Spaghetti und Bollywood

Mit einer Schüssel voller Spaghetti verglich dieser Tage ein indischer Kolumnist eine immer skurriler werdende Affäre zwischen Indien und Italien. Und schlug gleichzeitig vor, dass deren Handhabung durch seine Regierung und Justiz an Bollywood übergeben werden sollte, wo genügend Erfahrung bei der Lösung aller Probleme mit einem happy end vorhanden sei.
Was ist der Grund für diesen Sarkasmus? Vor über einem Jahr kam es vor der Südküste Indiens zu einem tragischen Ereignis. Der militärische Begleitschutz eines italienischen Öltankers feuerte auf ein indisches Fischerboot – sah es offensichtlich als Piraten an – und tötete zwei Insassen. Die beiden Schützen wurden wenige Tage später durch die indische Küstenwache wegen Mordverdachts inhaftiert. Die Bemühungen der italienischen Regierung nach Freilassung schlugen fehl, zumal eine bilaterale Expertenkommission sich über den Tathergang nicht einigen konnte. In einer humanitären Geste gestattete das Oberste Gericht Indiens den beiden Beschuldigten, Weihnachten in ihrer Heimat zu verbringen. Der italienische Botschafter in Neu Delhi bürgte im Namen seines Staates, dass sie nach zwei Wochen wieder anreisen würden, was auch geschah. Nur wenig später wurde erneut einem Antrag stattgegeben, die beiden zur Teilnahme an der Parlamentswahl in Italien ausreisen zu lassen. Wieder bürgte der Botschafter, angeblich legte er auch e-mails seines Aussenministers und des Ministerpräsidenten vor. Doch diesmal reisten die Beschuldigten nicht wieder an. Das italienische Aussenministerium erklärte dazu, dass nach internationalem Recht die indische Justiz nicht zuständig sei.
Die indische Reaktion war ungewöhnlich scharf. Der Premierminister selbst warf nur einen Tag später der italienischen Regierung Wortbruch vor, der nicht ohne Folgen bleiben würde. Und prompt griff das Oberste Gericht Indiens zu einer aussergewöhnlichen Massnahme und verhängte über den italienischen Botschafter eine Ausreisesperre, nahm ihn quasi in Geiselhaft.
Damit war der Schlamassel erst einmal perfekt. Eine höchstwahrscheinlich versehentliche Tat – die trotzdem strafrechtlich verfolgt werden muss – schraubte sich hoch in die Gefilde des Völker- und Diplomatenrechts und wurde zu einem ernsthaften Problem in den bilateralen Beziehungen zweier befreundeter Staaten. Auch die  EU-Kommission gab ihren Senf dazu, und das US-Präsidentenamt meldete sich. Wie ist das alles möglich?
In Indien standen diesmal nicht nur ein reformbedürftiges Justizsystem und eine schwache Zentralregierung im Blickpunkt, die es durch Fehlentscheidungen und Inaktivität überhaupt erst soweit kommen liessen.Vielmehr witterten nationalchauvinistische Kräfte erneut eine Chance, der regierenden Kongresspartei in Gestalt ihrer Präsidentin, Sonia Gandhi, kräftig am Zeug zu flicken. Denn diese ist von Geburt Italienerin, ausserdem Katholikin, also wird sie a priori einer nachgiebigen Haltung gegenüber Italien beschuldigt. Darüber hinaus wurden Korruptionsskandale im Waffengeschäft mit italienischen Geschäftsleuten ins Spiel gebracht. Vor Jahrzehnten belasteten sie den damaligen Premierminister Rajiv Gandhi (dem einem Attentat zum Opfer gefallenen Ehemann von Sonia G.). Auch gegenwärtig wirft ein Hubschraubergeschäft, das durch italienische Waffenhändler mit Schmiergeldern vermittelt wurde, einen Schatten auf hohe Kongresspolitiker. Die eher als sanftmütig bekannte Frau Gandhi konnte sich den nationalistischen Vorwürfen nicht entziehen. Sie demonstrierte Stärke und donnerte ihrem Mutterland entgegen, dass kein Land der Welt das Recht habe, mit Indien umzuspringen, wie es wolle. Die italienische Regierung habe „Verrat an der Übereinkunft mit unserem Obersten Gericht“ begangen, so Gandhi.
Die italienische Regierung war bemüht, den Ball flach zu halten. Allerdings war ihr Botschafter noch nicht aus dem Schneider. Nach der Wiener Diplomatenkonvention geniesst er im Gastland Immunität und kann von der Justiz nicht verfolgt werden, mit einer Ausnahme: wenn er sich selbst an ein Gericht gewandt hat, ist seine Immunität gefährdet. Mit seiner schriftlichen Garantieerklärung – so der Präsident des Obersten Gerichts Indiens – habe er das aber getan. Wie ein Damoklesschwert hingen so weitere Vergeltungsmassnahmen über dem armen Botschafter.
Doch am 22. März – dem Ablaufdatum des „Freigangs“ der beiden Italiener – änderte sich plötzlich die Lage. Die beiden italienischen Soldaten kehrten nach Indien zurück. Die italienische Regierung hatte kräftig Dampf aus dem Spaghettitopf abgelassen, wohl nach der Zusicherung, dass den beiden im bevorstehenden Prozess nicht die Todesstrafe – was nach indischem Recht möglich wäre – droht. Nun stand es 1 : 0 für Indien, seine Regierung demonstrierte Selbstbewusstsein und liess sich und ihre Diplomatie feiern. Doch das Spiel ist noch nicht beendet. Der Prozess vor einem Sondergericht steht bevor, man weiss nicht, welche Überraschungen die Justiz bereithält. Denn einflussreiche nationalistische Kräfte wollen ihren Anteil am „Erfolg“ und möchten den Fall möglichst hoch ansiedeln.
In Italien hat die Rücksendung der beiden Soldaten mittlerweile ebenfalls eine nationalistische Welle erzeugt, besonders eifrig von den Berlusconi-Blättern geschürt. Angeblich habe Staatspräsident Napolitano den Noch-Ministerpräsidenten Monti zur Rücksendung angewiesen, heisst es. Aus Protest dagegen ist nun Aussenminister Terzi zurückgetreten. Vor dem Parlament sagte der lombardische Adelsspross und Karrierediplomat, dass er so „die Ehre des Landes, der Soldaten und der Diplomaten“ schützen wolle. Die Lage im politisch instabilen Italien mit Neuwahlen in Sicht legt aber den Schluss nahe, dass sich hinter diesen noblen Worten nur eine persönliche beziehungsweise. parteiliche Profilierung verbirgt. Bezeichnenderweise sucht man vergebens nach einem Wort des Mitleids oder gar eine Entschuldigung an die Angehörigen der beiden indischen Fischer. Ihr Tod ist mittlerweile vollkommen in den Hintergrund gedrängt worden.
Leider gibt es überall auf der Welt immer wieder tragische Zwischenfälle, die dem hier vorliegenden ähneln. Vernünftigerweise werden solche Ereignisse meist klein gehalten und im gegenseitigen Einvernehmen geregelt. Doch einmal in die Hände von Parteiinteressen und Nationalismus gefallen, werden sie hochgeschaukelt und mit einer Aufmerksamkeit und einem Aufwand versehen, die sie nicht verdienen.