EU-Europa

Das Jahr 2014 ist ein Jahr der Europawahlen und zugleich das Jahr des 100. Jahrestages des Ersten Weltkrieges. Die Apologeten der Europäischen Union, die sie für die beste der möglichen Welten halten, verhimmeln sie zur großen Schlussfolgerung aus den verheerenden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, die mit dem Ersten Weltkrieg als dem „Urereignis“ begannen. So muss es linke Positionierung sein, dieser Verhimmelung kritische Sichten entgegen zu setzen. Die aber dürfen die Verbindung zu den wirklichen Verhältnissen nicht verlieren.
Ja, es ist im Kern richtig, dass die EU oder bereits ihre Vorläufer in Gestalt der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), dann der Europäischen Gemeinschaft (EG) etwas mit der Friedensfrage zu tun hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten Deutschland – in Gestalt der Westzonen-BRD – und Frankreich in einer unauflöslichen Gemeinschaft miteinander verbunden werden, in der die Kosten deren Auflösung stets höher sein sollten als die der Beibehaltung. Und um das Konstrukt aus dem deutsch-französischen Bilateralismus herauszuholen, wurden die Benelux-Staaten sowie Italien mit ins Boot geholt, und es wurde eine supranationale Verwaltungsstruktur geschaffen, die das Ganze kontrollieren und führen sollte. Diese Ideen von Jean Monnet, der vor dem Zweiten Weltkrieg als Stellvertretender Generalsekretär des Völkerbundes und während des Krieges für die Koordinierung der Kriegsproduktion zwischen Großbritannien und den USA gearbeitet hatte, lagen allen Metamorphosen der EU bis heute zu Grunde. Sie war von Anfang an als Eliten-Veranstaltung gedacht, die den Windungen und Wendungen demokratischer Mehrheitsentscheidungen möglichst wenig zugänglich sein sollte. Insofern ist es Unsinn, von der EU als einer „undemokratischen Macht“, die dazu erst vor einiger Zeit geworden sei, zu sprechen. Sie wurde als undemokratische Einrichtung geschaffen – und wurde in den vielen Jahren ihrer Existenz etwas demokratisiert, zwar nur teilweise, aber immerhin. Etwa in Gestalt der Rechte des Europäischen Parlaments bei der Bestellung der Europäischen Kommission, der Keimform einer EU-Regierung, und dem Budgetrecht.
Im Leitantrag zum bevorstehenden Europaparteitag der Linkspartei heißt es, die Europäische Union sei „einst eine Hoffnung für die Menschen“ gewesen. Für welche Menschen? Viele junge Menschen im Grenzgebiet der alten BRD zu Frankreich oder Belgien haben sich Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre für ein „Vereintes Europa“ ohne Grenzpfähle ausgesprochen, darunter auch viele Christdemokraten. Da die EGKS und die EWG aber zugleich Einrichtungen des Kalten Krieges waren, die dem raschen Wiedererstarken des westeuropäischen Kapitalismus gegen die Sowjetunion und die Länder des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe dienen sollten, war im Osten – auch Deutschlands – zunächst die Erinnerung an Lenin analyseleitend, Vereinigte Staaten von Europa seien unter kapitalistischen Bedingungen „entweder unmöglich oder reaktionär“. Insofern warteten die Kommunisten auf den Zusammenbruch der EWG oder hoben ihren stets reaktionären Charakter hervor.
Es waren in der DDR Analysen aus dem Babelsberger Institut für Internationale Beziehungen, in denen seit Anfang der 1970er Jahre herausgearbeitet wurde, dass diese alte Antwort nicht ausreicht, dass die EWG, dann die EG als eine neue Form der kapitalistischen Regulierung angesehen werden musste, die mit einer neuen Phase der weltweiten Entwicklung des Kapitalismus verbunden ist. Nach dem Ende des Realsozialismus hat sich die PDS auf diesen Standpunkt gestellt, nämlich nicht nur die größere BRD, die durch die deutsche Vereinigung zustande gekommen war, sondern auch die EU als politisches Handlungsfeld hinzunehmen. Im Grunde so, wie August Bebel und die anderen Gründer der deutschen Sozialdemokratie seit 1871 bei aller Kritik an der groß-preußischen Politik das Deutsche Reich als Handlungsraum hingenommen haben, der nicht durch Rückkehr zur Kleinstaaterei zu ersetzen war. Dies gilt auch heute für die EU.
Walter Baier, Koordinator des linken europäischen Netzwerkes „Transform“ hat zusammen mit Elisabeth Gauthier (Frankreich) und Haris Golemis (Griechenland) in der Doppel-Nummer der Zeitschrift Transform 2013 (http://transform-network.net) betont, dass ein Austritt aus der Euro-Zone, ein Zerfall des Euro oder der EU die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der EU-Länder und der von der Krise besonders betroffenen Bevölkerungen nicht lösen, sondern vielmehr drastisch verschlimmern würden. Ein solches Szenario wäre für die arbeitenden Klassen und die europäischen Bevölkerungen noch schlechter. Es würde ein Abwertungswettlauf der Währungen in Gang gesetzt, der die Klassenkonflikte auf europäischer Ebene wieder in Staaten-Konflikte verwandeln würde, in denen die großen europäischen Mächte – allen voran Deutschland – wieder um Einflusszonen und Vorherrschaft kämpfen würden. Zudem sind die Wirtschaftspolitiken und die Institutionen innerhalb der EU-Staaten in den vergangenen über 25 Jahren nach denselben neoliberalen Konzepten umgebaut worden, wie die Institutionen der EU. Der Ausweg aus der Krise kann also nicht in einer Re-Nationalisierung der Politik gesucht werden, sondern er liegt in „einer anderen wirtschaftlichen Konzeption“. Das heißt: „Die heutigen sozialen und politischen Kämpfe zielen darauf, die Austeritätsmaßnahmen zu stoppen und insbesondere die Völker Süd- und Osteuropas aus dem Würgegriff der Troika und der Finanzmärkte zu befreien, um so die Bedingungen für einen sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau zu schaffen.“ Derartige Lösungen funktionieren nur auf einer gesamteuropäischen Ebene.
Auf dem Parteitag der Europäischen Linken (EL) in Madrid im Dezember 2013 hatte Walter Baier ganz in diesem Sinne hervorgehoben: „Wir können… nicht ausschließen, dass der Euro aufgrund der Widersprüche, die innerhalb der herrschenden Eliten bestehen, auseinanderbricht. Nur, lasst mich eines aussprechen. Transform hat viele Debatten und Forschungen zu diesem Thema durchgeführt. Dabei sind wir auf kein überzeugendes Argument dafür gestoßen, dass ein solches Auseinanderbrechen der europäischen Integration ein für die Bevölkerungen und die arbeitenden Klassen günstiges Szenario wäre.“ An den Machtverhältnissen in Europa würde sich nichts ändern, und sich mit der schwierigen Lage auf rein nationalstaatlicher Ebene auseinandersetzen zu wollen, ist keine realistische Option. „Wir glauben also nicht, dass die Zerstörung oder Auflösung der europäischen Union eine positive Alternative darstellt, sondern meinen, dass wir den Kampf um ein anderes Europa und eine andere Richtung der europäischen Integration führen müssen.“
Und hier kommt den kritischen politischen Kräften in Deutschland, dessen Regierung die in der Krise bisher gemachte Politik in besonderer Weise veranlasst hat, eine besondere, eine besonders hohe Verantwortung zu.