Der Körper als Schlachtfeld

Die Bärte kehren zurück

Junge amerikanische Mittelstandsnormalos kultivieren den Auszug aufs Land, begehren nach Unmittelbarkeit und weisen die moderne Lebenswelt zurück. Das Video zu „Back down south“ der Rockband Kings of Leon entführt die Zuschauer_in aufs Land. Sie halten sich an den Händen, ziehen nach Süden und zünden sinnfrei Feuerwerkskörper an.
An der Wand der Kneipe hängen Hirschgeweihe. Eine Lap-Steel Guitar sorgt für country-esque Atmosphäre. Das Lied knüpft an die neuerliche Retro-Folkwelle an. Die Fleet Foxes etwa singen oft im Chor und klingen dabei nach einer Mischung aus den Crosby, Stills, Nash and Young und The Mamas and the Papas. In der Single-Auskopplung „Mykonos“ von ihrer EP „Sun Giant“ kommt auch noch das vor, was in der zeitgenössischen Populärkultur vollkommen abhanden gekommen ist. Es gibt einen innovativen C-Teil, jenseits von Refrain und Strophe, der nochmal vollkommen neu mit einem Chorgesang ansetzt. Dazu wird im Video eine Welt aus gefaltetem Papier in warmen Erdtönen gestaltet. Man merkt: Hier haben Designer-Drogen, Kokain und Speed keinen Platz, Haschisch und Halluzinogene kehren zurück.
Die Retrofolker tragen Bärte. Da sie zum Wesentlichen vordringen wollen, bleibt für die akribische Rasur keine Zeit. Der Singer/Songwriter Bon Iver beispielsweise hat sich für sein Debut-Album „Emma, forever ago“ in die Wälder von Wisconsin zurückgezogen, um mit einfachster Technik seine Lieder aufzunehmen. Sein Neuling „Bon Iver“ ist zwar musikalisch anspruchsvoller und teils sphärisch-experimentell angelegt. Die Reduktion bleibt aber das kennzeichnende Merkmal. Die Texte bauen eine eigene Erfahrungswelt auf, die Akkorde wechseln selten. Der Bart der Retro-Folker ist zum Kennzeichen geworden. Am faszinierendsten ist die optische Erscheinung von William Fitzsimmons. Er kombiniert kurzes Haar mit einem langen Vollbart. Er sieht aus wie ein den Romanen Dostojewskis entlaufener Anarchist, der aber auf seinem Album „Gold in the shadow“ vorsichtig und intim mit warmer Stimme nachdenkliche Lieder vorträgt. Retro-Folker sind Romantiker. Sie verachten die seichte Populärkultur, die in unendlichen Schleifen der Zerstreuung keine gehaltvollen Erfahrungen mehr zulässt. Sie ziehen aus in die Wälder, zurück in die Natur, verzweifeln an unerwiderter Liebe und freuen sich kindisch über Feuerwerke und Hirschgeweihe.
Auch bei den Wissenschafts- und Internetnerds kommt dem Bart eine wichtige Rolle zu. Die Bilder von Parteitagen der Piraten zeigen männliche Fachabiturienten, die Bärte, lange Haare und schwarze T-Shirts von Heavy Metal Bands der 1990er Jahre tragen. Hauptsache die Liquid-Democracy-Plattform funktioniert, alles andere ist egal. Und in der Comedy-Serie Big Bang Theory, in deren Mittelpunkt eine Wohngemeinschaft aus forschenden Naturwissenschaftlern besteht, leben die Protagonisten in ihrer Freizeit in einer Welt aus Computerspielen und den Helden der Comic-Kultur. Zwar tragen sie keine Bärte, dafür aber Kleidung im Stil der 1970er Jahre und manchmal eben auch ein Superman-Kostüm.
Bärte werden wieder gerne in linken Theoriezirkeln getragen. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek macht es vor. Schwitzend steht er in abgetragenen T-Shirts hinter dem Katheder und füllt mit seinen Vorträgen regelmäßig die Auditorien der Universitäten. Gemeinsam mit dem französischen Philosophen Alain Badiou gehört er zu den Protagonisten eines Diskussionszusammenhangs, der versucht die Idee des Kommunismus nochmal mit Leben zu füllen. So unterschiedlich die philosophische Ausrichtung der Teilnehmer dieser Theorie-Diskussion sind, so deutlich tritt doch ihre gewachsene Popularität hervor. Das ist schon verwunderlich, da die Theorien kaum massenkompatibel sind und der Mehrzahl der Zuhörenden wahrscheinlich undurchsichtig bleiben. Aber trotzdem: Es gibt ein „Journal of Žižek Studies“ und die neverending Tour von Žižek, Badiou und Co. durch die Hörsäle der Welt. Die Neokommunisten sind auf ihre Weise auch Nerds, weltabgewandt und weltzugewandt zugleich. Und sie beharren, dass es einen neuralgischen Punkt gibt, von dem aus doch noch eine Alternative zum globalisierten Kapitalismus denkbar wird. Der Kommunismus ist wesentlich. Alles andere ist Quark.
Retro-Folker, Piraten und Neokommunisten haben (noch) nichts miteinander zu tun. Der gewachsene Raum, den sie einnehmen, ist Ausdruck einer veränderten Reaktion auf das neoliberale Prinzip der möglichst glatten Selbstoptimierung. Die Retro-Folker fahren nicht in den Cluburlaub, sondern ziehen aufs Land. Die Piraten bemühen sich nicht, um die Integration der Nachkriegsgeneration in ihre Lebenswelt, sondern lachen über die analoge Welt der Politiker über fünfzig. Die Neokommunisten üben sich nicht in ständiger Selbstrelativierung, sondern halten dem Projekt einer Gesellschaftsalternative die Treue. Alle tragen Bärte und weisen externe Anforderungen an Flexibilität zurück. Die Versuche die neoliberale Selbstführung und Flexibilität, die Work-Life-Balance und die nie erreichbare Perfektion des unternehmerischen Selbst von links her zu überschreiben, kommen eventuell an ein Ende. Die Nerds weisen die Zumutungen zurück. Und sie tragen Bärte. Ihr Körper ist das Schlachtfeld.

Dieser Text ist der Ausgabe 13 des Magazins prager frühling entnommen. Die Ausgabe kann hier bestellt werden.