Ausbeutung auf allen Ebenen

Kalle Kunkel* zum Kampf um die Arbeitsbedingungen bei Netto

in (26.11.2012)

Über 40 Prozent des Umsatzes im deutschen Lebensmitteleinzelhandel werden bei den Discountern gemacht. Dass die Konkurrenz um die Gunst der »preisbewussten« Kundschaft in diesem Geschäft vornehmlich auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird, ist keine Neuigkeit – erinnert sei etwa an die gewerkschaftliche Auseinandersetzung mit Lidl, die vor einigen Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Die Branche ist weiterhin gehörig in Bewegung: Der zur Edeka-Gruppe gehörende Discounter Netto hat sich mit der Übernahme der Plus-Märkte in 2009 zur Nummer drei der Branche gemausert, und will offenbar auch in puncto grenzlegaler Ausbeutung zu den Großen gehören. So werden Azubis schlicht als billige Arbeitskräfte oder sogar Marktleitungen eingesetzt und ehemalige Stammbeschäftigte von Plus durch 400-Euro-Jobs verdrängt. Kalle Kunkel wirft einen kritischen Blick auf die Branche und das Geschäftsmodell von Netto und schildert mögliche Strategien der Gegenwehr. Im nachfolgenden Gespräch mit Stefan Schoppengerd berichtet eine ver.di-Aktive von Entstehung, Verlauf und Stand der ver.di-Auseinandersetzung mit dem Discounter, die in Göttingen durch die Schließung gewerkschaftlich erschlossener Filialen eine drastische Zuspitzung erfahren hat.

Die EDEKA-Tochter Netto Markendiscount ist im Segment der Lebensmitteldiscounter der Rising Star der letzten Jahre. Anfang 2009 übernimmt Netto das Filialnetz von Plus und steigt damit zu einem bundesweiten Player auf. Mit dem zweitgrößten Filialnetz (ca. 4000 Filialen) nach ALDI und dem drittstärksten Umsatz nach ALDI und Lidl bestimmt Netto seitdem die Bedingungen im Discounterbereich entscheidend mit. Und dies nicht zum Guten: Die bundesweite Kritik an den Arbeitsbedingung bei Netto beginnt unmittelbar mit der Expansion.

 

Die Rahmenbedingungen

Netto expandiert in einen bereits übersättigten Markt. Deutschland ist in Europa das Land mit der größten Verkaufsfläche pro Einwohner. Zugleich geben die Deutschen im Verhältnis zu den gesamten Konsumausgaben so wenig für Lebensmittel aus wie niemand sonst in Europa. Die Konsumausgaben generell stagnieren, da es das Kapital im Zusammenspiel mit den Regierungen der letzten Jahre geschafft hat, den Preis der Ware Arbeitskraft immer weiter zu senken. In diesem stagnierenden Markt ist Wachstum nur auf Kosten der Konkurrenten  möglich. Unter diesen Rahmenbedingungen hat sich im Discounterbereich geradezu ein Wettbewerb um die schlechtesten Arbeitsbedingungen entwickelt.

 

Netto – ein spezieller Akteur im Discounterbereich

 

Eine zentrale Stellschraube im Konkurrenzkampf unter den Discountern sind die Personalkosten. Den Lohn selbst senkt Netto zum einen durch den Einsatz von 400-Euro-Kräften, die grundsätzlich nicht nach Tarif bezahlt werden, zum anderen über den Einsatz von Auszubildenden. Über 6000 von ihnen arbeiten bei Netto. Von den zehn bis zwölf Personen pro Filiale sind häufig drei bis fünf Azubis. Sie verdienen ca. 3,50 – 4,50 Euro und werden entweder als Kassier- und Verräumkräfte unterfordert oder als Stellvertretungen für die Marktleitungen – ohne Anleitung, versteht sich – überfordert. Eine gute Ausbildung erhalten die wenigsten.

Die zweite wichtige Stellschraube bei Netto ist die Arbeitsverdichtung und die damit erzwungenen unbezahlten Überstunden. Dies hängt eng mit der Unternehmensstrategie von Netto zusammen.

Der Discount setzt auf ein bestimmtes Einkaufsverhalten: Den großen Masseneinkauf sollen die »preisbewussten« Kunden beim Discounter machen und sich danach gegebenenfalls im Supermarkt mit Markenprodukten und spezielleren Waren eindecken. Das ursprüngliche Discountkonzept von ALDI basiert auf weniger als 1500 Artikeln. Die Kunden nehmen für die günstigen Preise in Kauf, quasi zwei Mal einkaufen zu müssen.

Jedoch nehmen auch Supermärkte und Vollsortimenter bei den Standardartikeln zunehmend sogenannte Eigenmarken ins Programm, die es mit dem Discount preislich aufnehmen können. Vor diesem Hintergrund nehmen die Discounter ihrerseits immer mehr Markenartikel, aber auch Bioprodukte ins Sortiment auf. Durch diese Erweiterung wird jedoch das Discounterprinzip verwässert, dessen Kern es ist, ein schmales Sortiment ohne viel Personalaufwand zu präsentieren.

Netto ist dabei Vorreiter. Als »Markendiscount« bietet Netto über 4000 Artikel an – mehr als das Doppelte der Konkurrenz. Kombiniert wird dies mit einer aufwändigeren Warenpräsentation, die das Image als Qualitätsmarke stärken soll. Zugleich will Netto dies mit der Personalkostenkalkulation eines Discounters umsetzen. Das Konzept zielt also auf ein neues Kaufverhalten. Die Kunden sollen alles unter einem Dach erhalten. In der Verdrängungskonkurrenz auf dem Lebensmittelmarkt ist dies die logische Konsequenz, denn über den Preis kann schon lange kein Wettbewerbsvorteil mehr erzielt werden. Also versucht Netto die Qualität des Angebots zu erhöhen, ohne jedoch die dafür notwendigen höheren Personalkosten in Kauf nehmen zu wollen. Hier orientiert man sich stattdessen an der Discounterbranche.

 

Folgen für die Beschäftigten

 

Den Preis für diese Quadratur des Kreises zahlen die KollegInnen in den Filialen. Eine Kassiererin soll z.B. zusätzlich zu ihrer Kassiertätigkeit bei Netto noch ca. zehn andere Aufgaben erledigen – während sie an der Kasse sitzt. Die zentralen Instrumente zur Durchsetzung dieses Regimes sind kennzifferngesteuertes Management durch Zielvorgaben und das Benchmarking der Filialen. Diese Techniken des modernen Managements sind gepaart mit einem Kasernenhofstil in der Personalführung. In kürzesten Abständen müssen sich die Leitungen für ihre Zahlen (Umsatz, Inventurzahlen, Verluste in den einzelnen Sortimentsgruppen, z.B. Obst, Fleisch, etc.) rechtfertigen. Die Filialen werden regelmäßig von den Vorgesetzten besucht. Gibt es am äußeren Zustand der Filiale etwas auszusetzen, werden Fotos gemacht und zu den Akten genommen. Werden Vorgaben zur Warenpräsentation nicht termingerecht umgesetzt, müssen die Leitungen dafür Rechtfertigungen schreiben. Die Geschwindigkeit an den Kassen wird rechtswidrig erfasst. KollegInnen, die nach Ansicht der Vorgesetzten zu langsam sind, werden zu »Kassenschulungen« geschickt. Die Filialen mit den schlechtesten Zahlen werden regelmäßig zu sogenannten Flop-Schulungen zusammengeholt. Dort müssen sich die Leitungen für die Zahlen rechtfertigen. Intern werden diese Schulungen auch als Inquisition bezeichnet. Netto erzwingt so, dass die KollegInnen ›freiwillig‹ auf ihre Pausen verzichten und massenhaft unbezahlte Überstunden leisten.

 

Die Forderung der ver.di-Aktiven

Dagegen setzen sich deutschlandweit immer mehr KollegInnen zur Wehr. An immer mehr Orten bilden sich Gruppen von aktiven ver.di-KollegInnen, die die Arbeitsbedingungen bei Netto öffentlich zum Thema machen (siehe auch die Kampagnenseite www.neulich-bei-netto.de). Dadurch setzen sie das Unternehmen unter Druck, damit es die vorausgesetzte Selbstausbeutung der KollegInnen nicht mehr zum Bestandteil des Unternehmenskonzepts machen kann.

Die ver.di-Aktiven in Essen haben die naheliegende Forderung gestellt, dass es ein transparentes System der Personalplanung geben muss, auf das sich die Leitungen bei der Arbeitsplanung verbindlich berufen können. Sie wollen so verhindern, dass der Personalbestand der Filialen immer weiter gedrückt wird, um Vorgesetzten ein gutes Abschneiden im internen Personalkosten-Benchmarking zu ermöglichen. Die Mehrheit der KollegInnen in Essen unterstützt diese Forderung mit der Unterschrift unter eine entsprechende Petition. Auf den Aktiventreffen sind über die Hälfte der Essener Filialen und – mit Ausnahme der 400-Euro-Kräfte – alle Beschäftigtengruppen vertreten. Der Kampf wird also von der Belegschaft breit getragen. Das Management weigert sich bisher, über die Forderung auch nur zu reden. In den Antworten an die ver.di-Aktiven versucht es, das Problem mit immer abstruseren Argumenten zu individualisieren.

In dieser Weigerung kommt zum Ausdruck, dass die KollegInnen ein Kernthema im Discount in Angriff genommen haben. Denn in der Tat: Eine verbindliche Personalplanungsregelung würde der Geschäftsleitung eine zentrale Waffe aus der Hand schlagen, mit der sie auf Kosten der Beschäftigten versucht, ihre Konkurrenten auszustechen. Zugleich hat der Kampf der Aktiven bei Netto eine Bedeutung für den gesamten Discounterbereich. Denn wenn Netto mit seiner Strategie durchkommt, die Erweiterung des Angebots ohne eine relevante Steigerung der Personalkosten zu organisieren, werden ALDI, Lidl und Co. früher oder später nachziehen.

 

Antworten auf ein modernes Managementparadigma

Die KollegInnen machen damit ein Problem zum Thema, dem bisher zu wenig Aufmerksamkeit in der gewerkschaftlichen Strategiebildung geschenkt wird. Das Kapital nimmt die Beschäftigten in den letzten Jahren von zwei Seiten in die Zange, um seine Profite zu erhöhen. Zum einen hat es in den letzten Jahren Lohnstagnation bzw. Lohnsenkungen durchgesetzt. Zum anderen antwortet es auf die – im europäischen Vergleich – immer noch hohen nominellen Stundenlöhne in Deutschland mit einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch aggressive Arbeitsverdichtung.

Das kennzifferngesteuerte Management durch Zielvorgaben ist hier eines der wesentlichen Instrumente. Den Beschäftigtenteams werden Ziele vorgegeben, die sie mit vorgegebenen Ressourcen umsetzen müssen. Arbeitsschutzbestimmungen, Tarifstandards und persönliche Belastungsgrenzen – die eigenen und die der KollegInnen – werden unter diesen Bedingungen zu störenden Hindernissen bei der Erreichung der Zielvorgaben.[1] Dies sorgt für eine Entgrenzung der Arbeit, der mit den bisherigen Regelungen in Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträgen nur schwer beizukommen ist. Um der Intensivierung der Arbeit etwas entgegenzusetzen, muss ver.di im Dienstleitungsbereich neben Lohn- und Arbeitszeitstandards auch Regeln durchsetzen, die dafür sorgen, dass für zugewiesene Aufgaben ausreichend Zeit zur Verfügung steht.

Im Gesundheitsbereich wird mit derartigen Forderungen im Rahmen der Kampagne »Der Druck muss raus« experimentiert. In diesem Zusammenhang stellen die ver.di-KollegInnen an der Charité nun erstmals die tarifvertragliche Forderung nach einer personellen Mindestbesetzung in der Pflege (siehe Artikel S. 4 in dieser Ausgabe). Die IG Metall fordert zu demselben Thema eine Erweiterung des Arbeitsschutzgesetzes.[2] Über die Frage der Arbeitsverdichtung ist also der aktuelle Kampf bei Netto aufs Engste mit den Auseinandersetzungen in allen Bereichen verbunden, in denen die Belastungsgrenze erreicht oder schon überschritten ist. Der Schlüssel liegt darin, den Strategien der Arbeitsverdichtung effektive Grenzen zu setzen. Die Aktiven bei Netto haben entschieden, damit in die Offensive zu gehen. Sie werden auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn andere ihnen folgen.

 

*  Kalle Kunkel ist Gewerkschaftssekretär in einem Organizing-Projekt bei Netto-Markendiscount in NRW.

Eine Kurzfassung des Beitrags ist erschienen in SoZ – Sozialistische Zeitung, Nr. 11/2012.

 

 

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[1]           Siehe hierzu: Wilfried Glißmann / Klaus Peters: »Mehr Druck durch mehr Freiheit«, Hamburg 2001

[2]              IG Metall Vorstand (Hg): »Anti-Stress-Verordnung – Eine Initiative der IG Metall«, Frankfurt am Main 2012