Wie hältst du’s mit der Treue?

Die Gretchenfrage

Ich lag auf Intensivstation und kam allmählich zu Bewusstsein. Ich wusste ziemlich bald, dass ich leben wollte. Das hatte mit Johanna zu tun, mit der ich mich 2 oder 3 Mal im Monat traf. Sie kam, wenn ihr Sohn im Kindergarten war. Wir quatschten und gingen bald zum Vögeln ins Schlafzimmer. Nun hatte ich einen Tubus im Rachen, spürte mein Herz rasen, hörte die Apparate piepen und dachte daran, wie sie sich mir hingab, wie sich ihre Lust erhob und uns beide wegschwemmte. Es war klar, dass der Tod im Raum stand — auch, weil ich mich schwach erinnerte, dass meine Eltern hier gewesen waren, mich in den Arm genommen und gestreichelt hatten. Sie waren mehr als mein Leben lang zusammen und sich treu. Als ich an Johanna dachte, stand mir gleichzeitig vor Augen, wie wichtig Paare wie sie sind, wie viel emotionale Kontinuität sie geben. Ihre Liebkosungen, die Erinnerung an die Lieder, die sie mir zum Einschlafen gesungen hatte, ließen die Sonne meiner Kindheit in mein Sterbebett scheinen.

Matthias Vernaldi ist Redakteur von Mondkalb, der Zeitschrift für das organisierte Gebrechen

 

Jede menschliche Beziehung setzt Konditionen voraus: Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen — Loyalität. Das ist der jeweilige Maßstab für „Treue“. Was Menschen konkret miteinander wollen und was nicht, müssen sie unter sich klären. Für uns beide ist wichtig, dass wir wissen, woran wir miteinander sind, dass wir offen miteinander umgehen und uns aufeinander verlassen können. Das bedeutet weder, dass wir uns „monopolisieren“ noch Besitzansprüche aufeinander anmelden. Nähe, Zuneigung, Verständnis, Verlässlichkeit spielen sich ja nicht nur zwischen uns beiden ab, sondern auch anderen Menschen gegenüber. Wir sind da offen, ohne permanent auf der Jagd nach Affären und One-Night-Stands zu sein. Unsere Freiräume und unsere Autonomie sind uns auch in unserer Beziehung wichtig und machen sie interessant. Es geht uns gut damit. Wir wissen, was wir aneinander haben und sind darüber sehr glücklich.

Oskar und Klaus Lederer, Mitglieder DIE LINKE Berlin

 

„Du sollst nicht ehebrechen.“ donnert das Alte Testament, die Hebräische Bibel. Für lange Zeit war das 6. Gebot ein Garant für die rigide Sexualmoral der Kirche. In der Bergpredigt Jesu findet sich gar eine Verschärfung: „Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht und sie begehrt, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ Die neutestamentliche Aktualisierung zeigt: Es geht um männliches Verhalten. Sozialgeschichtlich betrachtet, richten sich die 10 Gebote an rechtsfähige Männer. Unter den patriarchalen Bedingungen der Entstehungszeit zielt die Bestimmung auf den Schutz der Familie und der Nachkommen, nicht auf moralisches Verhalten. Zudem unterläuft der biblische Diskurs die moralische Kategorie durch die Verschärfung. Seine Aktualität besteht darin, dass er die Machtverhältnisse in menschlichen Beziehungen aufdeckt. Treue im Sinne von Verlässlichkeit ist eine Qualität zwischen gleichberechtigten Partnern. Erst wo sie fehlt, greift das Gebot.

Pfarrer Dr. Volker Jastrzembski, Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg

 

Na, wie hältst du es mit der Treue? Ich versuche mir treu zu sein. Alles andere hat sich im Laufe des Lebens und der Beziehungen geändert. Treue war versprochen, war nun alles ok, so lange es nicht zum Vollzug kam? Fremde Küsse erlaubt oder schon Bruch? Ist nicht der exklusive Gedankenaustausch mit dem Anderen im sexfreien Verhältnis ein viel schwerer wiegender Vertrauensbruch? Lust nicht mit Liebe zu verwechseln, musste ich lernen - aber Liebe ohne Lust geht nicht. Und heute? In einer Beziehung unbedingt klären, was beide wollen und erwarten und sich dann daran halten. Und ohne Beziehung bin ich für mich verantwortlich. Wenn jemand mit mir „fremdgehen“ will, seine Sache. Aber mir ist das ehrlich gesagt zu anstrengend, erst Lust- dann Kummertante sein. Oder sogar auf irgendwelche Versprechen zu warten, nein danke. Treue sich selbst gegenüber. Treue kann nur aus sich selbst getragen sein. Sie wird all zu häufig als Sicherung von Besitz verstanden ...

Barbara Höll, queerpolitische Sprecherin der LINKSFRAKTION im Bundestag

 

Es verletzt mich, dass die Frage nur im Kontext von Sexualität zu interessieren scheint. Denn ich bin eine große Anhängerin von Treue zu sich selbst, zu den Vorhaben, den Freundinnen und Mitstreiterinnen, kurz, dass man sich einem Projekt verpflichtet und daran hält. Bezogen auf Sexualität finde ich das Thema zum einen langweilig und zum anderen verstörend. Denn ich bin für große Treue in der Liebe. Die Liebe ist das Thema, das mich interessiert, theoretisch und praktisch. Ob Treue sich unbedingt auf Sexualität erstrecken muss, ist mir nicht so wichtig. Dennoch bin ich mordseifersüchtig. Ich möchte es nicht zum Prinzip machen, eine Gefängnismauer um Sexualität zu errichten, aber ich weiß nicht, ob man im Sexuellen untreu sein und dennoch die Liebe halten kann. Aber, sowie sexuelle Untreue großes Leid verursacht, möchte ich einschreiten. In unseren Zeiten, in denen die Menschen ungleichzeitig sind, das heißt einer Moral anhängen und sie zugleich auch überwunden haben oder dies zumindest glauben, wird man aus sexueller Untreue nach meiner Erfahrung nicht unbeschädigt davonkommen.

Frigga Haug, Herausgeberin „Das Argument“

 

Die Treue – oder was man so darunter versteht – ist wie die Keuschheit: Eine schlechte Sache, die unaufgeklärte Leute irrtümlich für etwas Gutes halten. Man meint damit in etwa, niemals mehrere Liebes- und Sexualbeziehungen zugleich zu unterhalten. Im Gegensatz dazu sollte man lieber der Liebe selbst die Treue halten. Es ist immer falsch, die Liebe zu jemandem zu verraten – auch wenn man zufällig gerade noch eine andere Person liebt. Wenn diese andere Person genau das unter Berufung auf Liebe und Treue verlangt, dann ist sie es, die die Liebe verrät. Wenn ich jemanden liebe, wünsche ich diesem Menschen selbstverständlich alles erdenkliche Gute, einschließlich eines möglichst reichen, liebe- und lustvollen Beziehungslebens. Der Affekt, etwas – oder gar jemanden – „nur für mich“ haben zu wollen, mag bei Kindern verzeihlich sein, eine Basis für eine Beziehung unter Erwachsenen, die auf Respekt vor der Autonomie des anderen beruht, bietet er nicht.

Oliver Schott, Autor von „Lob der offenen Beziehung“