Opium als Impulsgeber

Arbeiterbewegung, Anarchismus und Religion. Ein Gespräch mit Sebastian Kalicha

Torsten Bewernitz: Sebastian, du arbeitest gerade an einem Buch über Anarchismus und Christentum. Die meisten heutigen deutschsprachigen AnarchistInnen würden sich davon wahrscheinlich distanzieren und behaupten, der Anarchismus wäre im Kern atheistisch. Aber ich frage mal anders: Ist der Anarchismus eher katholisch oder eher protestantisch?

Sebastian Kalicha: Ob sich der Großteil tatsächlich sofort davon distanzieren würde, weiß ich nicht. Meine Erfahrung bei Veranstaltungen und Gesprächen zum Thema bislang war, dass es auch unter atheistischen/agnostischen AnarchistInnen – als den ich mich übrigens auch verstehe – durchaus ein ehrliches Interesse an dem Thema gibt, ohne gleich dem recht beliebten, aber meiner Meinung nach verkürzten „Religion ist Scheiße“-Reflex nachzugeben. Aber zu deiner Frage: Man findet im gesamten Spektrum des Christentums – auch im Katholizismus – in Geschichte und Gegenwart Leute, Bewegungen und Ansätze, die mit dem Anarchismus in Verbindung gebracht werden können. Die These, die ich daher eingangs und als eher allgemeine Antwort auf deine Frage aufstellen würde, ist: der Anarchismus kann auch christlich sein – sprich, sich vom Christentum herleiten, von dieser Warte aus begründ- und argumentierbar sein. Der Soziologe und Philosoph Jacques Ellul, der seinen christlichen Anarchismus „nahe bei Bakunin“ verortete und besondere Sympathien für den spanischen Anarchosyndikalismus hatte, drückte es einmal so aus, dass „biblisches Gedankengut direkt zum Anarchismus“ führe.

Die Frage nach dem „katholisch oder protestantisch“, die du stellst, ist aber, denke ich, schwer beantwortbar, da dieses Feld prinzipiell ein sehr weites ist. Aber mit diesen beiden Schlagworten kommt natürlich sofort mal die Frage von institutionalisierter Religion, von Kirche als Machtapparat ins Spiel, was für viele ein entscheidender Punkt ist, wenn über christlichen Anarchismus diskutiert wird. Der „klassische“ christliche Anarchismus, womit ich jetzt mal eine christlich-anarchistische Tradition bezeichne, die sich mehr oder weniger auf Tolstoische Konzeptionen dieser Idee bezieht, ist in seinem Antiklerikalismus äußerst radikal und konsequent. Für viele ist diese konsequent antiklerikale Haltung essentiell für einen christlichen Anarchismus, was ja durchaus schlüssig ist. Insofern hat hier natürlich vor allem der Katholizismus ein Problem.

Wobei: So einfach ist es dann auch wieder nicht, denn selbst der Katholizismus hat Strömungen hervorgebracht, die stark libertäre Züge aufweisen. Das bekannteste Beispiel ist hier wohl die Catholic-Worker-Bewegung, die unter anderem in vielerlei Hinsicht nachhaltig von den Industrial Workers of the World (IWW) beeinflusst wurde. Eine der GründerInnen der Catholic Workers, Dorothy Day, war seit ihrer Jugend Wobbly. Auch sehr bezeichnend: Days Mitstreiter, der christliche Anarchist Ammon Hennacy, gründete in Salt Lake City ein „Haus der Gastfreundschaft“ (ein zentrales Merkmal der Catholic-Worker-Bewegung) und nannte es „Joe Hill House“. Auch der IWW-Folksänger Utah Philips lebte dort eine Zeit lang. Ihn verband eine enge Freundschaft mit Hennacy. Die Unterstützung von Streikenden und von Arbeitskämpfen war und ist ein zentrales Merkmal von Catholic-Worker-Aktivismus, wie Day ihn geprägt hat.

Ein anderes Beispiel, das man aus dem katholischen Spektrum noch anführen könnte, wäre zum Beispiel die lateinamerikanische Befreiungstheologie, der zwar gemeinhin eine Affinität zum Marxismus nachgesagt wird, bei der aber auch klar anarchistische Züge erkennbar sind.

Torsten Bewernitz: Apropos Marxismus: Auch der ist dem Klischee zufolge ja der Religion nicht unbedingt zugetan. Es gibt ein sehr schönes fiktives Gespräch zwischen Sherlock Holmes und Karl Marx, in dem Holmes sich über den Satz „Religion ist Opium für das Volk“ beschwert. Auf Marx’ Nachfrage: „Sie stimmen mir nicht zu?“ antwortet Holmes: „Bezüglich der Religion schon. Aber Sie haben offenbar noch nie Opium probiert.“ Wie dem auch sei: Die Marxsche – und damit auch die spätere marxistische – Religionskritik scheint mir, wesentlich stärker als die anarchistische, nicht nur Institutionenkritik, sondern vor allem eine materialistische Ideologiekritik zu sein, in gewissem Sinne ist sie fundamentaler. Dabei hätte das keineswegs so kommen müssen: Schaut man sich die frühsozialistischen Schriften von Marr, Weitling, Hess usw. an, dann wimmelt es da von „Evangelien“, „Katechismen“, „Heiligen Geschichten“ usw. Um ein Beispiel herauszugreifen: Moses Hess’ „Heilige Geschichte der Menschheit“ beginnt mit der biblischen Schöpfungsgeschichte und endet mit einem sozialistischen „Neuen Jerusalem“ – hier greift Hess einen Begriff auf, der schon in den Bauernkriegen und der Täuferrepublik zu Münster im frühen 16. Jahrhundert die soziale Utopie beschrieb. Worauf ich letztlich hinauswill: Offenbar gab es in der Arbeiterbewegung immer auch ein Bedürfnis nach Religion. Das sieht man auch an den zahlreichen quasi-religiösen Kulten in der Arbeiterbewegung: Die freireligiösen Gemeinden spielen heute in Teilen Deutschlands unter GewerkschafterInnen noch eine bedeutende Rolle, mit Predigten, Sonnenwendfeiern usw. – allerdings ohne Gott, obwohl die Freireligiösen Mitglieder jeder Religion aufnehmen. Die Tradition der Freidenker, die deutlich atheistischer ist und in der selbst in Deutschland AnarchistInnen eine stärkere Rolle spielten, nimmt ähnliche religiöse Kulte auf. Könnte die harschere Kritik des Marxismus auch mit ein Grund dafür sein, dass sich religiöse Linke eher dem Anarchismus zugewendet haben? Oder anders gefragt: Ist die pragmatische Kritik am Herrschaftsinstrument Kirche letztlich „volksnäher“ als der vermeintlich wissenschaftlich fundierte Atheismus z.B. marxistischer Prägung?

Sebastian Kalicha: Was das Opium anlangt, so kann Religion natürlich diesen Effekt haben, wie ihn Marx sah. Wenn Holmes hier aber darauf anspielt, dass Opium für ihn einen ähnlichen Effekt hat wie sein obligatorisches Kokain, nämlich ein Impulsgeber für seine besten und scharfsinnigsten Ideen und Überlegungen ist, dann würde ich hier einen gewagten Vergleich anstellen: Vielleicht ist der christliche Anarchismus das Opium nicht im Marxschen, sondern im Holmesschen Sinn! Denn der Punkt ist der, dass es ja ein leichtes ist, die Bibel bzw. die Evangelien als eine Geschichte der Subversion und der Rebellion zu lesen. Jeder, der sich z.B. das Neue Testament durchliest bzw. auch nur mit den Grundmotiven dessen vertraut ist, wird den subversiven Charakter dieser Geschichten nicht leugnen können. Und genau diese Motive sind es, auf die sich christliche AnarchistInnen bezogen und beziehen, so wie verschiedene HäretikerInnen und KetzerInnen vor ihnen bzw. mit dem christlichen Anarchismus verwandte Strömungen wie die Befreiungstheologie und andere progressive religiöse Kräfte. Das, was eine solche Lesart in der Praxis hervorbrachte, war stets sehr beeindruckend.

Aber noch ein Satz zur anarchistischen Religionskritik: diese beschränkt sich nicht bloß auf Institutionskritik. Hier sind sich ja bekanntlich christliche und atheistische/agnostische AnarchistInnen tatsächlich häufig völlig einig. Diese Institutionskritik ist eher ein verbindendes und kein trennendes Motiv. Aber ich gebe dir schon recht, dass viele bekannte nicht-christliche AnarchistInnen wie Kropotkin, Rocker, Landauer, de Cleyre, Woodcock, Bookchin, Walter etc. durchaus bereit waren, offen zu sagen: „Ja, das Christentum hat potentiell auch anarchistische Facetten“ und sich daher eher auf die Institutionskritik fokussierten. Ein entscheidenderer Moment bei vielen AnarchistInnen zum Thema Religion ist hier aber eine viel allgemeinere Herrschaftskritik, was bei der Frage der Religion bekanntlich darauf hinausläuft, dass man Religion und Anarchismus als unvereinbar begreift, da, so die bekannte Argumentation, der Glaube an einen Gott ein bewusstes Akzeptieren eines Herrschaftsverhältnisses bedeute. Dieses Argument steht und fällt natürlich mit dem Gottesverständnis, das man hat, und hier gibt es sehr viele differenzierte und hoch spannende Zugänge, die in einschlägigen Diskussionen zum Thema häufig gar nicht vorkommen. Aber hier betreten wir das Feld der Theologie, und dieses „Überthema“ des Gottesverständnisses ist natürlich ein viel zu breites, als dass es hier einigermaßen befriedigend abgehandelt werden könnte. Letztlich läuft die Argumentation vieler christlicher AnarchistInnen aber darauf hinaus, dass „Gott“ nicht notwendigerweise die tyrannische Herrscherfigur ist, wie sie oft gezeichnet wird, dass die Gott-Mensch-Beziehung nicht notgedrungen eine hierarchische, ungleiche sein muss. Interessant fand ich auch die Argumentation eines christlichen Anarchisten, der mal meinte, dass er da stets mit Feuerbach argumentiere, der ja sinngemäß meinte, der Mensch sei nicht das Abbild Gottes, sondern Gott sei ein Abbild des Menschen. Wenn die Menschen, von denen sich das Abbild Gottes also herleitet, nun AnarchistInnen wie er seien, dann sei die Gottesfrage zu seiner völligen Zufriedenheit geregelt.

Ob die marxistische Kritik an der Religion nun tatsächlich harscher war als die anarchistische, kann ich nur schwer beurteilen. Fakt ist aber, dass, wie auch du schon angedeutet und durch Beispiele belegt hast, im Marxismus die anti-religiöse Front keineswegs so undurchlässig und geschlossen ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag – und genauso verhält es sich meiner Meinung nach beim Anarchismus.

Torsten Bewernitz: In der Tat eine gewagte These, mein lieber Watson! Der Hörspielverfasser David Zane Mairowitz hat wohl absichtlich um des Witzes Willen Opium und Kokain verwechselt, ein Opiumkonsum Holmes’ lässt sich ja nicht belegen. Dafür kann man allerdings belegen, dass Sherlock Holmes in derselben Bibliothek wie Karl Marx saß und dort die Schriften Bakunins studiert hat. Aber auch das nur nebenbei, mit unserem Thema hat das nur am Rande zu tun, weil es vielleicht eine gewisse Faszination für Mythen und auch Heldenfiguren zeigt, der wir auch als AtheistInnen und AgnostikerInnen erlegen sind. Das scheint mir auch für die historische Arbeiterbewegung zuzutreffen. Insbesondere, wenn man sich die Jahrhundertwende anschaut, und hier noch mal besonders die Jugendbewegungen, finden wir viele kultische Elemente, z.B. Sonnenwendfeiern, die in der Weimarer Zeit dann sowohl von germanophilen Nazis wie aber auch von der Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend gefeiert wurden. Die Sozialdemokraten entwickelten um Ferdinand Lassalle einen quasi-religiösen Personenkult, auch nach der „marxistischen Wende“ in den 1890er Jahren.

Das ist die eine Seite, die Übernahme religiöser Kulte und die Ersetzung durch eigene, quasi-religiöse Überzeugungen. Die andere besteht in einer, nun schon angesprochenen, sehr offensiven Ablehnung der Religion. Eines der in der Arbeiterbewegung beliebtesten Bücher zwischen 1880 und 1900 war der erstmals 1845, noch unter anderem Titel, erschienene „Pfaffenspiegel“ von Otto von Corvin. Das war den sozialdemokratischen Funktionären gar nicht so recht, weil es sich um ein recht derbes Buch handelte. Dabei wollten die Sozialdemokraten keineswegs die Kirche in Schutz nehmen, sondern sie wollten stattdessen „seriöse“ Argumente aus der Naturwissenschaft gegen die Religion in Stellung bringen. Der Szientismus, die Wissenschaftsgläubigkeit, des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde in Stellung gebracht. Der Sozialhistoriker Erhard Lucas (der übrigens ursprünglich evangelische Theologie studiert hatte) benennt als beliebteste Bücher in den Arbeiterbibliotheken dieser Zeit z.B. „Moses oder Darwin?“ von Arnold Dodel, „Kraft und Stoff“ von Ludwig Büchner usw. Die zeitgenössischen Interpretationen des Sozialgeschehens sind entsprechend: Der jetzt entstehende „Marxismus“ ist geprägt von den Schriften Friedrich Engels und Karl Kautskys, die beide oftmals mit Vergleichen aus der Naturwissenschaft arbeiten. Daraus entwickelt sich die Mentalität, dass es einen zwangsläufigen, einen quasi-evolutionären „Fortschritt“ gäbe, ein gewisser Fatalismus, die Mentalität, die wir auch in der jüngeren linken Bewegung noch in Parolen wie „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ finden. Bei der Sozialdemokratie führte das einerseits zu dem „Warten auf den großen Kladderadatsch“ (August Bebel) und andererseits aber auch zu einer gewissen Militanz, denn die Naturwissenschaft bewies ja, dass man im Recht sei. Diese Fokussierung auf eine „Wissenschaftlichkeit“ finden wir nicht nur im sogenannten „Wissenschaftlichen Sozialismus“ der „Marxisten-Leninisten“, sondern durchaus auch im Anarchismus, siehe Kropotkin oder Pierre Ramus.

Erhard Lucas schließt daraus in seinem Klassiker Vom Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung nicht nur, dass die Wissenschaft zum „Gegenkonzept“ zur Religion wurde, sondern dass dies auch zu einer verhängnisvollen Spaltung der Arbeiterbewegung in sozialistische und christliche führte – die christliche hatte dann eben eine offene Flanke zum Konservativismus und schließlich auch zum Nationalismus. Die Sozialdemokratie in Deutschland hatte ihren Schwerpunkt entsprechend nahezu ausschließlich in den protestantischen Gebieten.

Das scheint mir für den Anarchismus, sofern dieser in Deutschland überhaupt eine Rolle spielte, nicht dermaßen zu gelten – im Gegenteil finden sich m.E. sozialethische und philosophische Anleihen gerade im Katholizismus und im Judentum. Ich würde sogar die „Wahlverwandtschaft“ des zeitgenössischen Anarchismus vor allem mit dem „jüdischen Messianismus“, die Michael Löwy mal deutlich herausgearbeitet hat, sogar für den wichtigeren und auch heute noch aktuelleren „Link“ zwischen Religion und Anarchismus halten.

Sebastian Kalicha: Zu deinem ersten Gedanken würde ich einwerfen, dass deine meiner Ansicht nach zutreffende Beobachtung über die Übernahme quasi-religiöser Kulte durch die Arbeiterbewegung argumentativ aber auf einer anderen Ebene steht als beispielsweise die Argumentation von christlichen AnarchistInnen oder BefreiungstheologInnen, die sagen, das Christentum und Anarchismus/Marxismus haben inhaltlich, ethisch, politisch, sozial etc. sehr viel gemeinsam und sollten miteinander und nicht gegeneinander gedacht werden. Das ist es, was mich primär interessiert – nämlich diese inhaltliche Argumentation mit meinem agnostisch-anarchistischen Background kritisch zu prüfen und mir die Frage zu stellen: „Ist das sinnvoll oder nicht?“ Und ich kam da für mich zu der Überzeugung, dass das, was diese Leute schreiben und sagen, Sinn hat – und dazu muss man nicht mal gläubig sein. Da gibt es dann ja auch richtig spannende Detaildiskussionen rund um Anarchismus und Marxismus im Kontext des Christentums. Jacques Ellul beispielsweise bestritt vehement, dass das Christentum mit dem Marxismus vereinbar sei, da, wie er u.a. meinte, es in den Evangelien prinzipiell und konsequent abgelehnt wird, einen (revolutionären) Wandel über den Weg und mit dem Instrument der politischen Macht(ergreifung) zu erreichen. Daher blieb für ihn nur der Anarchismus und eben nicht der Marxismus als logische politische Konsequenz für ChristInnen übrig.

Lustig auch, dass du Kautsky in diesem Kontext ansprichst. Auf den bin ich erst kürzlich erneut bei meinen Recherchen zu dem Häretiker und Vorläufer des christlichen Anarchismus Peter Chelcicky (1380-1460) gestoßen. Kautsky hatte offenbar größere Sympathien für diesen tief gläubigen Mann und nannte ihn einen „Gleichheitskommunisten […] im urchristlichen Sinne“. Letztlich konnte aber sogar Kautsky den genuin anarchistischen Charakter Chelcickys nicht leugnen und schlussfolgerte, dass er einen „anarchistische[n], aber friedfertige[n] Kommunismus“ vertreten hätte. Auch der von dir im Kontext des „Wissenschaftlichen Sozialismus“ angesprochene Anarchokommunist Pierre Ramus machte aus seinen Sympathien für einen christlichen Anarchismus Tolstoischer Prägung – der sich vor allem auf die Bergpredigt bezieht – keinen Hehl. In Zeitschriften wie Erkenntnis und Befreiung oder Wohlstand für Alle, deren Herausgeber Ramus war, finden sich Dutzende derartige Beiträge.

Aber warum denkst du, dass der Link mit dem „jüdischen Messianismus“ bzw. jener mit dem Katholizismus besonders ausschlaggebend ist?

Torsten Bewernitz: Bzgl. des Katholizismus, und darauf zielte auch meine erste, nicht ganz ernsthaft gemeinte Frage ab, beruht diese These zum einen auf Erfahrung: In meiner politischen Sozialisierung wimmelt es schlicht von ehemaligen MessdienerInnen und PfadfinderInnen, das mag aber auch an einer ländlichen Sozialisierung liegen. Ich beobachte bei diesen GenossInnen eine doppelte Bewegung: Zum einen distanziert man sich aufgrund der eigenen Erfahrungen mit der Obrigkeitskirche sehr stark von dieser und damit auch von der Religion, zum anderen beruft man sich aber, bewusst oder unbewusst, auf ein spezifisch katholisches Sozialethos. Meiner Erfahrung nach erkennen selbst hartgesottenste AtheistInnen an, dass der historische Mensch Jesus ein Revolutionär war.

Und die christliche Sozialethik scheint mir schlicht eher katholisch geprägt zu sein: Kolping, Bischof von Ketteler, Papst Leo XIII. sind die Namen, die damit in Verbindung stehen. Etwas weiter in der Geschichte zurückgedacht, war die Grundidee des Katholizismus die Gnade, das „Himmelreich“ muss man sich nicht verdienen, sondern man bekommt es geschenkt. Im heutigen Anarchismus würde ich das sogar als kritischen Aspekt aufnehmen: Gerade die Grundidee des Syndikalismus ist ja eigentlich die Idee, sich kollektiv für die gemeinsamen eigenen Interessen einzusetzen. Praktisch ist man aber häufig karitativ tätig. Karitatives Engagement würde ich dabei als Gegenbegriff zur Solidarität (die als Begriff ja auch in der katholischen Soziallehre eine wesentliche Rolle spielt) verstehen: Solidarität ist, laut lexikalischer Definition, die gegenseitige Unterstützung aufgrund der Erkenntnis einer gemeinsamen Lage, die Karitas dagegen ist reine Wohltätigkeit. Und etwas provokativ könnte man jetzt behaupten, dass die meisten linken Solidaritätsprojekte nichts anderes als Karitas sind. Wenn ich etwa an Errico Malatestas Begründung in „Die moralische Grundlage des Anarchismus“ für den Anarchismus denke – „dieses Gefühl ist die Liebe zu den Menschen“ –, dann empfinde ich das als sehr katholisch. Und letztlich halte ich das für fatal, denn das entspricht dem weit verbreiteten Vorurteil, AnarchistInnen würden auf das „Gute“ im Menschen vertrauen. Und vielleicht ist das sogar ein Grund, warum anarchistische Ideen so wenig verbreitet sind: Um mich karitativ zu engagieren, kann ich auch zu Greenpeace, amnesty international oder eben „Brot für die Welt“ gehen. Anarchismus sollte dagegen eine Idee für Selbstbetätigung und Selbstermächtigung sein, die Menschen woanders nicht zu „Opfern“ des Systems macht, sondern ihnen in ihren bestehenden Widerständen hilft und diese unterstützt, im Idealfall durch den gleichen Kampf „im Herzen der Bestie“.

Den Protestantismus dagegen würde ich am ehesten mit der protestantischen Arbeitsethik assoziieren, wie Max Weber sie analysiert hat. Selbstverständlich war das ursprünglich im beginnenden 16. Jahrhundert in weiten Teilen eine revolutionäre Bewegung, und zu der Forderung einer aktiven gegenseitigen Solidarität passt der Protestantismus vielleicht sogar besser: Statt auf Gnade von oben zu warten, müssen wir selber aktiv werden – „uns aus dem Elend zu erlösen können wir nur selber tun“ hallt dies in der Internationale wieder. Daraus wird aber im Protestantismus schnell eine Arbeitspflicht und ein Leistungsethos, der sich eben schnell zu einer Eigenverantwortung im neoliberalen Sinne steigert – darauf wollte Max Weber in seiner Analyse ja hinaus. Diese „Arbeitspflicht“ versteht sich nun prima mit dem Produktivismus des orthodoxen Marxismus, man denke nur an die „Aktivistenbewegung“ in der UdSSR (Stachanow) und der DDR (Henneke). Und das andere Extrem sind die Evangelikalen, deren Tradition man ja bis zu den Täufern und Mennoniten – eigentlich religiösen RevolutionärInnen – zurückverfolgen kann.

Den jüdischen Messianismus dagegen halte ich für libertäre Traditionen tatsächlich für am ertragreichsten. Ich würde ihn kurz zusammenfassen als eine abwartende Haltung – auf etwas, das kommen wird. Das weist den „historischen Materialismus“ im engeren Sinne in seine Schranken, der ja meint, genau zu wissen, was kommt, und andererseits auch einen Utopismus, der schon im Voraus formulieren möchte, was passiert, wenn das messianische Ereignis eintritt. Der Messianismus hat eine ganze Reihe undogmatischer nicht-religiöser oder nur semireligiöser wichtiger Denker hervorgebracht, wie Gustav Landauer, Martin Buber, Ernst Bloch und Walter Benjamin. Der wohl späteste dezidierte Vertreter war Jaques Derrida, und gerade dessen Interpretation gefällt mir besonders gut und ist sinnvoll an den Anarchismus anschließbar: Bei Derrida kommt die Revolution nicht von allein, und man weiß auch nicht genau, was sie bringt. Darum ist die Erwartung des Messianischen eine durchaus angstvolle. Weil sie aber die Hoffnung auf positive Veränderung birgt, ist sie dennoch etwas, auf das aktiv hingearbeitet werden soll. Darum geht es m.E. auch in libertärer Theorie und Praxis: In Ablehnung einer Wissenschaft, die uns die Zukunft definiert, und in Ablehnung einer utopistischen Vorformulierung (Derrida spricht auch von einer „von traditionellen Utopien gereinigten Utopie“), die autoritär wäre, sind wir uns dennoch sicher, dass das System irgendwann zusammenkrachen muss – und dass es unserer aktiven Beteiligung bedarf, dieses zu erwartende Ereignis positiv zu gestalten.

Damit habe ich nun selber meine Eingangsfrage beantwortet, nämlich die Frage, welcher religiösen Strömung der Anarchismus aus welchem Grund nahestehen könnte. Dabei ist es übrigens auffällig, dass andere Weltreligionen in unserer Diskussion nicht vorkommen. Beeinflusst von der lebensreformerischen Jugendbewegung hat es in den 1910er – 1920er Jahren einige AnarchistInnen und auch RätekommunistInnen zum Buddhismus hingezogen – Rudolf Rocker hat sich darüber mal lustig gemacht. Aber – was ist denn eigentlich mit dem Islam und seinem Verhältnis zu Arbeiterbewegung und Anarchismus?

Sebastian Kalicha: Bei mir kommen die anderen Weltreligionen nicht sofort zu Sprache, weil ich mich mit libertärem Christentum weitaus intensiver beschäftigt habe als mit anderen religiös-anarchistischen Strömungen. Aber wenn du schon den Islam ansprichst, so fallen mir da spontan schon einige sehr spannende Sachen ein. Da gibt es z.B. den Anarchismus-Link zum Sufismus – dem islamischen Mystizismus. Sog. „Sufi-AnarchistInnen“ kenne ich vor allem aus Jordanien und Indonesien, wo von einer teils jungen AnarchistInnen-Generation versucht wird, die libertären Traditionen in ihren Regionen ausfindig zu machen, um diese mit dem klassischen europäischen 19. Jahrhundert-Anarchismus zu verbinden. Auch in den Schriften des sudanesischen Sufi-Theologen Mahmud Muhammad Taha ist es nicht schwer, eine klar anarchistische Dimension zu erkennen. Ein Genosse nannte ihn mal den „Tolstoi des Islam“, ein Vergleich, der meiner Meinung nach sehr gut passt. In einem jüngst erschienenen Sammelband mit dem Titel Religious Anarchism. New Perspectives finden sich beispielsweise auch zwei Texte zu Anarchismus und Islam, auf anarchistischen Buchmessen kann man Zines und Broschüren zum Thema kaufen etc. Hier tut sich also durchaus auch einiges!

Dieser Gespräch erschien zuerst in der Direkten Aktion #218 - Juli / August 2013