Wege in und aus der Schuldenfalle

in (11.08.2014)

Die europäischen Eliten haben in ihrer ­Reaktion auf die Krise bislang dafür Sorge getragen, dass sich die privaten Verluste in einem überschaubaren Rahmen hielten. Die Furcht von Privatgläubigern vor größeren Zahlungsausfällen im Euroraum konnten sie mit ihrem zögerlichen Agieren, das weitgehend in nationalstaatlichen Lösungsansätzen steckenblieb, jedoch nicht gänzlich zerstreuen. Es musste erst die Europäische Zentralbank (EZB) auf den Plan treten und ihre Bereitschaft zu weitreichenden Interventionen verkünden, damit auf den europäischen Finanzmärkten eine gewisse Beruhigung einkehrte. Diesen erheblichen Einfluss auf die wirtschaftspolitische Architektur Europas verdankt die EZB vor allem zwei Faktoren: Zum einen steht sie an der Spitze der Geldpyramide, zum anderen ist sie eine der am stärksten zentralisierten Institutionen in Europa und somit zu schnellen Entscheidungen fähig. Die Zentralbank verschaffte mit ihrer Initiative den anderen Akteuren der Wirtschaftspolitik allerdings nur eine Art Verschnaufpause. Die großen Herausforderungen bleiben bestehen. 


Die Ausgangslage in Europa sieht so aus, dass Verbindlichkeiten überschuldeter Banken und Staaten sowie mit der Krise schlagend gewordene soziale Risiken in hohem Ausmaß sozialisiert wurden, mit dem Ergebnis, dass der öffentliche Sektor vielerorts extrem verschuldet ist. Der Schuldendienst belastet die Budgets, schränkt den Spielraum für staatliche Ausgaben ein und birgt eine erhöhte Gefahr von Refinanzierungskrisen. Auch die Verschuldung der privaten Haushalte hat beachtliche Dimensionen erreicht. Wie die Schuldenlast am besten gesenkt werden kann, steht daher im Zentrum europäischer wirtschaftspolitischer Debatten. Die Forderung, dass die Verursacher der Krise – das heißt der Finanzsektor und die Vermögenden – hierfür herangezogen werden müssen, mag zwar unter Linken Konsens sein, hat sich aber vorerst nicht durchsetzen lassen. Denn bei den Strategien zur Bewältigung der Krise steht nicht das Verursacherprinzip im Vordergrund. Vielmehr geht es darum, welche Auswirkungen bestimmte Maßnahmen auf die Volkswirtschaften beziehungsweise deren Prosperität und Stabilität haben und welche Anreizeffekte und Signalwirkungen auf andere Akteure damit verbunden sein könnten. Auch Überlegungen zur politischen Legitimität spielen eine große Rolle: Die Frage, wer für die Kosten der Krise und ihrer Bearbeitung aufkommen soll, eröffnet einen massiven Verteilungskonflikt. Da dieser für die Wirtschaftspolitik enorme Legitimationsrisiken birgt, wird ihm solange wie möglich mit Strategien des zeitlichen Aufschubs begegnet.
Bislang, so lautet die Zwischenbilanz, sind Verteilungsgesichtspunkte in der öffentlichen Debatte mehrheitlich vernachlässigt worden. Wenn überhaupt, wurden sie entlang zwischenstaatlicher Konfliktlinien – nach dem Motto: »Soll Deutschland für die griechischen Schulden zahlen?« – diskutiert. Ausnahmen sind Auflagen wie Gehaltsbeschränkungen für das Bankenmanagement in Fällen von staatlichen Finanzspritzen, vereinzelte Gläubigerbeteiligungen bei Bankenrettungen und die Verankerung von sozialen Gesichtspunkten in Strukturanpassungsprogrammen. Doch angesichts der immensen Größenordnungen der Krisenkosten ist deren Bedeutung verschwindend gering.
Zieht man die Wirtschaftsgeschichte heran, so lassen sich fünf Strategien identifizieren, mit denen in der Vergangenheit versucht worden ist, einen Schuldenüberhang zu reduzieren: Austeritätpolitik, Wachstumsförderung, eine Restrukturierung der Schulden, Inflation sowie Steuererhöhungen und andere administrative Maßnahmen. Die offizielle Strategie der EU setzt vor allem auf Austerität und tut so, als ließe sich damit mehr wirtschaftliches Wachstum erzielen. Nach längerem Zögern ist es inzwischen zumindest in Einzelfällen auch zu beschränkten Umstrukturierungen von Schulden gekommen.

Austerität – Aus der Krise heraussparen?

Was zu Anfang als eine Bankenkrise erschien, wandelte sich in der europäischen Diskussion im Zuge der massiven Probleme Griechenlands schnell zu einer Staatsschuldenkrise, obwohl in Fällen wie Spanien oder Irland die angestiegene Staatsverschuldung nur eine Folgeerscheinung der Banken- und Wirtschaftskrise war. Nicht von ungefähr zielen die bedeutendsten Reformbeschlüsse der EU-Länder in Reaktion auf die Krise fast alle auf die Beschränkung der Staatsverschuldung ab. Alle gewährten Überbrückungskredite an Staaten, die vom privaten Kapitalmarkt abgeschnitten wurden, sind an strenge Auflagen geknüpft worden, die vor allem Ausgabenkürzungen zum Gegenstand hatten beziehungsweise haben. Die geforderten Austeritätsmaßnahmen sollen in den überschuldeten Staaten den Finanzierungsbedarf der öffentlichen Haushalte senken und so Leistungsbilanzdefizite abbauen, die staatliche Kreditwürdigkeit in den Augen privater Gläubiger stärken und den Schuldenstand senken. Doch wie von kritischen Stimmen vorhergesagt, zeigt sich in Ländern wie Griechenland, dass drastische Ausgabensenkungen in einer rezessiven Situation das Wachstum reduzieren, was zu Steuerausfällen und Ausgabensteigerungen (etwa für die Arbeitslosenunterstützung) führt, wodurch der Schuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung sogar ansteigt.

Wachstum – Werden demnächst alle Exportweltmeister?

Ein weiterer Weg, Schulden abzubauen, führt bekanntlich über die Erhöhung der Wirtschaftsleistung. Die Politik der Troika setzt derzeit zur Ankurbelung des Wachstums auf Strukturreformen am Arbeitsmarkt und auf einen Abbau des öffentlichen Sektors, was die Verhandlungsposition von Lohnabhängigen schwächen und ihre sozialen Ansprüche senken soll. Eine daraus resultierende Senkung der Lohnkosten soll zu einer Verbesserung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit beitragen. Sofern dies nicht gelingt, wird Arbeitslosen mehr oder weniger zur Abwanderung geraten – Vorbild sind wohl Länder wie Lettland, das seit Ausbruch der Krise ein Zehntel seiner Bevölkerung verloren hat. Diese zynische Strategie der Entvölkerung »peripherer Regionen« stößt mit wachsender Größe der betroffenen Bevölkerungen aber schnell an ihre Grenzen.
Die einst im Rahmen einer europäischen Arbeitsteilung für die Mittelmeerländer vorgesehene Strategie der Exportorientierung in Billiglohnsektoren ist längst obsolet geworden, wird doch in Ländern Asiens oder Osteuropas noch preiswerter produziert. Und solange die Wirtschaftsaussichten düster sind, werden private Investitionen ausbleiben. Sofern Exportindustrien das Ziel sein sollen, müssten diese erst aufgebaut werden – und dies am besten auf Basis einer zeitgemäßeren Konzeption von Wettbewerbsfähigkeit, die die Bedeutung von Bildung, angemessener Infrastruktur, heimischer Nachfrage für innovative Qualitätsproduktion etc. erkennt. Da hierfür dringend Investitionskapital benötigt wird, könnte sich hier eine neue wichtige Aufgabe für die EU ergeben. Der auch von linker Seite zuletzt wieder stark kritisierte neoliberale bias der EU-Institutionen würde mit Sicherheit abgeschwächt, wenn diese Kompetenzen für investive Aufgaben erhielten.
Soll eine Exportoffensive gelingen, bräuchte es flankierende Maßnahmen, die die Massenkaufkraft in möglichst nahen Absatzmärkten wie Deutschland stärken. Doch einer Verallgemeinerung der Orientierung auf Export sind Grenzen gesetzt, weil nicht alle Länder gleichzeitig Überschüsse erzielen können. Alternativ oder ergänzend dazu wäre der Aufbau von starken regionalwirtschaftlichen Strukturen anzustreben, was vermutlich auch besser mit dem Projekt eines ökologischen Umbaus vereinbar wäre.

Schuldenrestrukturierung – Zurück nach Babylon?

Sobald die Schuldenlasten die finanzielle Leistungsfähigkeit einzelner Schuldner überfordern, müssen entweder finanziell leistungsfähigere Akteure für sie einspringen oder Gläubiger Einbußen bei ihren Forderungen hinnehmen. Gläubigerverzicht ist im bisherigen EU-Krisenmanagement aus Angst vor einem Dominoeffekt, der sich aus aufeinanderfolgenden Zusammenbrüchen untereinander verschuldeter Finanzhäuser ergeben könnte, bislang sehr zögerlich angewendet worden. Er war bisher auf Fälle beschränkt, wo eine gewisse Sicherheit bestand, dass die betroffenen Gläubiger keine Kettenreaktion im Finanzsystem auslösen würden – weil die Beträge, um die es ging, entweder relativ klein und somit verkraftbar erschienen oder weil die Betroffenen Privatpersonen waren oder weil die betroffenen Finanzhäuser durch ihre Heimstaaten unterstützt werden konnten. Im bisherigen Krisenverlauf wurden in mehreren Ländern, darunter Dänemark, Irland, die Niederlande, Spanien und Zypern, Privatgläubiger an einzelnen Bankenrettungsmaßnahmen beteiligt – über einen Forderungsverzicht, den Rückkauf von Anleihen mit Abschlägen oder die Umwandlung von Anleihen in Aktien. Die bislang einzige Restrukturierung öffentlicher Schulden im Zuge der jüngsten Krise betraf Griechenland. Dass öffentlicher Druck (siehe Irland und die Niederlande) oder der Druck der EU-Staatengemeinschaft (siehe Spanien und Zypern) ausschlaggebend für die Entscheidung zugunsten einer Gläubigerbeteiligung war und befürchtete katastrophale Folgen ausblieben, verweist auf politische Spielräume, wenn es um die Lastenverteilung bei Schuldenrestrukturierungen geht.
Sofern übergeordnete Instanzen (Einzelstaaten oder eine Staatengemeinschaft wie die EU) in ausfallsgefährdeten Kreditbeziehungen einspringen, ergeben sich erweiterte Möglichkeiten. Die Staaten des Euroraums gewährten Überbrückungskredite an Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern und stimmten in manchen Fällen einer Verlängerung der Laufzeiten und einer Senkung der Zinsen zu, sobald dies opportun erschien. Womöglich werden sie sich in ­Zukunft, wenn sie dies für erforderlich halten, auch für die Option des Forderungsverzichts entscheiden.
Auch Notenbanken sind in der Krise vermehrt in die Rolle von Gläubigern geschlüpft: Notenbankkredite ersetzten nach Ausbruch der Krise einen Gutteil des Interbankenmarkts, also der Refinanzierung, die Banken einander zuvor gewährt hatten. Die EZB trat auch selektiv als Ankäuferin von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt auf. Beides ermöglichte privaten Gläubigern aus Deutschland und anderswo, sich riskanten Anlagen in Krisenregionen elegant zu entledigen. In Irland wurde die staatliche Abwicklung einer Bank mithilfe eines Notkredits der Notenbank finanziert, dessen Rückzahlung zuletzt auf Jahrzehnte erstreckt wurde. Dies ist möglich, da Notenbanken, sofern sie keine Politik fixer Wechselkurse verfolgen, keinen unmittelbaren Budgetbeschränkungen unterliegen.
Über die gesamteuropäische Sozialisierung von Gläubigerforderungen ist es in der Krise somit gelungen, systemische Risiken, die sich aus der Verkettung privater Schuldkontrakte ergeben, zu entschärfen. Damit ist die Frage, wie mit offenen Forderungen umzugehen ist und wie die Lasten verteilt werden sollen, einer kollektiven Debatte zugänglich gemacht worden. Dies schließt auch die Optionen mit ein, Schulden zu restrukturieren oder gar zu streichen. Die Forderung nach einem Schuldenaudit zielt dabei auf ein geordnetes Verfahren, im Rahmen dessen Ansprüche auf ihre Validität geprüft und verschiedene Finanzierungsquellen ausgelotet werden können.

Inflation – Geldwert in Gefahr?

Weil bestehende, nominell fixierte Forderungen durch Inflation entwertet werden, sorgen sich Gläubiger vor allem um einen allgemeinen Wertverlust des Geldes. Die Inflationsängste wurden genährt durch die Geldpolitik der Notenbanken in Europa, den USA und Japan. Sie haben in Reaktion auf die Krise über verschiedene Methoden die Ausgabe von Zentralbankgeld verstärkt und ihre Zinspolitik mehr als zuvor in den Dienst der wirtschaftlichen Erholung gestellt. Zumindest im Euroraum sind die Steigerungen des allgemeinen Preisniveaus allerdings bislang im gewohnten Rahmen geblieben. Die Zentralbank hat vor allem über die Ablösung von Zwischenbank- durch Notenbankkredite zu einer Stabilisierung des Finanzsystems beigetragen. Dem folgte keine Überhitzung der Wirtschaft mit anschließendem inflationären Schub, sondern vielmehr wurde versucht, eine Bewegung in die Gegenrichtung (Deflation) abzuwenden. Die Notenbank kann von sich aus auch keine Inflation verordnen und auch keine wirtschaftliche Erholung in Gang setzen. Beides bedarf privater oder staatlicher Investitionen beziehungsweise eines gesteigerten Konsums der Bevölkerung. Empfindliche Preissteigerungen, die vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen treffen, gab es zuletzt bei den Nahrungsmitteln und bei den Energiekosten, was jedoch weniger auf die Politik der Notenbanken zurückgeht als vielmehr auf andere weltwirtschaftliche Faktoren und die unbearbeitete ökologische Krise.

Steuererhöhungen und andere administrative Maßnahmen – Wer zahlt?

Zentrale Komponente einer Politik, die auf gerechtere Verteilung zielt, wäre es, verstärkt private Großvermögen zur Begleichung der Krisenkosten heranzuziehen, etwa über Steuererhöhungen oder sonstige Maßnahmen. Wenn Ungleichheit als eine zentrale Ursache der Krise erkannt wird, ist damit auch dem Verursacherprinzip Rechnung getragen.
Als »finanzielle Repression« bezeichnen liberale Ökonomen eine Konstellation, in der staatliche Maßnahmen den Zugriff auf private Ressourcen abseits von Steuern sichern, um damit staatliche Schulden zu bedienen. Was im liberalen Binnenmarkt der EU bereits der Vergangenheit angehörte, hielt im Zuge der Krise wieder Einzug: In staatlicher Hand befindliche oder auf staatliche Krisenunterstützung angewiesene Banken wurden zur Kreditvergabe an den Staat ›überredet‹; Leitzinsen unterhalb der Inflationsrate sorgen für negative Realzinsen etwa bei den meisten Bankguthaben und für Staatstitel mit guter Bonität. Im Fall von Zypern wurde sogar das Tabu von Kapitalverkehrskontrollen innerhalb des Binnenmarkts gebrochen.
Was Steuern betrifft, haben einige EU-Staaten mit Bankenabgaben bescheidene Schritte in die richtige Richtung unternommen. Allerdings ist die Frage der ­Vermögensbesteuerung bislang nur sehr selektiv angegangen worden. Als technische Haupthindernisse galten bislang die hohe Mobilität des Kapitals und eine mangelnde internationale staatliche Kooperation. Doch die Aussichten auf eine internationale Zusammenarbeit in diesem Feld haben sich deutlich verbessert, da alle Schutzherren von Steueroasen dringend neue Steuereinnahmen benötigen und insbesondere das Vorgehen der USA gegenüber der Schweiz die Karten neu gemischt hat.
Was die internationale Mobilität betrifft, gibt es mit Island und Zypern zudem erste Präzedenzfälle für Kapitalverkehrskontrollen in Staaten mit einem entwickelten Finanzsektor, die im Gegensatz zur offiziellen Diktion keine kurzfristigen Übergangsmaßnahmen sein werden.
Somit rückt ein bedeutender steuerlicher Beitrag zur Lösung des Schuldenüberhangs in den Bereich des Denkbaren. Der einschlägige Vorschlag der Boston Consulting Group – einer der weltweit größten und profiliertesten Unternehmensberatungen – vom Herbst 2011 ist allerdings in seiner Radikalität bislang unerreicht: In einem gesamteuropäischen Ansatz wären alle staatlichen und privaten Schulden (von Privathaushalten und Unternehmen) zu streichen, wenn sie in der Summe mehr als 180 Prozent über dem Bruttoinlandprodukt eines Landes liegen. Die von den Verlusten betroffenen Finanzinstitutionen müssten vom Staat aufgefangen werden, der die Restrukturierung der Schulden mithilfe einer Einmalbesteuerung des Privatvermögens finanzieren könnte.

 

Erschienen in "Gespenst Europa" - Luxemburg 1/2014, S. 44ff. Jetzt kostenlos abonnieren unter www.zeitschrift-luxemburg.de