Sonderbares

Globalisierung als Daseinsweise des kapitalistischen Weltsystems im 21. Jahrhundert ist mit weltweiter Kapitalverflechtung verbunden, aber auch mit Machtknoten, die das Netz zusammenhalten. Sind das nur Börsen und Zentralen von Banken und Hedgefonds oder auch weiterhin Nationalstaaten? Nur der Staat USA oder auch andere? Angesichts der neuen hegemonialen Position Deutschlands in der Europäischen Union, die die Politik von Angela Merkel aktiv befördern half, ist das keine rein akademische Frage, sondern auch eine der politischen Analyse.
Ein derzeitiger Diskussionsstrang weist darauf hin, dass eine globalisierte Klasse von Kapitalisten entstanden sei. Es wird gezählt, wie viele Familien von superreichen Milliardären die nordatlantische „Welt des weißen Mannes“ beherrschen. Hans Jürgen Krysmanski zum Beispiel macht „0,1 Prozent“ aus und spricht von einem „Imperium der Milliardäre“. Auch innerhalb der EU findet ein Verflechtungsprozess statt. Aber ergibt sich daraus die Annahme, dass es nicht sinnvoll oder nicht möglich sei, von einer deutschen Dominanz oder Hegemonie in Europa und deutschen Machtpositionen in der Welt zu reden?
Zutreffend scheint, dass Kapitalverflechtungen zwar weltweit und europaweit zunehmen, gleichzeitig aber auch weiterhin national organisierte „staatsmonopolistische Komplexe“ der Macht und damit unterschiedliche Interessenträger bestehen. Das deutsche Kapital und die deutsche Regierung, das französische Kapital und die französische Regierung, das britische und die britische Regierung (mit den Sonderinteressen in Sachen „Finanzplatz“ London) sind auch innerhalb der EU nach wie vor identifizierbar, jeweils mit korrespondierenden Kapitalinteressen einerseits und dem Handeln der respektiven Regierung innerhalb der Institutionen der EU und darüber hinaus andererseits. In diesem Sinne ist davon auszugehen, dass die Institutionalisierung der EU und die Vergemeinschaftung ihrer Politik voranschreiten, zugleich aber Machtverschiebungen vor sich gehen, die den Nationalstaaten beziehungsweise den national-staatlichen Machtkomplexen zugerechnet werden müssen. So ist es analytisch trotz EU-Integration sinnvoll, von deutschem Dominanzstreben zu sprechen und dies auch vor dem Hintergrund von Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Geschichte zu problematisieren.
Dieser Standpunkt wird in der „vergleichenden Kapitalismusforschung“ geteilt. So wird zwar die Existenz einer globalisierten Kapitalistenklasse festgestellt, zugleich aber zeigt sich bei der Analyse der transnationalen Sozialstruktur der Akkumulation, dass sie über die nationalen Grenzen hinweg nicht homogen ist. Die Aufgabenbereiche in sich jeweils begrenzter transnationaler Regierungsführung ermöglichen die Generierung nationaler Unterschiede, die es wiederum dem Kapital möglich machen, den Akkumulationsprozess an den lukrativsten Standorten zu platzieren. Das jeweilige „Ensemble aus Politik und Institutionen“ ist selbst Teil der Sozialstruktur der Akkumulation. Es ist aus der jeweiligen national-staatlichen Geschichte heraus entstanden, und die damit verbundenen Akkumulationsprozesse sind wesentlich für Produktion, Wettbewerb, Regulation und Konsum im nationalen und globalen Raum.
Der Politikwissenschaftler und Weltsystem-Analytiker Kees van der Pijl kommt zu noch weitergehenden Folgerungen. So eröffnet er einen (gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Otto Holman verfassten) Text in Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Ausgabe März 2013, zum Platz des deutschen Kapitals mit der Feststellung: „Wir vertreten in unserem Aufsatz die Auffassung, dass das deutsche Kapital seine historische Position in der Weltwirtschaft im Zuge der Restauration der deutschen Vorrangstellung in Europa, die es mit dem zweiten Weltkrieg verloren hatte, wieder gewonnen hat.“ Die Autoren kommen im Ergebnis ihrer Verflechtungsanalyse des transnationalen Kapitals, die nicht nur die EU, sondern auch insbesondere die USA einbezieht, sogar zu der Feststellung, „dass sich das Zentrum des globalen Netzwerks miteinander verbundener Führungsstrukturen über den Atlantik hinweg nach Deutschland verlagerte“. Seine Exportoffensive hat Deutschland „weltweit zu einem der größten Exporteure gemacht“. Der Umsatz deutscher Tochterfirmen im Ausland müsse noch hinzugerechnet werden, und der Handelsbilanzüberschuss liegt über dem Chinas. „Der damit verbundene Kapitalzufluss wurde größtenteils in den USA und anderen überseeischen Ländern angelegt.“ Nicht nur beim Waren- und Dienstleistungs-, sondern auch beim Kapitalexport finde eine Verlagerung der Gewichte deutscher Interessenperzeption, gestützt auf die Positionen in der EU, auf eine globale Ebene statt.
Der Publizist Werner Rügemer widerspricht in der Juni-Nummer derselben Zeitschrift diesem Befund und meint, „die deutsche Vormachtstellung in Europa und insbesondere in der EU ist überformt und durchdrungen durch angelsächsisches, insbesondere US-Kapital“. Dem setzen wiederum der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Goldberg und der Sozial- und Umweltwissenschaftler André Leisewitz entgegen: „Dieser zum Verständnis der europäischen Entwicklung sicherlich wichtige Hinweis geht u.E. am Kern der Aussagen von Pijl/Holman vorbei; das wachsende Gewicht der Bundesrepublik und des in Deutschland ansässigen Monopolkapitals im Rahmen der EU sind während der aktuellen Krise deutlich geworden.“
Das wollte Rügemer nicht auf sich sitzen lassen und räsoniert in der Ausgabe vom September noch einmal gegen diesen Befund. Er macht „Unterwerfung“ unter „angloamerikanische Investoren“ geltend. Am Ende räumt er jedoch ein: „Dem deutschen Staat bzw. seinen Regierungen geht es natürlich auch um die Interessen des schrumpfenden deutschen Kapitals (das ohnehin nicht mehr so deutsch ist, wie es sich öffentlich gibt), sondern um die Interessen des von Deutschland aus operierenden Kapitals.“
Damit räumt er in der Sache genau das ein, worum es van der Pijl, Holman, Goldberg und Leisewitz geht: Es ist ein Machtkomplex des von Deutschland aus agierenden Kapitals entstanden, das auf besondere Weise mit dem Staat und der Politik dieses Landes verbunden ist. Dennoch stampft Rügemer noch einmal mit dem Fuß auf und setzt hinzu: „Und das ist eben mehrheitlich nicht ;deutsch‘“. Was will er uns damit sagen? Geht das Kapitaleigentum plötzlich nach der Abstammung der Kapitaleigner? Sollen diese künftig an der Tür zur Frankfurter Börse den „Ariernachweis“ erbringen, einen Ahnenpass vorweisen? Wer solche „Linke“ an seiner Seite hat, braucht sich um Streit mit Rechten kaum zu sorgen.