Griechenland: Nach der Wahl ist vor der Wahl

Während der Protest gegen die Sparpolitik in Europa immer lauter wird, greifen die herrschenden Eliten zu autoritären Maßnahmen gegen die Bevölkerung.

In Spanien werden GewerkschafterInnen von CGT und CNT wegen des Generalstreiks am 29. März 2012 kriminalisiert, die Bewegung der Indignados soll als kriminelle Vereinigung verfolgt werden. Italien diskutiert den Einsatz der Armee gegen Protestierende und in Deutschland hat im Mai 2012 mit den Verboten der Blockupy-Aktionen in Frankfurt der demokratische Ausnahmezustand Einzug gehalten. Den GriechInnen wird mit Ausschluss aus der Eurozone gedroht, sollten sie am 17. Juni 2012 erneut falsch wählen.

 

„Die Besatzungsregierung hat mir ein Leben mit einer würdigen Rente, für die ich 35 Jahre eingezahlt habe, unmöglich gemacht. Da ich ein Alter erreicht habe, in dem mir kraftvollere Widerstandsaktionen nicht mehr möglich sind, (ohne auszuschließen, dass ich, wenn ein Grieche zur Kalaschnikow gegriffen hätte, der zweite gewesen wäre) sehe ich keine andere Lösung als die, meinem Leben ein würdiges Ende zu setzen, bevor ich gezwungen bin im Müll nach Lebensmitteln zu suchen. Ich hoffe, dass die Jugend ohne Zukunft eines Tages zu den Waffen greifen und die nationalen Verräter auf dem Sýntagma-Platz kopf­über aufhängen wird, so wie es die Italiener 1945 mit Mus­solini getan haben.“ So die erschreckende Botschaft von Di­mítris Christoúlas, der seinem Leben am 4. April 2012 im Alter von 77 Jahren auf dem Sýntagma-Platz in Athen ein Ende setzte.

Abgesehen davon, dass Chris­toúlas in seiner Verzweiflung zu historisch haltlosen Vergleichen gegriffen und falsche Sachen geschrieben hat, erinnert sein Abschiedsbrief sehr an die hasserfüllten Bekennerschrei­ben nihilistischer Gruppen in den Jahren 2009/2010 (die GWR berichtete). Organisationen wie die Verschwörung der Feuerzellen hatten „zu den Waffen gegriffen“ und eine sich selbst als „Revolutionäre Sekte“ bezeichnende Gruppe zwei abscheuliche Morde begangen.

Weder Christoúlas noch sonst „ein Grieche“ haben sich diesen Gruppen angeschlossen und somit klar gemacht, was sie von solcherart „Befreiungskampf“ halten.

Christoúlas hatte immer wieder gemeinsam mit Hunderttausen­den gegen die mörderischen Auswirkungen der kapitalistischen Verarmungspolitik demonstriert. Als Linker war er bis zuletzt in der Bewegung „den pliróno – ich zahle nicht“ engagiert und an der Besetzung des Sýntagma-Platzes im Sommer 2011 beteiligt.

Nach seinem Tod kam es in Athen mehrere Tage zu wütenden Demonstrationen und Auseinandersetzungen mit den Polizeitruppen.

Am 21. April 2012 erhängte sich der 45-jährige linke Lehrer- und Gewerkschaftsaktivist Sávvas Metoikídis in Xánthi (Nordgrie­chenland) aus Protest gegen die Sparpolitik. Diese beiden politischen Suizide haben ein Thema in den Fokus der Öffentlichkeit gestellt, dass normaler­weise tabuisiert wird.

Viele Familien versuchen aus Angst vor Stigmatisierung noch immer die Selbsttötung eines Angehörigen als Unfall darzustellen.

Der dramatische Anstieg der Zahlen in den letzten beiden Jahren kann jedoch nicht mehr verheimlicht werden. So wird im ersten Halbjahr 2011 offiziell von einer Steigerung der Su­izidrate um 45 Prozent gegenüber 2010 gesprochen.

Mittlerweile haben sich Tausende auf Grund von Zu­kunftsangst und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit das Le­ben genommen.

AktivistInnen der Protestbewe­gung, die als ÄrztInnen oder TherapeutInnen arbeiten, weisen darauf hin, dass sich vor allem Männer mittleren Alters, die sich als unpolitisch oder als Stützen des Systems verstanden, umbringen. Die Scham, die traditionelle Rolle des Familienernährers nicht mehr erfüllen zu können oder die Schuld für Ar­beitsplatzverlust, Geschäftsaufgabe und Verschuldung bei sich persönlich zu suchen, treibt diese Männer immer öfter zur Verzweiflungstat.

Auch deshalb warnte Aléxis Tsípras, der Vorsitzende der Linksallianz, in einem Brief an die EU-Kommission vor einer drohenden „humanitären Katastrophe“, sollten die Sparmaßnahmen weiter durchgedrückt werden.

Indes ist ein erneuter Versuch des griechischen Staates gescheitert, den Widerstand gegen genau diese Politik mit im­mer stärkerer Repression zu zerschlagen. Oberstaatsanwalt Io­ánnis Téntes drohte den Verantwortlichen staatlicher Behörden und Universitäten mit strafrechtlicher Verfolgung, sollten sie nicht die Räumung der in ihrem Besitz befindlichen besetzten Häuser, Zentren und Ländereien betreiben.

Am 20. April wurde daraufhin mit riesigem Polizeiaufgebot die Räumung eines anarchistischen Zentrums im Athener Szenestadtteil Exárchia in Angriff genommen.

Die staatliche Krankenkasse IKA, in deren Besitz sich das ehemalige Kino befindet, hatte den Räumungsantrag gestellt.

Entschlossen erfolgte schon am nächsten Tag die Wiederbesetzung durch über 300 Ak­tivistInnen. Auch die so genannte Normalbevölkerung greift immer öfter zum Mittel der Selbstorganisierung. Jüngstes Beispiel ist die „Kartoffelbewe­gung“. Während nordgrie­chische Bauern im Frühjahr auf ihrer Ernte sitzen blieben, wurde der griechische Markt mit vom Großhandel billig eingekauften Kartoffeln aus Ägypten überschwemmt.

AktivistInnen in Kateríni (Zen­tralgriechenland) stellten da­raufhin den direkten Kontakt zwischen Bauern und Konsu­mentInnen her. Bestellt wird Sackweise per Internet, die Bauern liefern an bestimmten Tagen an einen zentralen Punkt der Stadt. Während der Großhandel den Bauern normal nur 10 bis 13 Cent pro Kilo Kartoffeln bezahlt, bekommen die nun mit 25 Cent das Doppelte.

Die Kundschaft, die das Kilo im Supermarkt zwischen 80 und 95 Cent kostet, spart mehr als zwei Drittel. Schnell machte das Beispiel Schule und wurde in­zwischen auch auf Mehl und Olivenöl ausgeweitet.

  

Das Ende des Zweiparteiensystems

Das Ergebnis der Parlamentswahlen vom 6. Mai hätte dem lebenden Christoúlas eine gewisse Genugtuung bereitet.

Die seit über 35 Jahren abwechselnd - und zuletzt gemeinsam - regierenden Sozialdemokraten (Pasok) und Konservativen (Néa Dimokratía-ND) mussten erdrutschartige Verluste hinnehmen. Gewonnen haben alle Parteien, die sich aus unterschiedlichen Gründen für die Annullierung oder zumindest die Neuverhandlung der bisher durchgepeitschten Maßnahmen ausgesprochen haben. Ein eindeutiges Votum gegen die von der Troika aus IWF, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank aufgezwungene Verarmungspolitik.

Die Pasok verlor über zwei Millionen Stimmen und schrumpfte auf 13,2 Prozent (2009: 43,9 %). Die unter Ministerpräsident und Ex-EZB-Banker Loúkas Pa­padímos im November 2011 in die Regierung eingestiegene ND wurde mit nur 18,9 Prozent zwar stärkste Partei, verlor jedoch auch die Hälfte ihrer Wäh­lerInnen (2009: 33,5 %).

Die christlich-fundamentalistische, rechtspopulistische Laos erreichte nur 2,9 Prozent und bezahlte ihr kurzfristiges Zwischenspiel in der Regierung mit dem Scheitern an der 3-Prozent-Hürde (2009: 5,6 %). Eindeutiger Wahlsieger ist das Bündnis der radikalen Linken (Syriza). Syriza wurde mit 16,8 Prozent zweitstärkste Partei und konnte ihr Ergebnis mehr als verdreifachen (2009: 4,6 %).

Syriza wird von der Linksallianz Synaspismós, der Schwesterpartei der deutschen Linkspartei dominiert. Erstmals gelang es damit der Linksallianz die stalinistische KKE zu überrunden. Die verbesserte sich von 7,5 auf 8,5 Prozent. Dritte Kraft der parlamentarischen Linken wurde mit 6,1 Prozent die 2010 von Syriza abgespaltene Demokratische Linke.

Bedrohlich ist der klare Parla­mentseinzug der faschistischen Schlägertruppe Chrysí Avgí.

Die bekennenden Hitlervereh­rer erzielten 6,9 Prozent (2009: 0,29 %). Überrundet wurden sie im rechten Lager noch von einer nationalistischen Abspal­tung der ND, der Partei Unabhängige Griechen mit 10,6 Prozent. Knapp 20 % entfielen auf Parteien die an der 3-Prozent-Hürde scheiterten oder auf ungültige Stimmzettel.

Alle Prozentzahlen basieren wohlgemerkt nur auf 65 % der Wahlberechtigten, da 35 % die Wahl boykottierten. Das Erstarken der Faschisten von Chrysí Avgí hatte sich seit den Kommunalwahlen 2010 angedeutet. Damals war ihnen mit rassistischer Hetze gegen Flüchtlinge erstmals der Einzug ins Athener Rathaus gelungen.

Da sich die EU beständig weigert das so genannte Dublin-II-Abkommen, welches die alleinige Zuständigkeit des Einreiselandes für das Asylverfah­ren von Flüchtlingen festschreibt, neu zu verhandeln, hat sich die Situation seitdem weiter zugespitzt. Mindestens 1 Million Flüchtlinge sind in­zwischen in Griechenland gestrandet. Sie treffen dort auf ei­ne durch die brutale Sparpolitik ständig weiter verarmende Bevölkerung, und werden propagandistisch als Sündenböcke für die ungerechte Verteilung von Reichtum benutzt.

Rassistische Hetze von Politi­kerInnen ist schon lange keine Ausnahme mehr. Gerade während des Wahlkampfs versuchten ND und Pasok ihre Verantwortung für die schlechte wirtschaftliche Lage auf „illegale Ausländer“ abzuwälzen. Diese seien kriminell, nähmen die Arbeitsplätze weg und bedrohten die Volksgesundheit.

Der erneut als „Bürgerschutzminister“ amtierende sozialdemokratische Hardliner Michális Chrysochoídis kündigte die Einrichtung von 17 Flüchtlings­knästen an. Polizeitruppen verhafteten täglich hunderte von „ausländisch“ aussehenden Menschen im Zentrum von Athen. Insbesondere im Umfeld der Juristischen Fakultät kam es zu Hetzjagden auf Straßenhändler und wiederholt zu Straßenschlachten zwischen Faschisten und MAT-Einsatzkommandos der Polizei einer­seits und Flüchtlingen und sie unterstützende StudentInnen andererseits.                                                                                                       

Die rassistischen Übergriffe ha­ben seit der Wahl noch zugenommen. Täglich werden Mi­grantInnen verletzt in Krankenhäuser der Hauptstadt eingeliefert. So nach Angriffen am 11. und 12. Mai in den Athener Stadtteilen Kallithéa und Néa Smýrni, als mit Eisenstangen und Knüppeln bewaffnete Nazis unter den Augen der Polizei Jagd auf Flüchtlinge und Straßenhändler machten und mehrere Menschen zum Teil schwer verletzten. Schon in der Wahlnacht war es zu gespenstischen Szenen gekommen als Anhänger von Chrysí Avgí im Schein von Fackeln mit faschistischem Gruß ihren Wahlsieg feierten.

Parteichef Nikólaos Michalo­liákos sprach Klartext: „Wer auch immer dieses Land betrogen hat: Jetzt ist die Zeit, Angst zu bekommen! Jetzt kommen wir!“ AnarchistInnen machten am 8. Mai bekannt, dass sich der Pressesprecher der Faschisten, Ilías Kasidiáris, Anfang Juni wegen des Überfalls von vermummten Nazis auf einen Universitätsprofessor, der dabei durch Messerstiche verletzt wurde, vor Gericht verantworten muss. Die Anklage lautet „Raubüberfall, gefährliche Körperverletzung, illegaler Waffenbesitz und Waffenge­brauch“. Zeugen hatten die Au­tonummer des Fluchtwagens notiert - das Kasidiáris gehört. Befürchtet wird nun, dass der Nazischläger als zukünftiger Parlamentarier nicht belangt wird. Antifaschistische Gegenwehr und die Selbstorganisie­rung von MigrantInnen ist nötiger denn je. Wie auf indymedia athens gemeldet, wurde am 10. Mai das Parteibüro von Chrysí Avgí in Pátras von Antifaschis­tInnen zerstört.

Am 12. Mai demonstrierten 300 MigrantInnen und Unterstüt­zerInnen gegen die rassistischen Angriffe in Kallithéa, vertrieben Nazis im Umfeld der De­monstration und durchbrachen einen Polizeikessel.

 

Wer keine Wahl hat ...  

Auf Grund des Wahlrechts, dass die stärkste Partei mit 50 Bonussitzen belohnt, reichte es nach dem 6. Mai weder für Gegner noch Befürworter der Kür­zungspolitik zur Mehrheit.

Nachdem Antónis Samarás (ND), Aléxis Tsípras (Syriza) und Evángelos Venizélos (Pasok) mit der Regierungsbil­dung scheiterten, wurden Neuwahlen für den 17. Juni angesetzt. Trotz offener Drohungen aus Brüssel und Berlin scheint sich der Linkstrend zu verstärken. Eine im Auftrag der Tageszeitung Ethnos erhobene Umfrage sieht Syriza inzwischen bei 27,7 Prozent. Allen anderen Parteien drohen Verluste.

Für die Finanzmärkte und die Herrschenden in der EU ein Albtraum. Bis Ende Juni soll das Parlament weiteren Sparmaßnahmen von über elf Milliarden Euro zustimmen. Nur dann gibt‘s frisches Geld.

„Ohne Fortschritte werden die Geldgeber das Hilfsprogramm stoppen“, so die Citygroup. Das autoritäre Kerneuropa gibt sich entschlossen die GriechIn­nen bei weiterem Ungehorsam fallen zu lassen. Ein Auseinanderbrechen der Eurozone erscheint ihnen inzwischen beherrschbar.

 

Ralf Dreis, Vólos/Wiesbaden

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 370, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 41. Jahrgang, Sommer 2012, www.graswurzel.net