Die dritte Welt als Vorbild?

Krisenbewältigung in Europa

Der folgende Text ist der Ausgabe 13 des Magazins prager frühling entnommen. Die Ausgabe kann hier bestellt werden.

Kapitalistische Entwicklung verläuft krisenhaft. Heute manifestiert sich die Krisenanfälligkeit in den Zentren der Weltökonomie. In den 1980er und 1990er Jahren war besonders die Dritte Welt betroffen. Die Ursachen von Krisen in der globalen Peripherie und der Umgang mit ihnen weisen frappierende Parallelen zu aktuellen Entwicklungen in Europa auf. Eine entsprechende Gegenüberstellung erweist sich daher als sehr aufschlussreich.
Die Periode strikter Kapitalverkehrskontrollen und national stark reglementierter Finanzsektoren in der Nachkriegszeit bis Mitte der 1970er Jahre war weltweit von einer außerordentlich hohen wirtschaftlichen Stabilität gekennzeichnet. Erst die Liberalisierungsschritte in der Folge der Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems seitens der USA Anfang der 1970er Jahre machten die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus zunächst vor allem in der globalen Peripherie neuerlich sichtbar. Ab Mitte der 1970er Jahre erfolgte im Kontext der von den USA – und der liberalen Wirtschaftstheorie – geförderten Liberalisierung in der Peripherie ein sprunghafter Anstieg der Kapitalzuflüsse in Form von US-Dollar-Krediten. Diese wurden aufgrund vergleichsweise geringer Zinsen vorrangig von Unternehmen und Banken aufgenommen. Dies war vor allem in Lateinamerika, aber auch in Afrika zu beobachten. Zum Teil setzten jedoch auch realsozialistische Länder wie Ungarn und Jugoslawien auf Auslandsverschuldung. Dieser Zustrom von Finanzmitteln stellte sich alsbald als Problem heraus.

Die Fehler der Schuldenkrise der 1980er Jahre ...
Mit dem Einzug monetaristischer Politiken in den USA ab 1979, deren Kern die Anhebung der Zinsen war, verteuerten sich Zins- und Schuldendienst dramatisch. Die Auslandsschulden der Banken und Unternehmen wurden von den Staaten in der Dritten Welt meist übernommen, wodurch diese quasi über Nacht enorme Auslandsschulden hatten. Die Stunde der sogenannten Strukturanpassungsprogramme des IWF war gekommen. Dieser bot „Hilfe“ mittels Überbrückungskrediten und Umschuldungen an, welche an rigide Konditionen geknüpft waren. Das oberste Ziel der Strukturanpassungsprogramme bestand in der Aufrechterhaltung des Schuldendienstes im Interesse der Gläubiger – vor allem Banken in den USA. Die Schuld wurde nicht nur materiell, sondern auch diskursiv den peripheren Staaten zugeschoben: Nicht die laxe Kreditvergabe der Banken im Norden, sondern die hohen staatlichen Defizite in der Peripherie wurden angeprangert. „Sparen, sparen, sparen“ lautete folgerichtig das Diktum. Vor allem Sozialausgaben wurden gekürzt, Privatisierungen voran getrieben. Ausländisches (sprich: US- und EU-Kapital) sollte in allen Bereichen ungehinderten Zugang zu den Märkten erlangen. Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes führte zu massiven Reallohnverlusten. Die Maßnahmen waren insoweit erfolgreich, als der Schuldendienst aufrecht erhalten und damit die Interessen der Gläubiger in den USA und Europa geschützt wurden und Auslandskapital günstig privatisierte Betriebe erwerben konnte. Dies allerdings auf Kosten der Mehrheit der Menschen in der Peripherie – die 1980er Jahre gelten als das verlorene Jahrzehnt. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf war beispielsweise in Lateinamerika Ende der 1980er Jahre ca. 10 Prozent niedriger als zu Beginn der Dekade. Überdies waren die Gesellschaften erheblich ungleicher geworden und die Armut war sprunghaft angestiegen. Gleichzeitig kam es zu einem substanziellen Nettoressourcentransfer in den Norden. Insgesamt wurde das Kapital im Zentrum der Weltökonomie – allen voran in den USA – gestärkt. Eine neuerliche Welle des spekulativen, teils über Kredite finanzierten Kapitalzuflusses in die Peripherie erfolgte in den 1990er Jahren. Von Mexiko über die Asienkrise und Russland bis Argentinien waren die Konsequenzen ähnlich und die vom IWF diktierte Anti-Krisenpolitik im Interesse der Gläubiger aus dem Norden folgte demselben Muster.

... werden bei der Finanzkrise in Europa ...
Spekulative Kapitalzuflüsse im Kontext einer extrem liberalisierten Finanzmarktpolitik in der EU flossen in Form von Krediten ab den 2000er Jahren vor allem in die europäische Peripherie. Wieder waren die Konsequenzen dieselben und der beinahe schon beschäftigungslos gewordene IWF wurde neuerlich aktiv. Wo der Bankrott drohte, sprang er in Kooperation bzw. auf Zuruf mit EU-Institutionen ein. Nicht die spekulative Kreditvergabe seitens der Banken oder die Sozialisation der Kosten der Finanzkrisen gelten als Problem, sondern überbordende Staatsausgaben und hohe Löhne. Auch die Tatsache, dass Länder wie Griechenland oder Portugal durch das spekulative Ansteigen der Zinsen in die Knie gezwungen wurden, wird nicht thematisiert. Die durchgesetzten Maßnahmenpakete von Ungarn bis Irland waren wiederum sehr ähnlich: Staatliche Sparpolitik mit dem Ziel des Gläubigerschutzes war und ist angesagt. Wie üblich wurde die Gelegenheit der Krise genutzt, um neoliberale Politiken – allen voran Privatisierungen, Abbau des Sozialstaates und Deregulierung des Arbeitsmarktes – voranzutreiben. Den desaströsen sozialen und wirtschaftlichen Folgen für die betroffenen Länder steht ein (bislang) erfolgreicher Gläubigerschutz gegenüber. Damit wurden die Finanzinteressen im Zentrum der EU erfolgreich verteidigt.

... einfach wiederholt.
Diese Krisenbewältigungsprogramme haben jedoch noch eine weitreichendere Bedeutung: Sie liefern die Blaupause für eine nachhaltige Radikalisierung des Neoliberalismus auf gesamteuropäischer Ebene. Die entsprechenden Sparpolitiken werden in Form zahlreicher Maßnahmen, allen voran der „europäischen Schuldenbremse“ auf Druck Deutschlands dauerhaft in der EU institutionalisiert. Auch wenn die Konsequenzen derzeit besonders in der europäischen Peripherie zu spüren sind, ist doch davon auszugehen, dass sie auch auf Deutschland übergreifen werden und Europa bestenfalls einer langen Periode der Stagnation entgegenblickt. Wem nützt das? Hier geben Vergleiche mit Krisenpolitiken in der Peripherie interessante Aufschlüsse: Erstens wird generell Kapital gegenüber Arbeit gestärkt  –  die Erledigung des europäischen (kontinentalen) Wohlfahrtsstaates mit seiner institutionalisierten Macht der Lohnabhängigen ist nicht mehr weit entfernt. Zweitens wird mindestens kurzfristig den Interessen der Gläubiger und damit des Finanzkapitals Rechnung getragen. Drittens profitieren große Kapitalgruppen in Deutschland, dem Zentrum des industriellen Produktionssystems Europas, von der aktuellen Form der (vermeintlichen) Krisenbewältigung. Denn eine Vertiefung der Krise schwächt kleinere Kapitalien, insbesondere in der Peripherie, und erlaubt eine weitere Zentralisation und damit einen Ausbau der Vormachtstellung des Kapitals.

 

Dieser Text ist der Ausgabe 13 des Magazins prager frühling entnommen. Die Ausgabe kann hier bestellt werden.