe Spiegel 20 und 21/2014 sowie die Berliner Zeitung vom 13. Mai 2014, Seite 2: „Konzerne wollen stiften gehen“, außerdem Spiegel Online: http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/atomkraftwerke-energiekonzerne-fordern-bad-bank-vom-bund-a-968719. html (eingesehen am 20.05.2014).

 

9. Siehe zur Finanzierungsverantwortung das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), http://www.bfs.de/de/endlager/publika/finanzierung_rueckbau.html (eingesehen am 24.06.2014).

 

10. AkEnd 2002, Auswahlverfahren für Endlagerstandorte. Empfehlungen des AkEnd. Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte, http://www.bfs.de/endlager/faq/langfassung_abschlussbericht_akend.pdf, S. 57 (eingesehen am 10.7.2013).

 

 

 

 

Literatur

 

Brunnengräber, Achim/Häfner, Daniel (2014): Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der Mehrebenen-Governance der „nuklearen Entsorgung“, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft ZfP, in Vorbereitung

 

Brunnengräber, Achim/Mez, Lutz/Di Nucci, Maria Rosaria/Schreurs, Miranda (2012): Nukleare Entsorgung: Ein „wicked“ und höchst konfliktbehaftetes Gesellschaftsproblem. In: TATip – Technikfolgeabschätzung – Theorie und Praxis 21 (3): 59-65.

 

Enquete-Kommission (2013): Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft, Deutscher Bundestag, Drucksache 17/13300.

 

Hocke, Peter/Grunwald, Armin (Hrsg.) (2006): Wohin mit dem radioaktiven Abfall? Perspektiven für eine sozialwissenschaftliche Endlagerforschung. Berlin: edition sigma .

 

Kreusch, Jürgen/Neumann, Wolfgang/Appel, Detlef/Diehl, Peter (2006): Der nukleare Brennstoffkreislauf. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Mythos Atomkraft. Berlin: Heinrich-Böll- Stiftung: 125-195.

 

Mez, Lutz/Di Nucci, Rosaria/Brunnengräber, Achim/Schreurs, Miranda (Eds.) (2014): Governance of Nuclear Waste Storage: An International Comparison, VS Research Energy Policy and Climate Protection (in Vorbereitung)

 

Mez, Lutz (2006): Zur Endlagerfrage und der nicht stattfindenden sozialwissenschaftlichen Begleitforschung in Deutschland. In: Hocke, Peter/Grunwald, Armin (Hrsg.): Wohin mit dem radioaktiven Abfall? Perspektiven für eine sozialwissenschaftliche Endlagerforschung. Berlin: edition sigma: 39-54 .

 

Müller-Dehn, Christian (2008): Rückstellungen. Finanzielle Entsorgungsvorsorge aus Sicht der Betreiber. In: atw 6/2008

Radkau, Joachim/Hahn, Lothar (2013): Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. München: oekom.

 

Schönberger, Ursula (2013): Atommüll – Eine Bestandsaufnahme für die Bundesrepublik Deutschland. Braunschweig: Eigenverlag.

 

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Dieser Artikel erschien zuerst in: PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 176, 44. Jg. 2014, Nr. 3, 371 – 382 und ist unter folgender Adresse als PDF verfügbar:

http://www.prokla.de/2014/09/30/editorial-prokla-176/