Lutz Schulenburg

Ein Nachruf

Der Hamburger Verleger und Anarchist Lutz Schulenburg ist am 1. Mai 2013 in der Reha gestorben, zehn Tage nach seinem 60. Geburtstag und sechs Wochen nachdem er während der Leipziger Buchmesse eine Hirnblutung erlitten hat.

Die Nachricht von seinem Tod hat mich wie ein Blitz getroffen und traurig gemacht.

Lutz Schulenburg (geboren am 21. April 1953 - gestorben am 1. Mai 2013)

Lutz war eine herausragende Persönlichkeit des Anarchismus in Deutschland.

Er wuchs als Arbeiterkind in Hamburg-Bergedorf auf. Als Ju­gendlicher brach er die Schule ab, ging auf Trebe, radikalisierte sich in der 68er-Bewegung und schloss sich als 15-Jähriger einer Anarchozelle in Ham­burg an. Kurz darauf kam Hanna Mittelstädt dazu. Zwischen den beiden entwickelte sich eine große Liebe, die schließlich das ganze Leben hielt.

Diese Liebe gab Lutz Kraft und war mitverantwortlich für seine beeindruckende Produktivität. Bis heute haben die zahlreichen, von ihm verantworteten Publikationen nicht nur die kleine Minderheit der AnarchistIn­nen im deutschsprachigen Raum inspiriert. Ähnlich wie bei den anarchistischen Verleger-Liebespaaren Helga Weber und Wolfgang Zucht vom gewaltfrei-anarchistischen Verlag „Weber, Zucht und Co.“  und bei Bernd und Karin Kramer vom Berliner Karin Kramer Verlag , entstand aus der Liebesbezie­hung des Hamburger Paares eine Vielzahl liebevoll gemachter und mitreißender Werke. 

„Es fing sehr lustig an. Wir hatten Sehnsüchte und Fragen. Die mussten wir beantworten. Dazu, dachten wir, helfen uns auch bestimmte, ausgewählte internationale Texte, die wir verbreiten wollten. Wir hatten auch eigene Texte, wir wollten eingreifen. So hat alles angefangen. Eigentlich in gewisser Weise als Selbsthilfeprojekt. Da wir als Libertäre immer eine extreme Minderheitenposition innerhalb der Linken vertreten haben, war das nicht einfach“, so Lutz in einem Interview, das ich mit ihm und Hanna 2004 in Leipzig geführt habe.1 

Ich gehöre zu den glücklichen Menschen, die alle Ausgaben der von Lutz herausgegebenen Anarchozeitungen gelesen haben. Anfang der 1990er Jahre hat er mir alle mir noch fehlenden Ausgaben von MAD, Revolte und Die Aktion in zwei Riesenpaketen geschickt, so dass ich sie im Rahmen meiner Dissertation über „Libertäre Presse in Ost- und West­deutschland“ analysieren konnte.2 

Ab September 1971 hat Lutz die anarchistische MAD zu­nächst mit dem Untertitel „Materialien, Analysen, Dokumente“ herausgebracht, bis 1973 die gleichnamige MAD gerichtlich gegen MAD vorging.

Lutz: „Man konnte das natürlich auch als ‚Määd‘ aussprechen, also wie die satirische Zeitschrift. Es war ein sachlicher Titel und hatte Untertitel wie ‚Anarchistische Hefte‘. Mit diesem Zeitungsprojekt haben wir angefangen, und daraus hat sich dann der Verlag entwickelt. Eines Tages haben wir das verbotene Bommi-Baumann-Buch ‚Wie alles anfing‘ neu herausgegeben, gemeinsam mit 150 Verlagen, Buchhandlungen und namhaften Persönlichkeiten. Damals hat Otto Schily das noch verteidigt. Wir hatten mit unterschrieben. Dann hatte wahrscheinlich ein Geschäftspartner dieser ‚lustigen Zeitschrift‘ gesagt: ‚Ihr seid auch dafür, dass das Buch von Bom­mi Baumann wieder erscheint?‘ Dann sagten die: ‚Nein, nein, nein!‘ Die haben sofort eine einstweilige Verfügung gegen uns erwirkt, wegen Namensgleichheit und pipapo.“ 

Daraufhin ging der MAD-Verlag 1974 endgültig in der Edition Nautilus auf. Die Zeitschrift MAD wurde bereits 1973 in Revolte umbenannt.

1981 gründete Lutz Die Aktion als bis zuletzt unregelmäßig erscheinende „Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst“.

Lutz: „Wir sind mit den Produktionsmitteln gewachsen, mussten sie uns erobern. Das erste Heft der MAD, da war nur der Umschlag Offset, das andere haben wir noch abgenudelt. Wir haben also alle diese Stadien der Aneignung der Produktionsmittel und der Fähigkeiten durchgemacht, bis hin zur Umstellung auf Computer. Insofern sind wir mit den Mitteln gewachsen. Vieles hat sich da­durch verquickt. Deswegen sind wir leidenschaftliche Anhänger der Selbstorganisation. (...) Die erste Broschüre in der Reihe ‚Flugschriften‘ war eine Sammlung über den Betriebskampf mit vielen Stimmen aus Frankreich, England ... Das war eine Zusammenstellung, mit internationalem Blick, weil der Schwerpunkt der autonomen und radikalen Klassenkämpfe nicht in Deutschland lag. Sie hieß ‚Dranbleiben, einmal klappt’s bestimmt‘. Das sollte auch ein Beispiel dafür sein, welche Formen auf einer internationalen Ebene schon von der Klasse eingesetzt werden. Und das stand konfrontativ zu den Leuten, die sich heute in Regierung oder sonst wo rumtummeln, die doch eine andere Meinung hatten, wie der Arbei­terkampf, der Kampf der Jugend, oder anderer sozialer Schichten zu führen wären. Deswegen waren wir zwar nach allen Seiten hin offen, aber eingekesselt. Diesen Kessel Buntes gab es immer schon. (…) Da waren die Libertären immer ein störender Faktor. Im Rückblick muss man sagen, dass wir leider nicht fähig waren, eine dauerhafte Vermittlung unserer Vorstellungen zu organisieren. Wir dachten alle mehr oder weniger, es geht nur voran. Dass es auch zurück geht, hatten wir im Überschwang unserer Leidenschaften nicht beachtet. Es sind dann viele gegangen, und das hatte auch viel damit zu tun, dass die Erwartung vom stetigen Vorwärts stark verbreitet war. Da haben wir, als MAD-Kollektiv, einen vorsichtigeren, mittleren Kurs gefahren: Theorie ist wichtig, das Denken, das Wissen, die Erfahrungen müssen bewahrt und eingebracht werden.“

Mit Zeitschriften und Büchern wollte Lutz die Welt verändern. Und das ist ihm geglückt. Dabei war er erfrischend undogma­tisch und verlegte keineswegs nur libertär-sozialistische Agitprop-Bücher.

Die eher „unpolitischen“ Nautilus-Bestseller „Tan­nöd“ und „Kalteis“ erreichten 2006 und 2007 Millionenauflagen und ermöglichten es der Edition Nautilus, ein eigenes, wunderschönes Verlagshaus in Hamburg zu kaufen. Dass diese beiden Krimis vom Fernseh- und Zeitungs-Feuilleton so gefeiert wurden, ist vielleicht eher Zufall. Meines Erachtens sind die Bücher von Andrea Maria Schenkel keineswegs die interessantesten aus dem Hause Edition Nautilus. Aber wie der 1985 erstmals erschienene Nautilus-Bestseller „Dinner for one“ haben sie geholfen die Existenz des Verlags zu sichern und andere Bücher zu finanzieren.

Für mich gibt es wichtigere Nautilus-Bücher, auch wenn sie sich weit schlechter verkaufen. Um nur einige zu nennen: der Durruti-Wälzer von Abel Paz, Emma Goldmans „Gelebtes Leben“, Louis Mercier Vegas Erzählung „Reisende ohne Namen“ und David Graebers Stan­dardwerk „Direkte Aktion“.

Glücklich bin ich, dass ich meinen Freund Horst Stowasser dazu bewegen konnte, sein lange vergriffenes „Freiheit pur“ zu aktualisieren, es zu ergänzen und dann als 500-Seiten-Wälzer 2006 in der Edition Nautilus zu veröffentlichen. „Anarchie“ ist nicht nur für mich eine der wichtigsten Schriften des 21. Jahrhunderts. 

Zu den herausragenden Büchern der Edition Nautilus gehört auch „Das Leben ändern, die Welt verändern!“ Diese 480-seitige Sammlung von Dokumenten und Berichten zur 1968er-Revolte hat Lutz persönlich zusammengestellt und herausgegeben. Auf Einladung unserer „Bankrott“-Infoladengruppe hat er dieses Werk 1998 ebenso in der Baracke Münster vorgestellt wie die ebenfalls bei Nautilus erschienenen zapa­tistischen „Botschaften aus dem lakandonischen Urwald“ von Subcomandante Marcos.

Wenn ich in Hamburg auf Einladung von GenossInnen Vorträge gehalten habe oder auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt war, dann traf ich dort immer auch Lutz. Und das war eine besondere Freude. Denn viel öfter, als wir uns gesehen haben, haben wir telefoniert, in der Regel alle zwei, drei Wochen, seitdem ich im November 1998 meine Stelle als Koordi­nationsredakteur der Graswur­zelrevolution angetreten habe.

 

„Was suchst du Ruhe, wenn du zur Unruhe geboren bist.“ (Thomas von Kempen, 1379-1471)

Lutz war ein begnadeter Verleger. Wenn er der Meinung war, dass Nautilus-Bücher in der GWR besprochen werden sollten, dann rief er mich an und brauchte nur wenige Sekunden, bis er mich so weit hatte, eine Besprechung für die GWR zu organisieren oder persönlich eine zu schreiben.

Letzteres war mit einem gewissen Risiko behaftet. Im Oktober 2001 hatte ich in den Libertären Buchseiten der GWR 262 das Nautilus-Buch „Die libertäre Revolution“ von Heleno Sa­na zerrissen. Das schmierte mir Lutz jahrelang bei jeder Gelegenheit aufs Butterbrot. Der Ärger über eine einzelne, kritische Rezension konnte ihn fast schon mehr wurmen, als ihn die unzähligen positiven Rezensionen von Nautilus-Büchern in der Graswurzelrevolution begeistern konnten.

Lutz war ein warmherziger und neugieriger Mensch mit Sinn für Ironie, Selbstironie und schwarz-roten Humor. Aber eben auch ein hanseatischer Sturkopf, ein Ruheloser, ein Getriebener. Unsere oft langen Telefongespräche vermisse ich. Sie waren in der Regel ein anregender Spaß, den wir uns immer wieder gerne gönnten.

Das anarchistische Prinzip der Gegenseitigen Hilfe war für Lutz keine Phrase. Er lebte und handelte solidarisch und verlor das Ziel einer herrschaftsfreien Gesellschaft nie aus den Augen. Lutz war ein Visionär. Als ich ihm sagte, dass die Graswurzelrevolution nach der Pleite der CARO-Druckerei am 1. Januar und dem Tod von Sigrid Brodrecht (GWR-Vertrieb) 5 am 10. Februar 2013 in eine finanzielle Krise zu rutschen droht, sagte er mir nicht nur zu, dass Nautilus fortan mehr Anzeigen in der GWR schalten wird.

Ihn hat immer gewurmt, dass seine Aktion trotz Vierfarb­druck, schöner Aufmachung und spannenden Inhalten nie die 1000er-Auflagen-Hürde übersprungen hat. Was liegt also näher, als „sein Kind“ der vergleichsweise auflagenstarken Graswurzelrevolution beizulegen? Anfang 2013 vereinbarten wir, dass Die Aktion ab der nächsten Ausgabe als bezahlte Beilage in der GWR liegen sollte.

Zur Verwirklichung dieses Vorhabens kam es dann aber nicht mehr, weil Lutz nach seiner Hirnblutung keine Aktion mehr machen konnte.

 

Lutz’ Beerdigung

Am 17. Mai 2013 wurde Lutz auf dem Friedhof in Hamburg-Diebstreich beerdigt. Es war eine bewegende Trauerfeier, die von Hanna und Lutz‘ Hamburger FreundInnen und GenossInnen organisiert wurde. Etwa 200 Menschen verabschiedeten sich von einem Lebensgefährten, Bruder, Freund, Verleger, Anarchisten und Perlentaucher.

Vielleicht hätte das große Holzkreuz im Trauersaal mit einer schwarz-roten Fahne verdeckt werden sollen? Andererseits hätte Lutz sich wahrscheinlich in einem Anflug von Sarkasmus über den Anblick des langjährigen Weggefährten Karl Heinz Roth amüsiert, der als Trauerredner vor dem Holzkreuz wirkte wie ein syndikalistischer Pfarrer.

Lutz hätte sicher große Freude an dieser würdevollen Trauerfeier gehabt, die bei schönem Wetter ihren Ausklang mit einer Zusammenkunft im Verlag hatte. Hier kamen sich auch viele FreundInnen und GenossIn­nen von Lutz nahe, die sich bis­her nur vom Sehen oder Hörensagen kannten. Lutz verbindet über den Tod hinaus. Sein schwarz-roter Faden wird aufgenommen und auch nach seinem Tod wird weiter an der Idee eines libertären Sozialismus ge­strickt.

Als Hanna, Lutz und ich am 7. September 2009 nach der Beerdigung von Horst Stowasser gemeinsam die Rückreise von Neustadt antraten, habe ich den beiden auch von Martin S. (siehe Kasten auf dieser Seite) erzählt. Wir waren uns einig, dass es wichtig ist, eine li­ber­täre Trauerkultur, wie sie bei der bewegenden Beerdigung von Horst vorgelebt wurde, weiter zu etablieren.

Die Beerdigung von Lutz war ganz in diesem Sinne.

Die von Cornelia Schramm im Rahmen der Trauerfeier für Lutz vorgelesenen Auszüge aus Beileidsbriefen und die ergreifenden Trauerreden, die am Sarg unter anderem von Lutz’ Arzt Hans Schulz, von den DadaistInnen Michael Erlhoff und Uta Brandes, vom Deutschlandfunk-Redakteur Hajo Steinert und den anarchistischen Weggefährten KP Flügel und Robert Brack gehalten wurden, sollen zum großen Teil in der nächsten Ausgabe der Aktion erscheinen. Und die wird im September voraussichtlich der GWR 381 beigelegt. Deshalb werde ich darauf hier nicht näher eingehen.

 

Nur soviel:

Am meisten geheult habe ich bei der ergreifenden Rede von Corinna Sievers. Als sie erzählte, hatte ich den Eindruck, Lutz, dieser große Menschenfreund, stehe mitten im Saal:

„Zwei Menschen, die verschiedener nicht sein können, Lutz Schulenburg und ich. Er: Anarchist, Atheist, glühender Verehrer des Surrealismus. Ich: bürgerliche Katholikin im Herzen, Verehrerin des Barock. Und doch hat er mich mit offenen Armen in seinem Verlag aufgenommen.“

Corinna Sievers, die Kieferor­thopädin, die seit 2011 Nautilus-Autorin ist, erzählte anrührend, wie sie Lutz kennen gelernt hat: „Es war wie immer, Autorin schickt unverlangt Manuskript an Verlag. Wochenlang nichts. Dann eine Mail. Man wünscht mich in Hamburg zu sehen. Ja natürlich, ich komme. Ob wir zusammen zu Abend essen werden, schreibt der Verleger. Noch sind wir uns nicht begegnet. ‚Mit Vergnügen‘, antworte ich, ‚ich wohne im Ho­tel ‚Vier Jahreszeiten‘“.

Dort gebe es dieses köstliche Essen „Vier Jahreszeiten-Ente vom Grill“. Für Freitagabend könne sie dort einen Tisch reservieren. Hannas Antwort ha­be einen ganzen Tag benötigt:

„Sie habe den Verleger gefragt. Wenn es denn unbedingt sein müsse, esse Lutz auch ‚Ente vom Grill‘. Es müsse aber nicht unbedingt sein. ‚Wir essen lieber zu Hause Eintopf in unserem Wohnzimmer, der auch Verlag ist. Jedenfalls finde ich nichts persönlicher.‘“

Warum sie das Manuskript ausgerechnet ihm geschickt habe, habe Lutz sie gefragt. Darauf habe sie geantwortet, dass sie gerne in einem Verlag mit Jochen Schimmang und Anna Rheinsberg sein möchte. „Aha.“ Wie politisch dieser Mensch sei, habe sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gewusst.

„Ich weiß gar nicht, wie viele von den Anwesenden das Glück hatten, von Lutz auf die Wange geküsst zu werden.“ Sie jedenfalls habe dieses Glück ge­habt. „Es waren die nassesten Wangenküsse und die längsten: 180 Sekunden. Ich habe Hanna davon erzählt. Sie sagte, sie wisse das. ‚Ich habe Lutz tausendmal gesagt, er soll sich die Lippen abtrocknen‘. Lieber Lutz, ich bin sehr froh, dass Du mich geküsst hast. Und ich wür­de alles dafür geben, noch ein­mal von Dir geküsst zu werden.“

 

Lieber Lutz, wir vermissen Dich und werden Dich nicht vergessen.

 

Bernd Drücke

 

Anmerkungen:

 1 Subversive Kopffüßler? Ein Interview mit Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg zum dreißigsten Geburtstag der Edition Nautilus, in: B. Drücke (Hg.), ja! Anarchismus, a.a.O., Kurzfassung auf: www.graswurzel.net/292/nautilus.shtml

2 Zur Geschichte u.a. von MAD, Revolte und Die Aktion siehe: B. Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998

3 Siehe: Trauerrede für Sigi. Sigrid Brodrecht (geb. am 17.12.1941; gest. am 10.2.2013), in: GWR 378, April 2013, S. 2

 

Dadaweb-Gedenkseite für Lutz:

www.dadaweb.de/wiki/Lutz_Schulenburg_-_Gedenkseite

 

Nachruf aus: Graswurzelrevolution Nr. 380, Sommer 2013, www.graswurzel.net