Verantwortung statt Gewalt

in (30.09.2012)

Polizeigewalt ist für viele Menschen ein Problem, das weit weg zu liegen scheint. In Deutschland wahrt die Exekutive die Sicherheit der Demokratie, ist „dein Freund und Helfer“ der/die die Anständigen schütz und gegen die Bösen vorgeht. Stuttgart 21 und Castortransport, Oury Jalloh und Dennis zeigen ein anderes Bild auf. Amnesty International hat sich mit ihrer Kampagne „Mehr Verantwortung bei der Polizei“ diesem Problem angenommen.

 

tendenz: Im Juli 2010 hat Amnesty International (AI) die Kampagne "Mehr Verantwortung bei der Polizei" gestartet. Dabei geht es um die Problematik der von der deutschen Polizei ausgehenden Gewalt. Was bedeutet Polizeigewalt genau?

Amnesty International (AI): Wir als Amnesty International haben festgestellt, dass es nach wie vor ernstzunehmende Vorwürfe gegen Polizeibeamte wegen Anwendung rechtswidriger Gewalt gibt. Rechtswidrige Gewalt liegt dann vor, wenn entweder ein Polizeibeamter in einer Situation körperliche Gewalt angewendet hat, in der er dies nicht durfte, oder aber in einer Situation, in der er Gewalt anwenden durfte, diese unverhältnismäßig war.

 

tendenz: Welche Forderungen vertritt Amnesty International?

AI: Amnesty International hat insbesondere vier Hauptforderungen. Wir wollen die Einführung einer individuellen Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamten, sei es durch Namen oder durch eine Nummer. Auch für die Etablierung von unabhängigen Untersuchungsinstitutionen, die statt der Polizei bei Vorwürfen gegen Polizeibeamte ermitteln setzen wir uns ein. Zudem fordern wir die verpflichtende Menschenrechtsbildung auch in der Fortbildung der Polizeibeamten. Schließlich wollen wir die Videodokumentation im Polizeigewahrsam.

 

tendenz: Nachdem 2005 Oury Jalloh in seiner Zelle, an Armen und Beinen an einer Matratze fixiert, verbrannt ist, kommen verstärkt Bedenken gegenüber rassistisch motivierten Übergriffen der Polizei auf. Mit welchen Formen von Polizeigewalt haben wir es zu tun? Gibt es bestimmte Zielgruppen?

AI: Wir haben mit der Veröffentlichung des Berichts Fälle dokumentiert, die an uns herangetragen wurden. Dabei haben wir keinen institutionellen Rassismus festgestellt, auch wenn in einzelnen Fällen Betroffene berichtet haben, dass Polizisten sich rassistisch geäußert haben. Im Fall von Oury Jalloh ist die rassistische Äußerung eines Polizisten dokumentiert.

Amnesty beobachtet aufmerksam Vorwürfe gegen Polizisten, dass diese sich rassistisch geäußert haben. Die Polizei steht genau wie andere staatliche Organisationen in der Pflicht, jede Form von Rassismus zu verhindern und Vorwürfe gegen Polizisten und Polizistinnen umfassend aufzuklären. Das haben auch die UN und der Europarat immer wieder unterstrichen.

 

tendenz: Seit dem Beginn der Kampagne war die Polizei heftiger Kritik gerade bei den Demonstrationen gegen das Projekt Stuttgart 21 ausgesetzt. Ist der Einsatz von Pfefferspray, Schlagstöcken und Wasserwerfern eine Neuigkeit auf Demonstrationen?

AI: Nach unserer Erfahrung werden Pfefferspray, Schlagstöcke und Wasserwerfer auch auf anderen Demonstrationen eingesetzt. Es handelt sich dabei um Waffen, die zurückhaltend eingesetzt werden müssen. Gerade die Menschenrechte müssen bei ihrem Einsatz immer beachtet werden.

 

tendenz: Ist das Problem der Gewalt ein strukturelles Problem der Polizei, das aus Männerbündnissen, Korpsgeist und hierarchischer Struktur hervorgeht oder handelt es sich um einzelne Ausbrüche sogenannter "schwarzen Schafe"?

AI: Amnesty International wirft der Polizei keine systematischen Misshandlungen vor. Unsere Recherche veranschaulicht aber, dass ernstzunehmende Vorwürfe der menschenrechtswidrigen Gewaltanwendung nicht umfassend aufgearbeitet werden. Wir sehen auch kein Muster für Misshandlungen und sind davon überzeugt, dass die große Mehrheit der Polizisten und Polizistinnen sehr gute Arbeit unter zum Teil sehr schwierigen Bedingungen leistet.

Aber, dass ernstzunehmende Vorwürfe von Misshandlungen in vielen Fällen von der Polizei und Staatsanwaltschaft nicht umfassend aufgeklärt werden, ist besorgniserregend. Darin liegt eine Verletzung von Art. 3 der Europäische Menschenrechtskonvention. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in ständiger Rechtsprechung unterstrichen, dass jeder ernstzunehmende Vorwurf einer polizeilichen Misshandlung umfassend, unmittelbar, unparteiisch und unabhängig aufgeklärt werden muss.

 

tendenz: Nicht nur die Gewalt von Polizei selber ist ein Problem, sondern auch die weitergehende juristische Verfolgung von TäterInnen. Oftmals wird auf Anzeigen mit Gegenanzeigen wie "Widerstand gegen die Saatsgewalt" reagiert. Welche Bedeutung hat dies?

AI: Es wurde in der Tat dokumentiert, dass ernstzunehmende Vorwürfe gegen Polizeibeamte eben nicht umfassend, unmittelbar, unabhängig und unparteiisch aufgeklärt werden. Das ist ein Problem.

Wenn es zu Gegenanzeigen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gegen die Betroffenen kommt, dann besteht die Pflicht, auch die Anzeige des Betroffenen umfassend zu ermitteln. Wir haben aber immer wieder beobachtet, dass zunächst die Gegenanzeige ermittelt wird und erst nach Abschluss dieser Ermittlungen die Anzeige bearbeitet wird. Das kann nicht sein.

 

tendenz: Oftmals wird gegen die Kennzeichnungspflicht mit dem Persönlichkeitsschutz der Beamten geantwortet. Geht Amnesty International auch darauf ein?

AI: Selbstverständlich hat die Polizeiführung die Pflicht, Polizeibeamte so zu schützen, dass sie nicht gefährdet werden. Die Kennzeichnungspflicht führt aber nicht zu einer Erhöhung der Gefährdung von Polizeibeamten, dies zeigen die Erfahrungen in anderen Ländern, in denen das Tragen einer Nummer oder des Namens schon lange Pflicht ist, zB. England. Auch in Berlin gibt es seit der Einführung der Kennzeichnungspflicht für SEK-Beamte im Juni 2008 keine negativen Erfahrungen.

 

tendenz: Rechnet ihr damit, dass, wenn die Forderungen von AI durchgesetzt werden, es zu einer Anzeigenflut gegen Beamte kommen wird?

AI: Nein.

 

tendenz: Die Kampagne ist noch nicht vorbei und bereits in Berlin wurde die Entscheidung getroffen, Polizeibeamte ab 1.1.2011 mit Namens- oder Nummernschild zu kennzeichnen. Wie sieht das vorläufige Fazit der Kampagne aus?

AI: Amnesty International hat die Berliner Entscheidung, Namens- oder Nummernschilder einzuführen, begrüßt. Das ist ein Erfolg für die Menschenrechte. Mit unserer Kampagne haben wir deutlich gemacht, dass viele Menschen sich für mehr Transparenz bei der Polizei einsetzen. Bis jetzt haben sich mehr als 25.000 Menschen im Rahmen unserer Kampagne dafür eingesetzt.

 

Vielen Dank für das Gespräch

 

Das Interview führte Konrad Macholdt mit Dr. Katharina Spieß im Herbst 2010.