Zwischen Demokratie und Autoritarismus

Eine Einschätzung der politischen Situation in der Türkei nach den Gezi-Park-Protesten

Die politischen Verhältnisse in der Türkei sind in Bewegung geraten: die Konflikte zwischen einer autoritären und religiösen Regierung einerseits und einer vielfältigen demokratischen Bewegung andererseits haben sich drastisch zugespitzt. Wohin die Entwicklung gehen wird, ist derzeit nicht eindeutig absehbar. Pierre Hecker analysiert die jüngsten Auseinandersetzungen in der Türkei.

"Soll die Demokratie nun Ziel oder Werkzeug sein? Unserer Meinung nach kann die Demokratie niemals das Ziel sein. Wenn wir uns mit der Demokratie aus einer wissenschaftlichen Perspektive beschäftigen, werden wir feststellen, dass es sich dabei lediglich um ein Werkzeug handelt."1 (Recep Tayyip Erdogan, ca. 1997)

Die Demokratie nicht als Ziel, sondern als Werkzeug. Noch im Herbst 2011 hatte das amerikanische Nachrichtenmagazin Time den türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan auf das Cover seiner Novemberausgabe gehoben und ihn, den moderaten Islamisten, als unerschütterlichen Advokaten einer säkularen Demokratie gefeiert, der den Staaten des arabischen Frühlings zum Vorbild gereichen könnte. Sollte es einem islamischen Regierungschef tatsächlich vergönnt sein, zu erreichen, was sowohl den USA als auch der EU so lange versagt blieb? Sollte Erdogan derjenige sein, dem es gelänge, Herz und Verstand der Menschen in der arabischen Welt zu gewinnen und der Region Freiheit, Säkularismus und Demokratie zu bringen? Die Herzen der Menschen hatte er damals bereits im Sturm erobert. Erdogan galt der Bevölkerung als frommer Muslim, standhafter Kritiker Israels, Initiator des türkischen Wirtschaftswunders, Unterstützer der arabischen Volksaufstände und, nicht zuletzt, Garant für Freiheit und Demokratie. Seiner Beliebtheit schienen keine Grenzen gesetzt, und er hätte wohl so manche Wahl in der arabischen Welt für sich entschieden, hätte er als türkischer Politiker die Chance erhalten, anzutreten.

Gemischte Gefühle

Während sich die Anhänger Erdogans zu Hause in der Türkei gegenseitig stolz auf die Schulter klopften ob der internationalen Popularität ihres Regierungschefs und der neuen außenpolitischen Stärke der Türkei, so reagierten dessen Kritiker nur mit ungläubigem Kopfschütteln, galt ihnen der Premierminister doch als autoritärer Machtpolitiker, der nicht nur eine Gefahr für die laizistischen Grundfesten des Staates, sondern auch für die sich hierauf stützende Demokratie des Landes repräsentierte. Das Coverfoto der Time, welches einen vor Selbstbewusstsein strotzenden, mit verschränkten Armen ernst in die Kamera blickenden Premierminister zeigte, löste in der türkischen Bevölkerung gemischte Gefühle aus. War das Foto den einen Balsam für die nationale Seele, so war es den anderen eine schier unerträgliche Provokation. Auch die von der Time alljährlich durchgeführte Wahl zur Person des Jahres zeigte bereits damals, welch polarisierende Wirkung von Erdogans Person ausgeht. Aus der unter den Leserinnen und Lesern durchgeführten Onlineumfrage ging der gleich zweifach als Sieger hervor. Laut Angaben der Time hatte Erdogan den bei der Umfrage zweitplatzierten Barca-Spieler Lionel Messi förmlich deklassiert, lag er doch mit einem Mehr von 40% der Stimmen klar vor ihm. Überboten wurde die Zahl der für Erdogan abgegebenen Stimmen nur noch von der Zahl jener, die mit einem expliziten "Nein" auf seine mögliche Wahl zur Person des Jahres gestimmt hatten.2 Am Ende standen circa 120.000 Ja-Stimmen gegen 180.000 Nein-Stimmen und die Person des Jahres wurde ein anderer, nämlich der namenlose Protestierende.

Nur eineinhalb Jahre später tauchte Erdogans Foto erneut auf; diesmal allerdings nicht im Original, sondern digital modifiziert. Protestierende der Gezi-Park-Bewegung hatten sich des Time-Covers bemächtigt. Überschrieben mit dem Titel "The Dictator" zeigte es Erdogan nun mit Hitlerbart und Scheitel. Die Polemik hätte klarer nicht ausfallen können, stand sie doch in einem absoluten Kontrast zu den Lobliedern, die zahlreiche Intellektuelle über Jahre hinweg über Erdogan und die von ihm geführte Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (Adalet ve Kalkinma Partisi, AKP) gesungen hatten.

Zahlreiche Beobachter hatten angesichts des durchschlagenden politischen Erfolgs der AKP (Regierungsantritt 2002, Wiederwahl 2007 und 2011) einen Paradigmenwechsel in der türkischen Politik verkündet. Nicht nur sei es der AKP gelungen, den politischen Islam in ein säkulares, demokratisches System zu integrieren, sondern vielmehr auch das Militär zu entmachten und die rechtlichen Grundlagen für ein von Pluralismus, Demokratie und Menschenrechten geprägtes System zu schaffen. Die im Jahr 2001 gegründete AKP war aus der islamistischen Wohlfahrtspartei Necmettin Erbakans (1926-2011) hervorgegangen. Erbakan hatte selbst für kurze Zeit als Premierminister regiert, bevor er am 28. Februar 1997 vom Militär zum Rücktritt gezwungen wurde. Im gleichen Atemzug wurde die Wohlfahrtspartei vom türkischen Verfassungsgericht wegen anti-säkularer, das laizistische Wesen des türkischen Staates in Frage stellenden, Tätigkeiten verboten.

Post-islamistische Hegemonie

Die Karrieren nahezu aller führenden AKP-Politiker nahmen in der Wohlfahrtspartei ihren Anfang. Recep Tayyip Erdogan selbst leitete zunächst deren Jugendorganisation, bevor er in den 1990er Jahren zum charismatischen Bürgermeister Istanbuls avancierte. Die Gründung einer neuen Partei ist wohl gleichermaßen als Reaktion auf die restriktive Position des türkischen Verfassungsgerichts als auf interne politische Differenzen mit der alten Garde Erbakans zu sehen. Begleitet war die Parteigründung zudem von einer Annäherung an die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, welcher bis heute als Kontrahent Erbakans gilt. Die sich zwischen den ehemaligen Anhängern der Wohlfahrtspartei und der Fethullah-Gülen-Bewegung festigende Allianz ergab sich aus einer Reihe gemeinsamer Ziele. Beiden ging es um die Entmachtung des kemalistischen Establishments - zuvorderst des übermächtigen Militärs -, die Etablierung einer liberalen, profitorientierten Wirtschaftsordnung, die Rückbesinnung auf eine glorifizierend verklärte osmanische Vergangenheit und den Aufbau einer von religiösen Werten durchdrungenen, frommen Gesellschaft. Das globale Bildungs-, Wirtschafts- und Mediennetzwerk der Gülen-Bewegung trug signifikant zu den Wahlerfolgen der Partei und der Etablierung einer neuen, post-islamistischen Hegemonie in der Türkei bei.

Mit ihrem politischen Bekenntnis zu Demokratie, Menschenrechten, freier Marktwirtschaft, Säkularismus und EU brach die AKP tatsächlich mit gleich mehreren Grundsätzen der Wohlfahrtspartei, die auf eine Abkopplung von Europa, die Abschaffung des säkularen Systems und die Einführung religiöser Rechtsprinzipien hingearbeitet hatte. An die Stelle einer islamistischen Utopie setzte die AKP die Idee des demokratischen Konservatismus (muhafazakar demokrasi) - ein eher vages Konzept mit hoher Symbolwirkung nach Innen und Außen. Innenpolitisch ging es darum, dem kemalistisch geprägten Verfassungsgericht jegliche Grundlage eines neuerlichen Parteiverbotsverfahrens zu entziehen und der türkischen Wählerschaft zu versichern, dass sie nicht mit der Errichtung eines islamischen Staates zu rechnen habe; außenpolitisch sollte der EU und den USA im Kontext der Terroranschläge vom 11. September signalisiert werden, dass sie in der AKP einen politischen Partner würden finden können, dessen fromm-konservative, demokratische Prägung eine Vermittlerrolle mit der islamischen Welt würde übernehmen können.

Rückblickend scheint sich insbesondere ein rhetorischer Paradigmenwechsel beobachten zu lassen. Die AKP orientiert sich hierbei nicht zuletzt am weitverbreiteten Wunsch der Bevölkerung nach Demokratie, Menschenrechten, religiöser Freiheit und Wohlstand. Selbstbewusst initiierte die türkische Regierung in den vergangenen zwölf Jahren eine Umdeutung der bereits genannten politischen Konzepte. Das in der Verfassung verankerte Prinzip des Säkularismus wurde wohl klar bejaht, sollte aber eine grundlegende Neudefinition erfahren. Das kemalistische Verständnis von Säkularismus, welches eine strikte Trennung von Religion und Politik und eine Kontrolle religiöser Institutionen durch den Staat vorsah, sollte revidiert und durch ein neues Verständnis, welches Säkularismus im Kontext von Religion und Religiosität definiert, ersetzt werden. Faktisch kommt diese ideologische Neuausrichtung einem inhaltlichen Paradigmenwechsel gleich, welcher auf verschiedenen Ebenen von Staat und Gesellschaft - etwa im Bereich staatlicher Bildung oder Gesetzgebung - tiefgreifende Veränderungen nach sich ziehen mag.3 Tatsächlich ist es bis heute schwierig, präzise zu bestimmen, was die türkische Regierung tatsächlich meint, wenn sie von Säkularismus, Demokratie oder Pluralismus spricht. Geht es bei Pluralismus nun um ein Prinzip, welches die Ideen Andersdenkender schützend berücksichtigt oder gar um ein antiquiertes, auf das osmanische Reich rekurrierendes, religiös geprägtes Verständnis, welches Andersdenkende, die die Hegemonie der herrschenden Klasse anerkennen, bestenfalls toleriert, nicht aber gleichberechtigt anerkennt? Auch das Demokratieverständnis der Partei scheint sich in vielerlei Hinsicht auf den Akt des Urnengangs zu beschränken. Erdogan regiert seit Anbeginn seiner Amtszeit mit einer ›The-winner-takes-it-all-Mentalität‹, die keine Kritik oder abweichende Meinung toleriert und jeden Kompromiss als politische Schwäche wertet.

Protest und Repression

Die geschilderte politische Situation bildet die Ausgangslage für die landesweiten Proteste vom Sommer 2013. Auslöser der Unruhen war die gewaltsame Auflösung eines friedlichen Sit-ins gegen die Überbauung des Istanbuler Gezi-Parks. Die Wut über das brutale Vorgehen der Polizei wirkte wie ein Katalysator. Was als Protest weniger Umweltaktivisten begonnen hatte, entwickelte sich innerhalb weniger Tage zu einer landesweiten Widerstandsbewegung. Hunderttausende gingen in den nächsten Tagen und Wochen auf die Straße, um lautstark gegen die Politik der Regierung zu protestieren.

Schon in den vorangegangenen Monaten hatte es in Istanbul Demonstrationen gegen unpopuläre Maßnahmen der Regierung gegeben: Die Behörden hatten versucht, die traditionellen Mai-Kundgebungen der türkischen Arbeiterbewegung am Taksim-Platz zu verhindern, nachdem sich abzeichnete, dass diese zu Unmutsbekundungen gegenüber der Regierung genutzt werden würden. Die Straßen und Zugänge zum Taksim-Platz wurden systematisch abgeriegelt, die sich dennoch versammelnden Demonstranten in andere Stadtviertel abgedrängt. Im angrenzenden Stadtteil Sisli kam es in der Folge zu massiven Straßenschlachten mit der Polizei. Das Hauptziel der Regierung, die öffentliche Sichtbarkeit des Protests zu verhindern, konnte allerdings weitgehend erreicht werden. Ebenfalls im Mai hatte es medial weithin sichtbare Proteste gegen den Abriss des historischen Emek-Kinos im Stadtteil Beyoglu gegeben. Für weiteren Unmut unter der Bevölkerung hatte das ›Überschreiben‹ ganzer, vorwiegend verarmter, aber zentral gelegener Stadtviertel (Sulukule, Tarlabasi) gesorgt. Nachdem die AKP-regierte Stadtverwaltung offensichtlich über Jahre hinweg bauerhaltende Maßnahmen verhindert hatte, wurde die alteingesessene Bevölkerung in andere Stadtteile zwangsumgesiedelt, um profitable Neubauten zu errichten.

Die Motivationen für eine Teilnahme an den Demonstrationen waren vielschichtig. Sie richteten sich gegen eine profit- und ideologieorientierte Stadtplanung; massive Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit; die Marginalisierung und Stigmatisierung religiöser und sozialer Minderheiten; und die Transformation von Staat und Gesellschaft entlang der fromm-konservativen Vorstellungen der neuen Führungselite. Tatsächlich sprechen zahlreiche Maßnahmen der Regierung für den Versuch, der Bevölkerung eine von religiösen Prinzipien bestimmte Lebensweise aufzuoktroyieren. Hierzu gehören vielschichtige Maßnahmen zur Einschränkung des Alkoholkonsums, die Verbannung von Sexualität und Nacktheit aus Medien, Kunst und Schule, die Förderung kreationistischen Gedankenguts im Bereich Schule und Bildung, die institutionelle Stärkung der sunnitischen Hegemonie über andere Glaubensgemeinschaften, die juristische Verfolgung religionskritischer Äußerungen und die massive Reduzierung staatlicher Kulturförderung für vermeintlich kemalistisch geprägte Formen der Kunst wie Theater, Oper oder Ballett. Jüngst forderte der Premierminister gar den direkten Eingriff in die häusliche Privatsphäre, indem er verlangte, staatliche Behörden müssten das Zusammenleben nicht-verheirateter Paare und das Alleinleben nicht-verheirateter Frauen aus moralischen Gründen verhindern. Bedeutsam mit Blick auf den bereits eingangs konstatierten Paradigmenwechsel ist die an einem internationalen Diskurs orientierte Rhetorik: Alle der geschilderten Maßnahmen wurden zum Wohl der Bevölkerung verkündet, nämlich dem Schutz der Gesundheit, dem Schutz der Jugend, dem Schutz der Familie, dem Schutz der Frau, dem Schutz vor häuslicher Gewalt und, nicht zuletzt, dem Schutz der Demokratie.

Auf die landesweiten Proteste vom vergangenen Jahr reagierte die türkische Regierung mit allen Mitteln eines autoritären Staates: Polizeigewalt, Massenverhaftungen, Inhaftierungen, Strafverfolgung, Gewaltandrohung, Zensur, Entlassungen, Falschinformationen, regimetreuen Gegendemonstrationen und, nicht zuletzt, mit der Lancierung umfassender Verschwörungstheorien - wechselweise war es der Zionismus, die USA, Deutschland oder die EU, welche mittels der von ihnen finanzierten Proteste den Aufstieg der Türkei zu einer Großmacht verhindern wollten. Letztlich ging es um eine öffentliche Umdeutung der Ereignisse. Nicht gegen die Regierung oder die Person Erdogan richteten sich die Proteste einer kleinen Gruppe Unzufriedener, sondern gegen Nation, Religion und Demokratie. In diesem Zusammenhang stand auch eine systematische Stigmatisierung und rhetorische Entmenschlichung der Protestierenden, welche zu einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft beitrug: Plünderer, Putschisten, Terroristen, Atheisten und Feinde der Demokratie seien sie und nicht etwa Menschen, die demokratische Grundrechte für sich in Anspruch nahmen. Der Kampf um die Deutungshoheit dauert an und noch ist nicht klar, welches der beiden konkurrierenden Narrative in der türkischen Gesellschaft die Oberhand gewinnen wird.

Auswirkungen und Folgen

Was bleibt, ist die Frage nach den Auswirkungen der Gezi-Park-Proteste. Zweifellos haben die Unruhen vom vergangenen Sommer in bislang unbekanntem Maße unterschiedliche gesellschaftliche und politische Gruppen im Widerstand vereint. Der psychologische Effekt dürfte nicht zu unterschätzen sein, fühlten sich doch viele Menschen vor den Protesten in ihrem Unbehagen allein. Insbesondere auf das politische Bewusstsein der jungen Bevölkerung, scheint die Gezi-Park-Bewegung eine politisch prägende Wirkung zu haben. Schließlich sollte auch der anhaltende kreative Impuls auf Künstler, Intellektuelle und andere Kulturschaffende nicht vergessen werden. Internetblogs, Straßenkunst, Tagebücher des Widerstands, Fotobände, Kunstausstellungen, Comicstrips, Theaterstücke, Protestsongs und vieles mehr tragen zur Entstehung eines sich in die Erinnerung der Opposition einschreibenden, gegenhegemonialen Narrativs bei. In diesem Sinne sind die Ereignisse sicherlich als ein Moment der Demokratisierung der türkischen Gesellschaft zu sehen.

Gleichzeitig kann der Ausgang der Proteste aber auch als ein weiterer Schritt zu mehr Autoritarismus gelesen werden. Die Demonstrationen waren, trotz anfänglicher Erfolge, unter massiven Menschenrechtsverletzungen seitens der Polizei niedergeschlagen worden. Die Situation, an deren Ende Erdogan der Polizei für ihren "heldenhaften" Einsatz im Kampf um die Demokratie dankte, wurde offenbar von einer überwältigenden Mehrheit der AKP-Parlamentarier kritiklos gebilligt und unterstützt. Tatsächlich halfen die Proteste der Regierungspartei, ihre verbliebenen Gegner in Wirtschaft, Staatsapparat, Medien und Kulturindustrie zu identifizieren und im Nachgang der Ereignisse mundtot zu machen. Es kam zu gezielten Strafverfolgungen von Ärzten, die verletzten Demonstranten erste Hilfe geleistet hatten, zur Entlassung zahlreicher Journalisten und Nachrichtensprecher, zur Absetzung regierungskritischer Fernsehshows, zur Verweigerung von Stipendien und Wohnheimplätzen für Studierende, die an den Protesten teilgenommen hatten, und weiteren, gegen Oppositionelle gerichteten Maßnahmen, die von Menschenrechtsorganisationen dokumentiert wurden.4

Allerdings scheint das Handeln der Regierung während der Proteste auch einige langjährige Unterstützer zu einem Umdenken bewegt zu haben. Ehemalige intellektuelle Befürworter der AKP, wie der an der Middle East Technical University  (METU) in Ankara lehrende Politikwissenschaftler Ýhsan Dagi oder der Istanbuler Autor und Journalist Mustafa Akyol, gehören mittlerweile zu den schärfsten Kritikern Erdogans, nachdem sie dessen Partei noch unlängst in höchsten Tönen gelobt hatten. Dagi hatte die AKP zuletzt in einem 2013 erschienenen Beitrag als die nach Demokratie und Pluralismus strebenden Post-Islamisten der Türkei beschrieben.5 Akyol sah die Partei Erdogans als eine demokratisch-konservative Reformbewegung, die sich in ihrem Streben am Vorbild "westlicher Demokratien" orientierte.6 Heute klingt dies freilich anders. Beide Autoren konstatieren ein Versagen des Modells vom demokratischen Konservatismus. Statt nachhaltiger demokratischer Strukturen habe Erdogan die Etablierung eines autoritären Systems vorangetrieben. Nach erfolgreicher Entmachtung des kemalistischen Establishments sei die Idee der Demokratie schlichtweg über Bord geworfen worden. Die Hoffnung auf die Errichtung eines von Liberalismus und Demokratie geleiteten post-kemalistischen Staates sei zur Illusion verkommen. Stattdessen habe Erdogans Politik eine nachhaltig polarisierte Gesellschaft hervorgebracht. Die Idee, mittels staatlicher Intervention eine ›neue Gesellschaft‹ erschaffen zu wollen, sei offensichtlich. Dagi präzisiert seine Annahme mit den Worten:

"A conservative party with Islamist roots appears to be trying to legislate a particular way of life, using the state apparatus to impose its choice of morality, lifestyle and value system on the population as a whole."7

Die Frage, warum es zu diesem Gesinnungswandel kam, ist sicherlich teilweise über die Ereignisse während der Gezi-Park-Proteste zu erklären. Ebenso bedeutsam scheint aber das Auseinanderbrechen der Allianz zwischen AKP und Gülen-Bewegung im vergangenen Herbst. Akyol und Dagi hatten in der Vergangenheit offen mit der Bewegung um den islamischen Prediger Fethullah Gülen sympathisiert.

Autoritäre Staatsmacht

Gerüchte über Konflikte zwischen AKP und Gülen-Bewegung hatte es bereits seit mehreren Jahren gegeben. Bislang hatten sich beide Seiten aber in gegenseitiger Loyalität und Stillschweigen geübt. Auslöser für den nunmehr offen zu Tage tretenden Bruch war Erdogans Ankündigung, die von der Bewegung zahlreich unterhaltenen Privatschulen in der Türkei verstaatlichen zu wollen. Nachdem Erdogan offensichtlich nicht zu einem Einlenken zu bewegen war, reagierte die Bewegung auf ihre Art.

Seit langem hatte es Hinweise auf eine Unterwanderung der Polizei und Gerichtsbarkeit durch die Anhänger Gülens gegeben.8 Am Morgen des 17. Dezember leiteten nun zwei Staatsanwälte Untersuchungen wegen Korruptions- und Geldwäscheverdachts gegen die Söhne dreier Minister und mehrere einflussreiche Geschäftsleute ein, ohne den Innenminister oder gar den Premierminister im Vorfeld zu informieren. Tatsächlich brach die Aktion ein ungeschriebenes Tabu. In der Vergangenheit schien es vermehrt, als würden Polizei und Justiz gegen Mitglieder der Regierungspartei gerichtete Indizien auf Korruption und Vetternwirtschaft bewusst ignorieren. In Folge der Ermittlungen musste der Premierminister erstmals überhaupt in seiner mehr als zwölfjährigen Amtszeit nicht nur einen, sondern gleich zehn Minister ihres Postens entheben. Zugleich schlug er aber in gewohnt autoritärer Manier zurück, indem er alle Anschuldigungen abstritt, von einem parallelen, zum Putschversuch ausholenden Staat und einer amerikanisch-zionistischen Verschwörung sprach und eine systematische Säuberungsaktion gegen potentielle Gülen-Sympathisanten in Polizei und Gerichtsbarkeit durchführen ließ. In den vergangenen Wochen wurden hunderte führende Polizeikräfte ihres Amtes enthoben, Staatsanwälte ausgetauscht, eine Gesetzesinitiative zur Ausdehnung der Regierungsmacht auf die Gerichtsbarkeit und eine umfassende Zensur des Internets eingeleitet.

Die jüngsten Entwicklungen haben erneut Bewegung in die Debatte um Autoritarismus und Demokratie in der Türkei gebracht. Entscheidend für die weiteren Entwicklungen werden die Ergebnisse der Kommunalwahlen am 30. März sein. Der jüngste Konflikt mit der Gülen-Bewegung könnte die AKP mehrere Millionen Stimmen kosten; völlig unklar ist bislang aber, wohin die Stimmen der Bewegung wandern werden. Trotz der wachsenden Kritik an der Person Erdogans ist ein Sieg der AKP denkbar. Die Kommunalwahlen wiederum werden die Ausgangslage für die Präsidentschaftswahlen im Juni liefern. Eine Kandidatur Erdogans war bislang weithin angenommen worden, verbieten ihm parteiinterne Regularien doch, erneut als Premierminister zu kandidieren. Mit einem Sieg bei den Kommunalwahlen könnte er sich in seinem politischen Kurs erneut bestätigt sehen und auf eine Ausweitung autoritären Regierungshandelns setzen.

Anmerkungen

1) Während einer Rede vor arabischsprachigem Publikum (vgl. http://www.youtube.com/watch?v=GdBAUNQ5b2w).

2) Vgl. Nick Carbone 2011: "Recep Tayyip Erdogan: People's Choice for TIME's 2011 Person of the Year", TIME NewsFeed (online verfügbar unter: http://newsfeed.time.com/2011/12/12/recep-tayyip-erdogan-peoples-choice-for-times-2011-person-of-the-year/).

3) Nachzulesen ist dieser Paradigmenwechsel in einem Strategiepapier des Präsidenten der türkischen Religionsbehörde: Mehmet Görmez 2012: Religion and Secularism in the Modern World: A Turkish Perspective, SAM Papers, No.2, Ankara: Center for Strategic Research, Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs.

4) Z.B. Amnesty International (http://www.amnestyusa.org/sites/default/files/eur440222013en.pdf) oder die türkische Menschenrechtsorganisation Ýnsan Haklari Dernegi (http://www.ihd.org.tr/).

5) Ýhsan Dagi 2013: "Post-Islamism à la Turca", in: Asef Bayat (Hg.): Post-Islamism. The Changing Faces of Political Islam, Oxford und New York: Oxford University Press: 71-108.

6) Mustafa Akyol 2011: Islam without Extremes: A Muslim Case of Liberty, New York und London.

7) Ýhsan Dagi 2013: "Postmodern authoritarianism in action", in: Today's Zaman,10. November 2013.

8) Vgl. Ahmet Sik 2011: 000Kitap. "Dokunan Yanar", Istanbul: Postaci Yayinevi; Nedim Sener 2010: Ergenekon Belgelerinde Fethullah Gülen ve Cemaat, Istanbul: Destek Yayinevi.

Pierre Hecker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Universität Marburg. Sein Schwerpunkt in Forschung und Lehre liegt auf sozial- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen der modernen Türkei. Neben zahlreichen Beiträgen in Fachzeitschriften und Sammelbänden erschien im Sommer 2012 sein Buch "Turkish Metal. Music, Meaning, and Morality in a Muslim Society". Sein aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit "Popular Culture and Resistance" im Zusammenhang mit den Istanbuler Gezi-Park-Protesten.