... und über uns kein Himmel

Voraussichtlich im Oktober 2012 erscheint zur Frankfurter Buchmesse im Verlag Graswurzelrevolution unter dem Titel „... und über uns kein Himmel“ der Comicroman von Daniel Daemgen und Robert Krieg. Themen des auf wahren Begebenheiten beruhenden Werkes sind die Misshandlungen eines Jungen in Heimen während der NS-Zeit und seine Zwangspsychiatrisierung. In dieser GWR veröffentlichen wir auf Seite 18 f. einen Vorabdruck aus dem 100seitigen Werk (GWR-Red.)

 

Das ist die Geschichte eines Jungen, der durch mehrere Höllen gegangen ist. „Ich habe Glück gehabt“, sagt Fritz Blume (Name geändert, die Red.) heute, „es hätte alles noch viel schlimmer kommen können. Was ist der Aufenthalt in einem Irrenhaus gegen Auschwitz?“

Die Verbrechen des „Dritten Reiches“ im Namen der „Rassenhygiene“ und der „Vernichtung le­bensunwerten Lebens“ gehören zu den Kapiteln der deutschen Zeitgeschichte, die jahrzehntelang nicht aufgearbeitet wurden. Um den „Volkskörper rein zu halten“ wurden die Menschen in „gesund“ oder „krank“, „rassisch wertvoll“ oder „rassisch minderwertig“ eingeteilt.

Dieser Fiktion einer rassenbiologisch definierten „Volksgemeinschaft“ fielen nach neuesten Schätzungen ca. 200.000 Menschen zum Opfer - sie wurden vergast, abgespritzt oder verhungerten. Eines der ersten Gesetze, das die Nationalsozialisten erließen, war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, dessen rechtmäßiges Zustandekommen bis heute nicht angezweifelt wird. Mehr als 400.000 Menschen wurden wegen „erblicher Minderwertigkeit“ zwangsweise sterilisiert.

1935 wird Fritz Blume in Anröchte am Rande des Sauerlandes geboren.

Er ist das Kind einer außerehelichen Beziehung seiner Mutter. Der betrogene Ehemann misshandelt seine Frau wegen ihres Seitensprungs so schwer, dass sie sich und zwei ihrer Kinder im Dorfteich zu ertränken versucht. Ein Kind stirbt, und die Verwandten der Mutter erklären sie für geistesgestört, um sie vor dem drohenden Todesurteil wegen Kindesmord zu bewahren. Die Mutter wird in eine Irrenanstalt eingewiesen und zwangssterilisiert, die Kinder werden auf Heime verteilt.

Fritz kommt als Einjähriger in das katholische Waisenhaus Lippstadt, das von Vincentinerinnen geführt wird. In der Horst Wessel-Schule erfährt der Schulrektor, ein überzeugter Faschist und Anhänger der „Rassenhygiene“, die Vorgeschichte Fritz Blumes. Auf sein Betreiben wird ein Antrag auf Erfassung und Begutachtung im Sinne des „Euthanasie“-Konzepts der Nationalsozialisten gestellt. Fritz Blume wird von einem Gutachter „asoziales Verhalten“ und „Anstaltspflegebedürftigkeit wegen Geisteskrankheit“ attestiert. Das bedeutet in dieser Zeit höchste Todesgefahr.

Fritz Blume ist acht Jahre alt, als er in die Heilanstalt Dortmund-Aplerbeck gebracht wird. Hinter den Mauern der „Kinderfachabteilung“ werden Hunderte von Kindern ermordet. Von hier aus werden Menschen in die Vernichtungsanstalten geschickt.

Das nationalsozialistische Regime hatte allen Menschen den Krieg erklärt, die aus unterschiedlichsten Gründen die öffentliche Fürsorge in Anspruch nehmen mussten. Wer zum Beispiel in einem Waisenhaus aufwuchs, galt als „sozial minderwertig“. Wenn ein Psychiater einen Fürsorgezögling beurteilte und in einem Gutachten für geisteskrank erklärte, kam das einem Todesurteil gleich. Die betroffenen Kinder wurden in Irrenhäuser eingewiesen und in eigens eingerichteten „Kinderfachabteilungen“ abgespritzt. Die NS-Euthanasie, die Tötung geistig und körperlich behinderter Menschen war der erste systematisch durchgeführte Massenmord des NS-Regimes. Das konnte nicht verborgen bleiben und löste Unruhe in der Bevölkerung aus. Um die Loyalität der Deutschen nicht zu verlieren, die für den Russlandfeldzug dringend benötigt wurde, stellten die Nationalsozialisten 1942 offiziell die massenhafte Ermordung von Menschen in der öffentlichen Fürsorge ein.

Das Programm der Nazis lautete jetzt: „Ausmerze durch Hunger und Arbeit“. Zu dem Hunger kam die Kälte. Kinderarbeit war obligatorisch. Wer sein „Pensum“ nicht erfüllte, dem wurde das Butterbrot entzogen. Für „Minderwertige“, „Ballastexistenzen“ und „unnütze Brotesser“ wurde nicht geheizt. In der „Idiotenanstalt“ St. Johannisstift in Marsberg im Sauerland kämpften die Kinder um ihr Überleben. Der St. Johannisstift wurde von katholischen Nonnen geführt. Sie verprügelten die ihnen Anvertrauten regelmäßig. Das gehörte zum Leben wie das Beten, die Zwangsjacke, Kaltwasserbäder und Unterwasserfolter. Wenn dabei ein Kind ertrank, hieß das im An­staltsjargon „der Seemannstod“.

Die katholischen Nonnen waren selbst Opfer der herrschenden Ideologie. Ihr „geistiger Vater“ war der Paderborner Priester und Moraltheologe Jo­seph Mayer, der ein Standardwerk über den rassischen Niedergang der Deutschen und über die Gefahren für den „gesunden Volkskörper“, die von Fürsorgezöglingen ausgehen, geschrieben hatte.

Er unterrichtete und indoktrinierte die jungen Frauen, die meistens aus bäuerlichen Familien stammten und nur wenig Allgemeinbildung genossen hatten.

 

Kriegsende und Zusammenbruch des Nazi-Reichs änderten kaum etwas an der Situation in den Anstalten.

Die Überzeugung, dass es sich bei den Anstalts- und Heiminsassen um „sozial Minderwertige“ handele, von denen eine Gefahr für die Gesellschaft ausgehe, bildete auch nach 1945 die ideologische Grundlage der öffentlichen Fürsorge. Die der Heimunterbring­ung und Zwangspsychia­trisierung Ausgelieferten hatten jenseits der Mauern keine Lobby, die sich für ihre Rechte einsetzte. Wohlfahrtsverbände, Institutionen der öffentlichen Fürsorge und die Kirchen als „natürliche Fürsprecher der Schwachen“ waren selbst tief verstrickt in das System, das die ihnen Anvertrauten vor 1945 der Vernichtung preisgegeben hatte. In den 50er und 60er Jahren verschwanden Tausende Jugendliche, die sich nicht „angepasst“ verhielten oder aus Familienverhältnissen stammten, die nicht der sozialen Norm entsprachen, hinter Heim- und Anstaltsmauern. Hier erlebten sie Zwangspsychiatrisierung, Gewalt und Demütigung in einem Ausmaß, das sie bis heute traumatisiert.

Fritz Blume scheute sich nicht, das begangene Unrecht öffentlich zu machen. Er verschaffte sich Gehör in einer Nachkriegsgesellschaft, die auch nach 1945 die Misshandlung „sozial Minderwertiger“ stillschweigend duldete. Er überwand die Scham, das Gebot des Schweigens und setzte sich damit erneut dem Stigma aus, nicht Teil der „Normalität“ zu sein.

 

Robert Krieg

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 370, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 41. Jahrgang, Sommer 2012, www.graswurzel.net