Hauptsache autoritär

Das Phänomen Narendra Modi, der selbstbewusst und zielstrebig das Amt des Premierministers Indiens bei den im Frühjahr stattfindenden Parlamentswahlen anstrebt, beschäftigt immer stärker die indische Öffentlichkeit. Er verkündet zwar auch nur die allseitig bekannte Wahrheit, dass sich Indien bedeutend schneller entwickeln muss, um seine vielfältigen Probleme lösen. Aber eben das sei nur durch (s)eine starke Führung möglich! Damit trifft er den Nerv der meisten Inder, die mit den Zuständen in ihrem Land höchst unzufrieden sind und Veränderungen geradezu herbeisehnen.
Modi, 63 Jahre alt, ist seit zwölf Jahren Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat und glänzt vor allem durch seine wirtschaftliche Erfolgsbilanz, die unbürokratisch und ohne Korruption erreicht wurde. Seine hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) verfügt über eine starke Fraktion im Parlament in Delhi und stellt in mehreren Bundesstaaten die Regierung. Die Kongresspartei ist zwar noch die stärkste Partei Indiens, hat aber zunehmend mit einem Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen. Sie wird nunmehr seit 15 Jahren von Sonja Gandhi, der Witwe des 1991 ermordeten Premierministers Rajiv Gandhi geführt. Doch ihre Qualitäten wirken verbraucht, genau wie die ihres Premierministers Manmohan Singh, mittlerweile 82 Jahre alt. Nun soll es der Sohn von Sonja Gandhi, Rahul, 42 Jahre, richten. Auch er plädiert für ein schnelles Wachstum und will Dynamik vermitteln. Doch wirkt er politisch unerfahren, sein Auftreten erinnert eher an einen „jungen Wilden“ als an einen erfahrenen Staatsmann.
Der Hindunationalist Narendra Modi ist es, der dem Wahlkampf Zündstoff verleiht und das Interesse auf sich zieht. Plötzlich werden wieder politische Grundthemen diskutiert. So die ungenügende Leistungsfähigkeit der demokratischen Strukturen des Landes und der Nutzen von autoritären Eingriffen. Auch an der Frage, wieviel Nationalismus das Land vertragen kann, arbeiten sich Leitartikler und Kommentatoren ab. Immer wieder wird festgestellt, dass eine Persönlichkeit mit dem  Zuschnitt Modis im wichtigsten Amt Indiens dringend nötig sei. Nur so könne das Land wieder auf Wachstumskurs gebracht und energisch Korruption und Misswirtschaft bekämpft werden. Auch andere Politiker werden in diesem Zusammenhang bemüht. Sei es Nitish Kumar, der Bihar mit seinen über 100 Millionen Einwohnern weitgehend von mafiösen Zuständen befreit hat oder Frau Jayalalithaa, Ministerpräsidentin des prosperierenden Staates Tamil Nadu. Die Hauptsache autoritär und eine starke Hand, das scheint die Sehnsucht der demokratiemüden indischen Mittelklasse zu sein. Sie wirft immer neidvollere Blicke auf die Erfolge des Nachbarn China und wünscht sich „etwas Diktatur“. Natürlich wird dabei idealisiert, von Verfehlungen und Problemen spricht kaum jemand. Auch bei Narendra Modi ist das so: seine Rolle bei chauvinistischen, gegen die Muslimgemeinschaft gerichteten Aktionen, scheint vergessen.
Das berührt die Fragen von Hindunationalismus und Säkularismus. Letzterer soll die Unparteilichkeit des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften garantieren, keine von ihnen soll bevorzugt werden. Für die Integrität und den Zusammenhalt des indischen Staates somit äußerst wichtig, stehen doch gegenwärtig fast einer Milliarde Hindus etwa 180 Millionen Muslime gegenüber. Radikale hinduistische Ideologen wollen seit jeher Vorrechte für die größte Volksgruppe. Indien sei eine Hindu-Nation, für andere Religionen sei kein Platz, wird argumentiert. Denn das Hindutum sei im Laufe der Geschichte immer wieder überfremdet worden, zuerst durch die Muslime(Mogul-Herrschaft), dann durch die europäischen Kolonialmächte. Auch sei der Säkularismus aus dem Westen importiert und helfe nur, die Muslime auf Kosten der Hindus zu bevorzugen, heißt es.
Auf der Basis des Hindutva, des Hindutums, wurden drei landesweite Organisationen geschaffen, die die gesamte Breite der politischen Arbeit bedienen. Die „Nationale Freiwilligenorganisation“ (RSS) ist die Kaderschmiede und die ideologische Vorhut, während der „Welt-Hindu-Rat“ (VHP) als außerparlamentarische Massenorganisation tätig ist. Ergänzt werden sie durch die „Indische Volkspartei“ (BJP), politisch-parlamentarischer Arm der Bewegung.
Der Hindunationalismus ist eine Realität, der heute vor allem durch Modernisierung und Globalisierung Nahrung erhält. In schnellem Tempo werden alte Ordnungsprinzipien und Sozialvorstellungen aufgelöst, Menschen entwurzelt. Insbesondere die städtischen Mittelschichten sind betroffen. In ihren Ängsten und Hoffnungen klammern sie sich an eine angebliche religiös-kulturelle Hindu-Identität, die tief in der Tradition verankert sein soll. Die religiösen Gefühle werden jedoch immer wieder missbraucht, chauvinistische Klänge vermehren sich.
Auch die Ermordung Mahatma Gandhis 1948 kommt auf das Konto von Fanatismus und Chauvinismus, der Attentäter war einige Jahre Mitglied der RSS. Der damalige Innenminister Indiens, Sardar Patel(wegen seiner aktiven Rolle bei der Zusammenfügung des indischen Staates der „Bismarck Indiens“ genannt), beschuldigte den RSS-Führer Gowalkar, das Zusammenleben der Gemeinschaften in Indien zu vergiften, Hass und Zwietracht zu verbreiten. Die Organisation wurde für einige Zeit verboten. Den Höhepunkt des Hinduchauvinismus durchlebte Indien zweifellos vor 20 Jahren mit dem Geschehen um Ayodhya, eine der sieben heiligen Stätten der Hindus und angeblicher Geburtsort des Gottes Rama. Eine landesweite Kampagne zur „Befreiung des Gottes Rama aus dem muslimischen Gefängnis“ wurde geführt. Ziel war der Abriss der muslimischen Babri-Moschee, die im 16.Jahrhundert auf den Fundamenten eines hinduistischen Tempels errichtet wurde. Zehntausende fanatisierte Hindus marschierten 1992 auf Ayodhya, zerstörten die Moschee und errichteten provisorisch einen Rama-Tempel. Die Staatsgewalt griff viel zu spät ein, in ganz Indien kam es zu Zusammenstößen zwischen Hindus und Muslimen, die Opferzahl – zumeist Muslime – ging in die Tausende. Einer der Organisatoren der damaligen Aktionen war Narendra Modi. Seit 1965 in der RSS, wurde er zu einem prachakar – einem Propagandisten – ausgebildet, Ende der 80er Jahre war er bereits Generalsekretär der BJP.
Ist Indien nun auf dem Weg zu einem fundamentalistischen Hindustaat? Obwohl es keinen Zweifel gibt, dass Narendra Modi nach wie vor ein nur in der Wolle gefärbter Hindunationalist ist sowie seine Partei gegenwärtig in allen Umfragen weit vor der Kongresspartei liegt, wird diese Gefahr nicht gesehen. Vielmehr werden Parallelen zu den Jahren 1998 bis 2004 gezogen. Auch damals war die BJP die stärkste indische Partei und stellte mit Koalitionspartnern die Regierung. Doch wurde Premierminister Atal Bihari Vajpayee durch die politische Wirklichkeit zur Berücksichtigung der echten nationalen Interessen des Landes gezwungen. Auch Vajpayee stammte aus der RSS, versuchte aber, deren enges Denken zu überwinden und die Politik seiner Partei breiter aufzustellen. Nach den Muslimprogromen 2002 in Gujarat drängte er, den dortigen Ministerpräsidenten Modi abzulösen und ihn aus der Politik zu entfernen. Das erfolgte nicht, worauf Vajpayee eine Wahlniederlage der BJP bei den Wahlen 2004 voraussagte, was prompt eintrat.
Heute hat sich die Partei erholt und ist erneut auf dem Vormarsch. Doch bis ins Amt des Premierministers ist noch ein weiter Weg, denn nach einem möglichen Wahlsieg muss die BJP Koalitionspartner finden. Gelingt das, sieht sich der neue mächtige Mann Indiens mit der Vielzahl der brennenden Probleme des Subkontinents konfrontiert. Polarisieren nach der bisherigen Art eines Modi würde allerdings ein frühzeitiges Ende bedeuten.