Demokratiebildung in der Debatte um Rancières Begriff der Demokratie und Postdemokratie

In den aktuellen Debatten um die Analysen der Demokratieentwicklung, die unter der These der „Postdemokratie“ zusammengefasst werden, wird auch gefragt, wie das Verhältnis der Sozialen Arbeit zu Demokratie kritisch zu revidieren sei. Dabei wird auch auf das Demokratiekonzept von Rancière zurückgegriffen, der den kritischen Begriff der Postdemokratie als erster verwendet hat.  Beiträge, die Rancières Position für eine (Selbst-)Hinterfragung der Sozialen Arbeit aufnehmen, kritisieren aus dieser Perspektive, dass die im weitesten Sinne der Habermas‘schen Kommunikationstheorie nahestehenden Positionen der Demokratiebildung trotz ihrer erklärten Absicht einer Revitalisierung des Politischen in der Sozialen Arbeit durch eine Potenzierung der demokratischen Mitbestimmungsrechte der Adressaten in den sozialpädagogischen Organisationen und Kommunen allzu leicht einer „Logik der Entpolitisierung“ selbst verhaftet blieben, „weil sie die grundlegendste Bewegung der Politisierung überspringen und den Blick auf die Tatsache verstellen, dass soziale Identitäten, politische Gemeinschaften sowie die Kriterien, mit deren Hilfe sie organisiert werden, auf konstitutiven Ausschließungen beruhen, die selbst immer Gegenstand des politischen Streits sind und ein historisches Ergebnis dessen markieren“ (Lütke-Harmann/Kessl 2013: 144).

Im Folgenden versuche ich, darauf zu antworten, indem ich mithilfe von Rancières Demokratie- bzw. Politikbegriff prüfe, inwieweit Ansätze der Demokratiebildung solche „konstitutiven Ausschließungen“ und die Unvermeidbarkeit „politischen Streits“ zu wenig beachten, um daran die eigene Position zu schärfen. Die handlungswissenschaftlichen Anstrengungen der Demokratiebildung, Konzepte der anerkennenden erzieherischen Beziehungsgestaltung und institutionellen Berechtigung von Adressaten zur demokratischen Mitentscheidung im Rahmen der Sozialpädagogik (also der Kinder- und Jugendhilfe allgemein und der Jugendarbeit und Elementarpädagogik im Besonderen) und der Kommune zu begründen, für die Praxis nutzbar zu machen und ihre Realisierung zu reflektieren (vgl. Richter 2001, Richter/Sturzenhecker 2011, Hansen/Knauer/Sturzenhecker 2011, Sturzenhecker 2013), sind nicht ohne Weiteres mit Rancières philosophischen und theoriesystematischen Begriffsbildungen in Verbindung zu bringen. Dennoch sollen unter Berücksichtigung dieser Differenz transversale Bezüge ausgelotet werden[1].

 

Zu Rancières Demokratiebegriff

Für Rancière ist Gleichheit zentrale Voraussetzung, entscheidender Handlungsimpuls und doch nie einlösbarer Anspruch von DEMOKRATIE[2]. „Da die Gleichheitserklärung irgendwo existiert, kann sie und muss sie Wirkung haben“ (DuP: 132). Zwar ist der „Gleichheitstext“ in der Welt, aber, wie Rancière am Beispiel der antiken politischen Philosophie von Platon und Aristoteles erläutert, bestehen deren Anstrengungen, die Teile einer Gesellschaft ordnend zu bestimmen und (anti-demokratische) Herrschaftssysteme zu begründen, darin, dass einerseits das Volk, der Demos, als teil-haftig konstituiert wird, ihm aber gleichzeitig die Qualität der Anteilslosigkeit zugeschrieben - also Gleichheit wieder negiert wird. Es sind die reichen Oligarchen und die tugendhaften Aristokraten, die in dieser Aufrechnung der Be-teil-igung auf Grund dieser ihrer Qualitäten Anteilsanrechte auf die Herrschaft haben. Der Demos hingegen ist die „Versammlung der Männer ohne Eigenschaften, die, wie Aristoteles sagt, „Anteil an nichts haben““, „eine undifferenzierte Masse derer, die keine positiven Anspruchsrechte haben – weder Reichtum noch Tugend - , und denen aber dieselbe Freiheit zuerkannt wird, wie denen, die diese Anrechte besitzen“ (Dun: 21). Die Anteilslosen gehören dazu, haben aber nichts zu sagen. Und das nicht nur im Sinne der Mitentscheidungsmacht, sondern zunächst ganz wörtlich in dem Sinne, dass ihnen die Sprach-Mächtigkeit aberkannt wird. Das macht Rancière an seinem zentralen Beispiel, der Erzählung des Titus Livius vom Konflikt der römischen Plebejer mit den aristokratischen und reichen Senatoren (von 494 v. Chr.) fest: Die römische Unterschicht war aus Protest gegen ungerechte Behandlung und mangelnde politische Mitbestimmung aus der Stadt ausgezogen und der Patrizier Menenius Agrippa erhielt den Auftrag, sie zur Rückkehr zu bewegen. Das aber bringt ihn in ein Dilemma: Denn einerseits sprechen die Senatoren den Plebejern ihre Sprechfähigkeit ab und schreiben ihnen nur eine Artikulation zu, die „eine Art flüchtiger Ton, eine Art Brüllen, Zeichen des Bedürfens, nicht Manifestation der Intelligenz“ (DUn: 35) sei, andererseits muss sie der Verhandler, um Verständigung zu ermöglichen, als sprechende und verstehende Menschen behandeln und damit die „Gleichheit eines jeden sprechenden Wesens mit einem jeden anderen sprechenden Wesen“ (DuP: 128) konstatieren.

An dieser Geschichte werden für Rancière die beiden zentralen Elemente seines Demokratiebegriffs deutlich: Zum einen die Anstrengung der Herrschenden, ihre Aufteilung der Gesellschaft als herrschende Ordnung durchzusetzen, dieses Phänomen bezeichnet er als POLIZEI[3]; zum anderen die Möglichkeit, sich dieser Ver-ortung und Ein-ordnung zu widersetzen, und das bezeichnet er als POLITIK oder DEMOKRATIE. „Die Polizei ist somit zuerst eine Ordnung der Körper, […] die dafür zuständig ist, dass diese Körper durch ihre Namen diesem Platz und jener Aufgabe zugewiesen sind; sie ist eine Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist, und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird, und jedes andere als Lärm“ (Dun: 41).

Dieses Phänomen, dass ein Gesprächspartner den anderen gleichzeitig vernimmt und auch nicht vernimmt, dass er dem anderen Lärm, aber nicht Sprache zuweist, nennt Rancière das „Unvernehmen“ (franz.: la mésentente). Erst wenn diejenigen, die als ein Teil verortet werden, ohne jedoch einen Anteil (am öffentlichen Sprechen und Entscheiden) zu haben, gegen dieses Unrecht aufstehen und die Gleichheitslogik gegen die POLIZEILICHE Ordnung stellen, entsteht POLITIK bzw. DEMOKRATIE: Demokratie „ist eine Subjektivierungsweise, die Subjekte bildet, die nicht mit den Teilen des Staates oder der Gesellschaft zusammenfallen, freischwebende Subjekte, von denen jede Darstellung von Orten und Einteilung in Unordnung gebracht wird“ (DuP: 127). Durch solche POLITISCHEN Interventionen entsteht ein Streithandel oder Streitfall (franz.: litige) der DEMOKRATIE, der darin besteht, für „jeden einzelnen Konflikt eine Bühne zu schaffen, auf der sich die Gleichheit oder die Ungleichheit der Konfliktpartner als sprechende Wesen ins Spiel bringt“ (Dun: 63). Solche DEMOKRATIE entsteht aber immer nur „singulär“ und nicht auf Dauer, denn als Folge werden neue POLIZEILICHE Ordnungen geschaffen und damit ein verändertes Muster der Zu-teilung, der Einschließung und Ausschließung. Es entsteht eine oszillierende Bewegung der Politisierung und Entpolitisierung, „weil mit jeder Implementierung gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen die Institutionalisierung neuer Strukturen sozialer Ungleichheit und der Ausschließung spezifischer Bevölkerungsgruppen von der politischen Souveränität einhergeht“ (Lütke-Harmann /Kessl 2013: 140). Die aktuellen Entwicklungen in den westlichen Demokratien, diese politischen Schwingungen möglichst auf Dauer zu verhindern, nennt Rancière „Postdemokratie“, eine Praxis der „Auslöschung der Formen demokratischen Handelns“ und „das Denken einer restlosen Übereinstimmung zwischen den Formen des Staates und dem Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Dun: 111). Eine solche postdemokratische Praxis macht er fest „an der wuchernden Verrechtlichung, den verallgemeinernden Expertenpraktiken, der ständigen Meinungsforschung“ (DuP: 145). Die POLIZEI in der Postdemokratie ist quasi immer schon da: Jede Subjektivierung und jeder Streithandel soll verhindert werden durch eine meinungsforscherisch informierte Responsivität, die alle potentiellen Streitfälle schon durch rechtliche Regelungen und expertokratische Lösungen harmonisiert und finalisiert.

 

Rancière und eine konfliktorientierte Sozialpädagogik

Versteht man Sozialpädagogik nicht einseitig als POLIZEI (als solche ordnen Lütke-Harmann /Kessl etwa Konzepte des 'Normalisierungsauftrages' der Sozialen Arbeit ein), sondern als ein doppelgesichtiges Geschehen zwischen einer Thematisierung gesellschaftlicher Konflikte UND einer Integrationsorientierung, wäre sie eine Bühne, auf der der beständige Oszillationsprozess von POLITIK und POLIZEI sich inszeniert. So bestimmt Hamburger (2011: 11ff. in Bezug auf Böhnisch 1979: 22) Sozialpädagogik als „Theorie des Konflikts“ zwischen Individuum und Gesellschaft. „Sie konzentriert sich auf die Differenzen, die zwischen dem individuellen Wollen und Können einerseits, dem sozialen Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten und Grenzen andererseits bestehen. Weil individuelle Probleme in soziale Probleme integriert sind, richtet sich das sozialpädagogische Interesse auf die Differenz von Realität und fehlender Anerkennung dieser Realität, also auf soziale Probleme. Weil in die Bewertung von real bestehenden Zuständen Normalitätsvorstellungen und Wertorientierungen einfließen, analysiert die Sozialpädagogik Homogenitätsvorstellungen und Differenzbedürfnisse, Ungleichheitszustände und Modelle sozialer Gerechtigkeit. Schließlich zwingt die Orientierung am Konflikt zur komplementären Orientierung an sozialer Integration, sei es des Individuums, sei es von Gruppen“ (a.a.O.:17). Damit könnte schon alles gesagt sein: Die „Differenz von Realität und fehlende Anerkennung dieser Realität“ kann als Variante der Rancièreschen Formel vom „Teil und der Anteilslosigkeit“ gelesen werden, der Verweis auf die „Homogenitätsvorstellungen und Ungleichheitszustände“ als selbstkritisches Bewusstsein der Voraussetzung von Ungleichheitskonflikten und ihrer sozialpädagogischen Bearbeitung durch Homogenisierung bzw. Harmonisierung. Mit Hamburger kann eine so verstandene Sozialpädagogik  nicht nur bei der Bezeichnung und Skandalisierung solcher Ungerechtigkeit stehen bleiben, sondern sie muss letztlich eine „integrative“ Bearbeitung dieser Konflikte eröffnen, im selbstreflexiven Wissen um diesen bekannten strukturellen Selbstwiderspruch der Sozialpädagogik.

Zu ganz ähnlichen Vorstellungen kommen auch Konzepte einer konfliktbewussten Sozialen Arbeit: „Soziale Konflikte und deren Verursachungszusammenhänge als Folge gesellschaftspolitischer Interessengegensätze sind Stoff der Sozialen Arbeit. In ihrer Praxis bezieht sie sich immer auf sie, sei es regulierend, schlichtend oder auf- und eingreifend im Sinn von Aufklärung und Parteinahme. Politisierende (gemeinwesenorientierte) Arbeit verweist in ihrer Grundrichtung auf das Sichtbarmachen dieser Konfliktstrukturen und ist somit geradezu gekennzeichnet durch das Aufdecken von und der Arbeit mit Konflikten“ (Bitzan/Köck 1993: 25, zit. n. Herrmann 2006: 122f.). Auch hier ist der Doppelcharakter der Sozialen Arbeit zwischen einer DEMOKRATISCHEN Skandalisierung und einer POLIZEILICHEN Schlichtung, zwischen einer politisch eingreifenden Problematisierung von und (vermittelnder) Arbeit mit gesellschaftlichen Konflikten erkennbar. Zudem wird diese Aufgabe im Gemeinwesen lokalisiert (analog zur Kommunalpädagogik von Helmut Richter und zu machtkritischen Sozialraumkonzepten wie von Kessl/Reutlinger). Damit ist es die Aufgabe einer sich als politisch-gesellschaftlicher Akteur verstehenden Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit oder Sozialpädagogik, „Ungleichheitszustände“ zu skandalisieren und „Modelle sozialer Gerechtigkeit“ dagegen zustellen. Das gilt zum Beispiel in Bezug auf Armut, denn nach Rancière ist POLITIK auch „die Unterbrechung der einfachen Wirkungen der Herrschaft der Reichen“ (Dun: 24). Ein solcher politischer Umgang mit dem doppelten Mandat der Sozialen Arbeit scheint mir inzwischen zu ihrem (zumindest konzeptionellen) Gemeingut zu gehören (vgl. Böllert 2011: 437ff.). Im Blick auf solche konfliktbewussten Bestimmungen des doppelten Charakters der Sozialpädagogik kann ihnen kaum eine einseitige „Logik der Entpolitisierung“ unterstellt werden, wohl aber die reflexive Selbstbeschreibung als „Bühne“ der Thematisierung politisierender Konflikte UND ihrer „schlichtenden“ Bearbeitung, also als Zusammenhang von Politisierung UND Entpolitisierung, dessen Konflikthaftigkeit auf Dauer gestellt ist.

 

Demokratiebildung

Positionen der Demokratiebildung können sich dieser sozialpädagogischen Konfliktorientierung anschließen. So kritisiert Helmut Richter (vgl. 2011) die ungleiche Machtkonstellation des in der Bundesrepublik seit den fünfziger Jahren herrschenden Modells der „Konkurrenzdemokratie“ oder der „Elitendemokratie“ nach Schumpeter. Er kritisiert (damals ohne Kenntnis von Rancière) mit einer durchaus Rancièrschen Argumentation den aristotelischen Ausgangspunkt der Konkurrenzdemokratie: „[…] nach Aristoteles gründet die Demokratie auf dem Grundsatz der Freiheit, das heißt‚ leben zu können, wie man will‘. Hieraus folgt für Aristoteles, ‚dass man am liebsten sich nicht regieren lässt, und zwar am liebsten von niemandem, soweit dies aber unmöglich ist, nur abwechslungsweise‘. Und hieraus folgt ebenso, dass die Armen, weil sie die Mehrzahl bilden, durch ihre Mehrheitsbeschlüsse auch ‚die bindende Gewalt über alles‘ (Aristoteles 1965, 1317b 1-17) haben und damit die Freiheit umgrenzen, sie selbst aber nicht bestimmen oder bilden“ (Richter 2011: 230).

Damit rückt Richters Kritik[4] an der Elitendemokratie und deren Zählung der Armen als Teil des Demos bei gleichzeitiger Vorenthaltung ihrer Stimme/ihres Anteils auch in die Nähe der Kritik an Postdemokratie: Kann man doch auch in der Konkurrenzdemokratie mindestens die Aspekte der Expertokratie und einen per Meinungsforschung betriebenen Machterhalt der Eliten erkennen.

Wo aber Rancières politikphilosophische Kritik endet, beginnt für Richter erst die Aufgabe der Sozialpädagogik. Sie müsse nämlich auf den „Bildungsaspekt“ von Demokratie mit der Frage „Wo wird Mensch Demokrat?, und: Wo kann Mensch Demokrat sein?“ fokussieren (a.a.O.: 228). Denn bei Rancière bleibt völlig offen, wer sich wo und weshalb auf den „Gleichheitstext“ berufen und in solcher „Subjektivierung“ eine singuläre POLITIK gegen das Unrecht stellen könnte. Die Sozialpädagogik beschäftigt sich nun aber nicht so sehr mit einer politikwissenschaftlichen Demos-Genese, sondern besonders mit der Ontogenese der Subjekte unter sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen. Demokratiebildung fragt also, wie es möglich werden kann, dass Gesellschaftsmitglieder, besonders Kinder und Jugendliche, ihre Stimme erheben und ihre demokratische Teil-Nahme selbst betreiben.

Damit geht Demokratiebildung von der strukturellen Unvermeidbarkeit solcher Konflikte zwischen Individuen/Gruppen und herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen aus und antwortet darauf mit drei Grundprinzipien:

1. mit der Anerkennung ihrer Adressaten als sprachmächtiger, d.h. demokratiefähiger Subjekte in den sozialpädagogischen Beziehungen, und

2. mit dem Angebot von „entgegenkommenden Institutionen“, die wechselseitige Anerkennung und intersubjektive Verständigung eröffnen durch die Bereitstellung von demokratischen Rechten und Prozeduren der Mitentscheidung - gerade auch für Kinder und Jugendliche; das bedeutet also gesellschaftliche und innerinstitutionelle Konflikte thematisierbar zu machen und sie mit Versuchen einer diskursiven Verständigung zu bearbeiten.

Es wird 3. davon ausgegangen, dass eine solche Performanz (und nicht etwa eine vorgeschaltete „Kompetenzvermittlung“) von Demokratie den Betroffenen eröffnet, ihre Stimme zu ihren Anliegen öffentlich zu erheben, also DEMOKRATIE zu praktizieren und Ungleichheit und Ungerechtigkeit anzuklagen, dann aber auch mit Gegenübern neue Verhältnisse auszuhandeln. Das soll im Folgenden näher erläutert werden.

Eine anerkennende Thematisierung der Sprachmächtigkeit und Demokratiefähigkeit der kindlichen/jugendlichen Adressaten ist zunächst in der Gesellschaft wie der sozialpädagogischen Tradition nicht selbstverständlich. Stattdessen zeigt sich in Bezug auf Kinder/Jugendliche eine Variante des Unvernehmens und der Zuweisung eines anteilslosen Teils. Das wird etwa erkennbar an der Bestimmung von Kindern/Jugendlichen als Subjekten des Grundgesetzes, also als Teil der Gesellschaft: „Außer Streit steht, dass das Grundgesetz bereits in seiner jetzigen Fassung die Subjektstellung des Kindes gewährleistet“ (Eichholz 2008: 16). Dem steht jedoch eine weitestgehende Rechtlosigkeit und Bevormundung von Kindern und Jugendlichen in fast allen Rechtsbereichen entgegen: Sie werden als Teil verrechnet, haben aber keinen Anteil.

Ihre Anteilslosigkeit zeigt sich in pädagogischen Konzepten in der Zuweisung des grundsätzlichen Status des  „noch-nicht“: Kinder und Jugendliche seien „noch-nicht“ mündig, sondern müssten aus diesem Status heraus erst zur Mündigkeit befähigt werden. So das Theorem des  pädagogischen Paradox, nach dem die Unmündigen kontrafaktisch als mündig behandelt werden sollen (vgl. etwa Brumlik 1992, Honneth 2012). Aber bei Weitem nicht alle (sozial)pädagogischen Traditionen wollen so taktvoll zwischen Unmündigkeit und Bemündigung balancieren. Artikulation von Kindern und Jugendlichen wird von vielen Konzepten und Praktiken nur als „Lärm“ (un)vernommen und als „Zeichen des Bedürfens, nicht [als] Manifestation der Intelligenz“ (Dun: 35) interpretiert. Wer aber nicht über menschliche Sprache (Logos), sondern nur über tierhafte Stimme/Töne (Phone) verfügt (vgl. Dun: 33f.), die/der darf nach dieser Logik klientifiziert und pathologisiert und - unter Umständen mit Gewalt - an den Platz gestellt werden, dem die pädagogische POLIZEI ihrem/seinem Körper zuweist - das zeigt die bis heute fortgesetzte Geschichte der Gewalt in der (Sozial-)Pädagogik.

Die Konzeption des pädagogischen Diskurses von Helmut Richter (vgl. 2001) kritisiert das pädagogische Paradox in seiner Unterstellung von Unmündigkeit. Er setzt dagegen, dass dieselbe Mündigkeit, die gesellschaftlich ohne jegliche Prüfung für alle Erwachsenen angenommen wird, faktisch auch für Kinder und Jugendliche unterstellt werden muss, „und zwar nach derselben Maßgabe wie dies zum Beispiel in einer demokratischen Gesellschaft für die Wahlfähigkeit der Wahlberechtigten zu unterstellen ist: Nach der Maßgabe nämlich, dass Betroffenheit eine eigene Kompetenz darstellt“ (Richter 2001: 177). Demokratiebildung kann nicht ungleiche Anteile (an Mündigkeit) zuweisen, sondern muss vom gleichen Teilnahmerecht und der gleichen Teilnahmemündigkeit aller Betroffenen ausgehen. Eine solche "Erziehung zur Mündigkeit in Mündigkeit" (a.a.O.: 178), die von Anfang an eine intersubjektive Beziehung zwischen Kind und Bezugspersonen unterstellt, besser: ko-produziert, kann sich beziehen auf die Erkenntnisse von Tomasello (vgl. z.B. 2009, 2010): Er zeigt (auch experimentell), dass schon vorsprachliche Kleinkinder Intentionalität bei sich und anderen unterstellen („er ist ich“) und auf dieser Basis gemeinsames Handeln kooperativ koordinieren („Wir-Intentionalität“).

Kleinkinder „formen mit anderen gemeinsame Ziele, denen sich beide Parteien normativ verpflichtet fühlen, sie entwickeln gemeinsame Aufmerksamkeit sowie einen gemeinsamen konzeptionellen Hintergrund, und sie schaffen gemeinsam symbolische, institutionelle Realitäten […]“ (Tomasello: 83). Da solche kooperativen Aktivitäten immer schon im Horizont einer „Wir-Perspektive“ oder Gesellschaft stattfinden, ist der beschrieben Prozess stets auch eine Akkulturation: Subjektivierung des Individuums und Vergesellschaftung entstehen zusammen unter seiner aktiven Mitwirkung als betroffene Person.[5] Solche frühe Performanz symbolischer Kommunikation und Kooperation kann von vornherein in der Erziehungs-Beziehung an- und aufgenommen und damit unterstützt werden[6]. Kinder und Jugendliche können so als Basis demokratiebildender Beziehungen in der „Gleichheit eines jeden sprechenden Wesens mit einem jeden anderen sprechenden Wesen“ (DuP: 128) anerkannt und es können in Folge zu Konfliktthemen gemeinsamer Betroffenheit (vorläufige) Umgangsweisen ausgehandelt werden.

Wurde mit dem Bezug auf Tomasello schon die Ermöglichung eines selbstreflexiven Bezugs auf eigene Intentionalität im Medium des Sozialen erkennbar, vertieft Honneths Deutung von Hegels Konzept der „wechselseitigen Anerkennung“ (vgl. 2011: 81ff.) noch die Bedeutung von Institutionen bei der Realisierung „reflexiver Freiheit“ als „sozialer Freiheit“. In Hegels Formel „Bei-sich-sein im Anderen“ ist „eine Bezugnahme auf soziale Institutionen immer schon mitgedacht, als nur eingespielte, verstetigte soziale Praktiken, die Gewähr dafür bieten, daß die beteiligten Subjekte sich wechselseitig als Andere ihrer Selbst anerkennen können; und nur eine solche Form der Anerkennung ist es, die es dem einzelnen ermöglicht, seine reflexiv gewonnenen Ziele überhaupt umsetzen und verwirklichen zu können“ (Honneth 2011: 86f.).

Es sind solche Institutionen, die eine soziale Freiheit möglich machen, sie tragen „dazu bei, die individuierten einzelnen zu einem intersubjektiven Verständnis ihrer Freiheiten überhaupt erst zu befähigen; denn nur durch das Hineinwachsen in Praktiken, deren Sinn die gemeinsame Verwirklichung komplementärer Zielsetzungen ist, lernen sie sich als selbstbewußte Mitglieder von freiheitsverbürgenden Gemeinschaften zu verstehen“ (a.a.O.: 93f.).

Erst müssen die Einzelnen solche Erfahrungen sozialer Freiheit in anerkennenden Institutionen machen, bevor sie zu diesen Institutionen und ihren Ordnungen Stellung beziehen, also sich auch „selbstbewußt“ kritisch und abgrenzend dazu verhalten können. Das Potenzial des Subjekts, sozialen „Formierungsprozessen Widerstand entgegensetzen zu können“ (Honneth 2011: 70), entsteht also erst über seinen Einbezug in Institutionen, die auf wechselseitiger Anerkennung beruhen. Aus Sicht von Positionen der Demokratiebildung muss es Erfahrungen der Realität der Gleichheit sprechender Wesen gegeben haben, um in der Folge auch Kritik an Ungleichheit, also DEMOKRATIE, möglich zu machen. So qualifizierte Institutionen der Sozialpädagogik können und sollen also Voraussetzungen schaffen, die als ontogenetische Subjektivierung in Anerkennungsverhältnissen die Möglichkeiten der Rancièrschen Subjektivierungsweise DEMOKRATIE eröffnen. Ohne in das kritisierte pädagogische Paradox zurückzufallen, kann Sozialpädagogik ihre Adressat_innen nicht POLITISIEREN, aber sie kann ihnen anerkennende Beziehungen und institutionelle Settings anbieten, die es ihnen ermöglichen, „selbstbewußt“ POLITIK (auch gegen die Institutionen selbst) zu betreiben.

 

Demokratiebildung konkret

Die Maxime der Demokratiebildung, Kinder von Geburt an als Mündige zu adressieren und die Konflikte um die gemeinsam betreffenden Angelegenheiten diskursiv auszutragen, kann zunächst nur als Grundhaltung der sozialpädagogischen Beziehungsgestaltung bestimmt werden; das Anerkennungsmuster „Liebe“ (Honneth) kann theoretisch beschrieben, aber in pädagogischen Beziehungen nicht operationalisiert werden. Das ist jedoch für die institutionell zu gewährleistenden Anerkennungsmuster von Recht und Wertschätzung möglich. Sozialpädagogische Organisationen können so strukturiert werden, dass Kinder und Jugendliche

a) präzise bestimmte Rechte der  Selbstbestimmung und der kollektiven Mitentscheidung nutzen können, und dass sie

b) an der gemeinsamen (Re-)Produktion der Lebensverhältnisse der Organisation aktiv beteiligt sind, so dass sie über ihre spezifischen Leistungen für ein Kollektiv Anerkennung erfahren können.

Helmut Richter sieht in kommunalen, demokratisch verfassten (Jugend-)Vereinen zumindest das theoretische Potenzial, eine solche Institution „gemeinsamer Verwirklichung komplementärer Ziele“ (Honneth, s.o.) zu sein, in der Mitglieder demokratische Rechte der Mitentscheidung nutzen, die gemeinsame Lebensverhältnisse mitproduzieren und gegenseitige Wertschätzung ermöglichen. Zudem können sie in solchen Assoziationen in einem kommunalen Bildungsprozess ein eigenes „Bedürfnis- und Forderungsprofil“ (Richter 2011: 233) entwickeln, das in kommunalen/gesellschaftlichen Öffentlichkeiten artikuliert und ausgestritten werden kann. Der (ideale) Verein wird zum kommunalen Ort der Praxis von Demokratie und ermöglicht schließlich Subjekten und Gruppen, intern und extern ihre Forderungen politisch einzubringen und so möglicherweise auch Momente der DEMOKRATIE zu erzeugen.

Hansen, Knauer und Sturzenhecker (vgl. 2011) haben in Konzept und Praxis einer demokratischen Verfasstheit von Kindertageseinrichtungen entwickelt („Die Kinderstube der Demokratie“), wie auf der Basis anerkennender Beziehungen Rechte der betroffenen Kinder und Fachkräfte auf Selbst- und Mitbestimmung kodifiziert und die organisationellen Lebensverhältnisse gemeinsam produziert und demokratisch geregelt werden können (unter Aufrechterhaltung der erzieherischen Sorgeverantwortung). Es wird von der Mündigkeit der Betroffenen ausgegangen, und es werden Gelegenheiten einer internen Öffentlichkeit und von demokratischen Entscheidungsstrukturen geschaffen, die es erlauben, individuelle und gemeinsame Ziele auszuhandeln und zu realisieren. Zusätzlich zur Ermöglichung der demokratischen Selbst- und Mitbestimmung der Kinder ist es die Aufgabe der sozialpädagogischen Fachkräfte, Ungleichheitszustände öffentlich zu problematisieren und gerechtere Verhältnisse gerade im Blick auf Kinder einzuklagen[7].

Wir sehen Demokratiebildung als Bildung des Subjekts in anerkennenden Beziehungen und Institutionen und als eine Bildung von Demokratie, in der gegen postdemokratische Verhältnisse kontrafaktisch Potenziale einer verständigungsbasierten Gestaltung öffentlicher Institutionen und einer kommunalen Konfliktführung ermöglicht, aber nicht erzwungen werden können. Demokratiebildung kann Voraussetzungen von POLITIK schaffen, aber machen können sie die Adressat_innen nur selbst.

 

Das Unvernehmen und der Alltag von Demokratiebildung

Wenn in Konzepten der Demokratiebildung sozialpädagogische Institutionen der erzieherischen Hilfen oder der Elementarpädagogik als „miniature community, an embryonic society“ bestimmt werden, in der analog zur Gesellschaft Demokratie gelten soll, wäre mit Rancières Kritik zu fragen, ob und wie auch in dieser „Binnendemokratie“ Prozesse des Unvernehmens und einer postdemokratischen Verhinderung oder Harmonisierung von Konflikten und struktureller Ausschließung stattfinden. Damit sind konkrete Nachfragen an die Praxis von Demokratiebildung in sozialpädagogischen Einrichtungen zu stellen.

Wie oben schon angesprochen, gerät auch die Sozialpädagogik immer wieder in Gefahr, die Artikulationsweisen ihrer Adressat_innen als Lärm abzuqualifizieren und diese damit von der Inanspruchnahme ihres Anteils der gemeinschaftlichen Selbstbestimmung auszuschließen. Das kann auch durch strukturell verankerte Rechte und  Verfahren und Gremien demokratischer Entscheidungen in sozialpädagogischen Einrichtungen geschehen. Diese sehen ja ein spezifisches diskursives Setting der gemeinsamen Bearbeitung von Konflikten vor: Sie verlangen eine öffentliche Problematisierung von Konflikten in einer für andere Betroffene verständlichen Sprache und eine argumentative Führung des Streits über die Umgangsweisen mit solchen Konfliktfällen. Was zunächst an Konflikten auf welche Weise auch immer ausgedrückt wird, soll doch durch eine solche Regelprozedur demokratischer Konfliktbearbeitung gelöst werden. Damit werden Normen gesetzt, welche Weisen der Artikulation demokratisch zählen und welche gehört und aufgenommen werden. So kann es leicht geschehen, dass Ausdrucksweisen von Konflikten, die nicht zu diesen „herrschenden“  Sprech- und Handlungsweisen passen, ignoriert und/oder negiert werden. Rancière formuliert dieses Grundproblem so: „Das Problem ist nämlich die Frage, ob die Subjekte, die im Gespräch gezählt werden, sind oder nicht sind, ob sie sprechen oder Lärm machen. Es ist die Frage, ob es einen Grund gibt, den Gegenstand zu sehen, den sie als sichtbaren Gegenstand des Konflikts bezeichnen. Es ist die Frage, ob die gemeinsame Sprache, in der sie das Unrecht aufzeigen, wirklich eine gemeinsame Sprache ist. Der Streit beruht nicht auf Inhalten der Sprache, die mehr oder weniger durchsichtig oder undurchsichtig wären. Er beruht auf der Bedeutung der sprechenden Wesen als solche“ (Dun: 62).

Es geht immer darum, „um jeden einzelnen Konflikt eine Bühne zu schaffen, auf der sich die Gleichheit oder die Ungleichheit der Konfliktpartner als sprechende Wesen ins Spiel bringt“ (DuN: 63).

Mir scheint im Alltag von Demokratiepraxis in sozialpädagogischen Einrichtungen durchaus das Risiko aufzutreten, dass Artikulationsweisen von Kindern und Jugendlichen  als „Lärm“ abqualifiziert werden, wenn sie nicht die unterstellten Standards einer sprachlich-argumentativen Konfliktthematisierung erfüllen. Das gilt zum Beispiel für Situationen, in denen Kinder und Jugendliche ihre Stimme erheben durch Gewalthandlungen, durch Selbstverletzungen oder ganz einfach durch (andauerndes) Schweigen. Lassen sich pädagogische Versuche, solche Artikulationen schnell in die demokratischen Konfliktverfahren zu übersetzen, nicht realisieren, werden sie leicht als Renitenz oder Anzeichen von Pathologie definiert, kurz: als Lärm. Wenn es nur eine einzige, pädagogisch vorbestimmte Bühne gibt, wie Konflikte inszeniert werden können, werden alle Konfliktweisen, die nicht dazu passen, ausgeschlossen und ihren Trägern die Gleichheit der sprechenden Wesen verweigert. Die Weise, wie Kinder und Jugendliche ihre Konflikte zum Ausdruck bringen, mag inhaltlich „mehr oder weniger durchsichtig oder undurchsichtig“ sein. Das darf allerdings nicht dazu führen, ihnen das Recht auf Gleichheit in Bezug auf Sprachmächtigkeit abzuerkennen.

Daraus folgt für die Gestaltung von Demokratiepraxis zweierlei: Zunächst steht mit Rancières  Konzept des Unvernehmens eine reflexive Folie zur Verfügung, mit der die eigene Praxis dahingehend befragt werden kann, ob Artikulationen von Kindern und Jugendlichen als „Lärm“ abgeurteilt werden; und das gilt auch für das Nicht-Vernehmen von Schweigen. Dagegen wäre zum Einen eine Haltung zu setzen, die auch ‚unpassenden‘ Widerstand oder Konfliktausdruck als eine POLITISCHE Sprache[8] thematisieren würde. Zum Zweiten wären damit immer neue Möglichkeiten von „Bühnen“ zu erfinden, wie solche Konflikte und ihre Artikulationsweisen anerkannt werden könnten, um so eine jeweils eigen-artige Plattform der gemeinsamen Sprache zu kreieren, die den Streit um Gleichheit und Ungleichheit inszenierbar macht. Das kann allerdings nicht weiter methodisch operationalisiert  werden, denn damit wäre dann die Gefahr verbunden, wieder neue POLIZEILICHE Einordnungen vorzunehmen, noch bevor konflikthafte Artikulationsweisen sich zeigen würden. Es ginge darum, ‚unpassende‘ Ausdrucksweisen von Kindern und Jugendlichen nicht zu pathologisieren und aus der Verständigung der sprechenden Wesen auszugrenzen, sondern gerade in der Widerständigkeit ihre Anklage des Unrechts von Ungleichheit zu erkennen und zu respektieren.

Werner Schreiber (vgl. 2004) reklamiert auch für das extreme Handeln von psychosozial stark belasteten Jugendlichen (als Klient_innen von erzieherischen Hilfen), die durch frühkindliche emotionale Beschädigungen und Praxis von Drogensucht, Gewalttätigkeit und anderer Kriminalität gekennzeichnet sind, ihre „Devianz als Bildungsfigur“ anzuerkennen. Bei diesen Jugendlichen sei auf Grund schwerer Mängel und Störungen der frühen emotionalen Beziehung zu nahen Bezugspersonen kaum eine sichernde Basis für eine Selbst-Entwicklung zu finden. Schreiber versteht die Abwehrmuster, die diese Kinder zur Bewältigung gegen solche extremen Bedrohungen entwickelt haben, als „Handlungsantworten und damit als aktive Bildungs- und Bewältigungsleistung für eine schwierige Situation (a.a.O.: 20)“. Diese sich angesichts wiederholter Bedrohungen und Beschädigungen biografisch fixierenden „Überlebensstrategien“ können zwar entwicklungshemmend wirken, seien aber zunächst als Schutzstruktur und Lebensleistung anzuerkennen (a.a.O.: 21).

Für die extrem belasteten Jugendlichen (wie wir sie in erzieherischen Hilfen antreffen) gilt: Verweigerte Anerkennung, Drohung, Zwang und Ausschließung sind genau die Handlungsmuster, gegen deren Bedrohung sich ihre Abwehrleistung richtet. Gegen diese Abwehr pädagogisch aggressiv vorzugehen, verstärkt sie nicht nur, sondern verschärft das Unrecht, die Jugendlichen nicht als sprechende Subjekte, sondern als ‚Lärmmacher‘ anzusprechen. Schreiber schlägt hingegen vor, ihr Widerstandspotenzial als „Restbestand von Autonomie“ anzuerkennen.

Wie man jedoch solche spezifischen Bühnen für die Thematisierungsweisen der Betroffenen erzeugen kann, ist immer nur im Einzelfall neu zu erfinden und muss sich der Risiken bewusst sein, auch damit immer wieder neue POLIZEILICHE Ordnungen zu schaffen. Es steht aber nicht weniger auf dem Spiel, als die Frage, ob in den widersprüchlichen Inszenierungen der sozialpädagogischen POLIZEI doch auch die Möglichkeit greifbar wird, dass sich Kinder und Jugendliche in der „Gleichheit eines jeden sprechenden Wesens mit einem jedem anderen sprechenden Wesen“ erfahren können.

 

Literatur

Albus, Stefanie/Greschke, Heike/Klingler, Birte/Messmer, Heinz/Micheel, Heinz-Günter/Otto, Hans-Uwe/Polutta, Andreas 2010: Wirkungsorientierte Jugendhilfe. Abschlussbericht der Evaluation des Bundesmodellprogramms „Qualifizierung der Hilfen zur Erziehung durch wirkungsorientierte Ausgestaltung der Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsvereinbarungen nach §§ 78a ff SGB VIII“. Münster

Aristoteles 1968: Politik. 16. Aufl. Reinbek

Bitzan, Maria/KLöck, Thilo 1993: „Wer streitet schon mit Aschenputtel?“. Konflikttheorien und Geschlechterdifferenz. München

Böllert, Karin 2011: Funktionsbestimmungen Sozialer Arbeit. In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. 4. Aufl. München, S. 436-444

Böhnisch, Lothar 1979: »Sozialpädagogik« hat viele Gesichter. In: Betrifft: Erziehung, Heft 9, S. 22-24

Brumlik, Micha 1992: Advokatorische Ethik: Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Bielefeld

Dewey, John 2000/1916: Demokratie und Erziehung: Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Jürgen Oelkers (Hrsg.). Weinheim und Basel

Eichholz, Reinald 2008: Kinderrechte ins Grundgesetz - Mehr Gerechtigkeit für Kinder. In: Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag (Hrsg.). Berlin, S. 15-21

Hamburger, Franz 2011: Einführung in die Sozialpädagogik. 3. Aufl. Stuttgart

Hansen, Rüdiger/Knauer, Raingard/Sturzenhecker, Benedikt 2011: Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern! Weimar und Berlin

Herrmann, Franz 2006: Konfliktarbeit. Theorie und Methodik Sozialer Arbeit in Konflikten. Wiesbaden

Honneth, Axel 2011: Das Recht der Freiheit. Berlin

Honneth, Axel 2012: Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes Kapitel der politischen Philosophie. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Heft 15. 3, S. 429-442.

Korczak, Janusz 1999/1919: Wie man ein Kind liebt. Gütersloh

Lütke-Harmann, Martina/Kessl Fabian 2013: Paradoxien der Ent/Politisierung. Überlegungen zum politischen Potenzial Sozialer Arbeit in der (Post)Demokratie. In: Benz, Benjamin/Rieger, Günter/Schönig, Werner/Többe-Schukalla, Monika (Hrsg.) 2013: Politik Sozialer Arbeit. Band 1: Grundlagen, theoretische Perspektiven und Diskurse. Weinheim und Basel, S. 133-149

Marx, Karl 1977: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich (Hrsg.): Ausgewählte Werte, Band 11. Berlin, S. 309-417

Rancière, Jacques 2010: Demokratie und Postdemokratie. In: Badiou, Alain/Rancière, Jacques: Politik der Wahrheit. Wien und Berlin, S. 119-156

- 2002: Das Unvernehmen. Frankfurt am Main

Richter, Helmut 2001: Kommunalpädagogik. Studien zur interkulturellen Bildung. Frankfurt am Main. URL: http://www.epb.uni-hamburg.de/files/KP.pdf

- 2011: Demokratie.  In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. 4. Aufl. München, S. 228-235

-/Riekmann, Wibke/Jung, Michael 2007: Demokratische Bildung in der Jugendverbandsarbeit. In: Deutsche Jugend Jg. 55, Heft 1, S. 30-37

-/Sturzenhecker, Benedikt 2011: Demokratiebildung am Ende? Jugendverbände zwischen Familiarisierung und Verbetrieblichung. In: Deutsche Jugend, Heft 2, S. 61-67

Rousseau, Jean-Jacques 1762/1782: Émile, ou De l’éducation. URL: http://fr.wikisource.org/wiki/%C3%89mile,_ou_De_l%E2%80%99%C3%A9ducation/%C3%89dition_1782/Livre_I

Schreiber, Werner 2004: Gebildete Bildungsverweigerer - Devianz als Bildungsfigur. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 2 , S. 14-31

Sturzenhecker, Benedikt 2013: Demokratiebildung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. In: Deinet, Ulrich/Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit,  4. Aufl. Wiesbaden, S. 325-338

- 2011: Partizipationskultur in der Heimerziehung: verlässliche Beziehungen, mitverantwortliche Herstellung der Lebensverhältnisse und demokratische Öffentlichkeit. In: Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.): „Demokratie in der Heimerziehung“ - Dokumentation eines Praxisprojektes in fünf Schleswig- Holsteinischen Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe. Kiel, S. 69-80

-/Knauer, Raingard/Richter, Elisabeth/Rehmann, Yvonne 2010: Partizipation in der Kita. Evaluation demokratischer Praxis mit Vorschulkindern. Hamburg. URL: http://www. partizipation-und-bildung.de

Tomasello, Michael 2009: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt am Main

Tomasello, Michael 2010: Warum wir kooperieren. Berlin

 

Benedikt Sturzenhecker, Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Binderstr. 34, 20146 Hamburg

E-Mail: benedikt.sturzenhecker@uni-hamburg.de

 



[1]Bei der Erarbeitung dieses Textes haben mich viele Freundinnen und Freunde und Kolleginnen durch Diskussion meiner und ihrer Ideen unterstützt. Dafür vielen Dank an: Raingard Knauer, Martina Lütke-Harmann, Gabriele Undine Meyer, Melanie Plößer, Elisabeth Richter, Rüdiger Hansen, Fabian Kessl und Helmut Richter.

[2]Um die eigensinnige Rancièrsche Bestimmung der Begriffe DEMOKRATIE und POLITIK im Unterschied zu deren gewöhnlichem Gebrauch zu markieren, werden sie jeweils in Majuskeln geschrieben. Rancière verwendet die beiden Begriffe weitestgehend synonym (vgl. Lütke-Harmann/Kessl 2013: 141). Die Publikationen von Ranciere, die hier zitiert werden, sind folgendermaßen abgekürzt: „Das Unvernehmen“ (2002) = DUn; „Demokratie und Postdemokratie“ (2010) = DuP.

[3]Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm: Polizei, Policei, f. , im 15. Jh. entlehnt aus lat. politia, policia... vom 15. bis ins 17. Jahrh. verstand man unter Polizei die Regierung, Verwaltung und Ordnung, besonders eine Art Sittenaufsicht in Staat und Gemeinde und die darauf bezüglichen Verordnungen und Regeln […], auch den Staat selbst, sowie die Staatskunst, Politik (http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=polizei).

[4]Richters Kritik an der Ausgrenzung von Teil-Gruppen wird auch in empirischen Fällen geleistet, etwa an der  mangelnden Ermöglichung von Teilnahme an kommunalen Jugendvereinen, wie der Jugendfeuerwehr; vgl. Richter/Riekmann/Jung 2007.

[5]Gemeint ist also folgender Zusammenhang von Vergesellschaftung und Subjekthandeln: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx 1977/1852: 308).

[6]„Es ist in dieser Hinsicht interessant, dass Erwachsene, die annehmen, dass ihre Kinder nicht von Natur aus hilfsbereit und kooperativ sind und sie deshalb mit Maßregelungen und Bestrafung dazu erziehen wollen, nicht dazu beitragen, dass ihr Nachwuchs soziale Normen verinnerlicht und sie anwendet, um sein eigenes Verhalten zu regulieren“ (Tomasello 2010: 47).

[7]So verlangt es auch das SGB VIII, § 1 (3).

[8]Loris Malaguzzi, Begründer der Reggio-Pädagogik verweist mit seinem Begriff von den „100 Sprachen“ des Kindes auf die Anerkennung der eigensinnigen Sprachmächtigkeit schon des kleinen Kindes.