Markt und Politik

Spanien, Griechenland, Argentinien und die Mär vom „Sparen“

Kapitalistischer Markt ist Politik. Nichts an ihm ist naturwüchsig, naturgesetzlich oder durch politische Entscheidungen nicht zu verändern. Diese banale Wahrheit auszusprechen erscheint heute wichtiger denn je.

 

Der Kulturwissenschaftler Jo­seph Vogel nennt den Glauben an den sich selbst und die Gesellschaft regulierenden Markt „die letzte Metaphysik der Moderne“.1  „Ein Wettbewerbsmarkt“, schreibt die Nobelpreis­trägerin für Wirtschaftswissenschaften Elinor Ostrom, „[...] ist selbst ein öffentliches Gut [...]. Ohne zugrunde liegende öffentliche Institutionen, die ihn aufrechterhalten, kann kein Markt lange existieren“.2 

Wie sehr das Funktionieren eines kapitalistischen Marktes von einer ihn stützenden institutionalisierten Ordnung abhängig ist, lässt sich leicht veranschaulichen. Man stelle sich nur einmal vor, der gesetzliche Schutz des privaten Eigentums würde aufgehoben. Es gibt keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Staat und Markt.

Statt dessen herrscht ein komplexes Wechselverhältnis.

Stuart Hall hat darauf hingewiesen, dass beispielsweise im thatcheristischen England die Liberalisierung der Märkte den „starken Staat“ nicht schwächte, sondern voraussetzte.3

Dabei sitzt die Politik – in diesem Falle idealtypisch als Mitt­lerin öffentlicher Interessen zu verstehen – gegenüber der Wirtschaft eigentlich immer am längeren Hebel. Sie schafft und sichert jene Verhältnisse, die zu ihrem Funktionieren notwendig sind. Den angeblich unverrückbaren Mechanismen des Marktes liegen politische Entscheidungen zu Grunde, für die Verantwortliche zu benennen sind. Wirtschaftswissenschaften sind, trotz ihrer starken Verankerung in Empirie und Mathematik, Geisteswissenschaften. Dies wird schon allein an der Geschwindigkeit deutlich, mit der sich ihre grundlegenden Parameter im Verlauf der letzten Jahrzehnte gewandelt haben. Nicht dem wagemutigsten Quantenphysiker wäre es eingefallen, in einem vergleichbaren Tempo Naturgesetze über den Haufen zu werfen.

Das gegenwärtig dominierende neoliberale Modell kann, so der Sozialhistoriker Edward P. Thompson, auf empirisch belastbare Grundlagen ohnehin nicht verweisen. Ihm zugrunde liegt (mit Adam Smith’ „Wealth of Nations“ [‘Wohlstand der Nationen’]) keine wissenschaftliche Untersuchung, sondern ein „großartiger, sich selbst bestätigender Essay über Logik“.4 

Die öffentliche, anonymisieren­de Rede von den „Finanzmärk­ten“, die gottgleich das Schicksal der Menschen bestimmen und gegen deren Urteil es keine Berufung geben könne, ist Teil (und Bedingung) eines Mythos von „politikfernen Wirtschaftskreisläufen“, mit dessen Hilfe Verantwortlichkei­ten verwischt und politische Handlungsmöglichkeiten verschleiert werden.

Die gegenwärtigen Ereignisse in Spanien und Griechenland sind hierfür ein anschauliches Beispiel. Mit ermüdender Hartnäckigkeit wird von PolitikerIn­nen und „Experten“ jeglicher Couleur immer wieder heruntergebetet, beide Länder müssten „sparen“, um wirtschaftlich auf die Beine zu kommen. Dabei wird, geleitet von Milton Fried­mans Monetarismus, in Wahrheit nicht ein wirtschaftliches, sondern vor allem ein politisches Modell durchgesetzt, das die Profite einer stetig schrumpfenden Zahl von Menschen und Einrichtungen absichern soll.

Nationale Gesellschaften werden nur mehr nach ihrer „Pro­fitabilität“ bzw. „Solvenz“ gegenüber den Gläubigern eingeordnet. Demokratische Selbstbestimmungsrechte dagegen werden mit Füßen getreten.5 

Die Griechenland von den Mächtigen der Europäischen Union (EU) offen aufgezwungenen und von Spaniens neuer konservativer Regierung jüngst „freiwillig“ verkündeten Sparmaßnahmen (vor allem im sozialen Bereich) werden die Wirtschaft beider Länder nicht stabilisieren. Sie sind im Gegenteil Teil einer Abwärtsspirale, die die griechische und spanische Volkswirtschaft noch tiefer in die Krise ziehen wird.

„Selbst die Ratingagenturen“, schreibt Herbert Schui in einem lesenswerten Beitrag für die Blätter für deutsche und Internationale Politik, „nennen diese Negativspirale unverblümt beim Namen. Im Mai 2010 stufte Moody’s Griechenland herab und begründete das mit den Risiken des Spar- und Re­strukturierungsprogramms.

Ähnlich argumentierte Fitch bei der Herabstufung Spaniens 2010: Das Sparprogramm würde das Wachstum der spanischen Wirtschaft mittelfristig dämpfen”.6 

Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Auslöser für die Schul­denkrise war nicht die „Fehlkonstruktion“ der EU, sondern eine verfehlte Steuerpolitik.

Besser- und Großverdiener wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker entlastet. Dies führte jedoch nicht zu Mehrinvestitionen- und Ausgaben der so Begünstigten, sondern nur zum Anwachsen ihrer Sparguthaben.

Konsequenterweise stiegen die Staatsausgaben, um den Verlust an Steuereinnahmen zu kompensieren. Gleichzeitig führte das Sinken des Lohnanteils am Volkseinkommen zu einem Absinken der Kaufkraft, und dies wiederum zu weiteren Verlusten an Steuereinnahmen: ein Teufelskreis. Werden in einer solchen Situation staatliche Sozialleistungen gekürzt – eine Maßnahme, die die verlorengegangenen Steuereinnahmen ohnehin nicht ersetzen kann – wird der Abwärtstrend beschleunigt, anstatt sich zu verlangsamen: „Die Politik des schlanken Staates, der niedrigen Lohnkosten und der fetten Gewinne führt [...] aus zwei Gründen zwingend zu Staatsdefiziten: Erstens können die Ausgaben gar nicht in dem Um­fang gesenkt werden, der für eine Entschuldung möglich wä­re. Zweitens schrumpft infolge sinkender Staatsausgaben das Bruttosozialprodukt, was wie­derum zu geringeren Steuereinnahmen führt. Da sich dies Jahr für Jahr wiederholt, steigt die Schuldenquote kontinuierlich an – und zwar rascher als das Bruttosozialprodukt”.7 

Durchgesetzt werden mit einer solchen Politik ausschließlich kurzfristige Interessen der Banken in den Gläubigerländern und ein autokratisches Wei­sungsgefüge, in dem das So­zialleben eines Schuldnerstaa­tes nur mehr zur Tilgung der Schulden existenzberechtigt ist. Wirtschaftlich macht die Politik des radikalen Sparens nicht den geringsten Sinn. „Mit der Austeritätspolitik“, so der emeritierte Politikwissenschaftler Elmar Altvater, „gibt es keinen Weg aus der Krise“.8 

Was geschehen kann, wenn sich ein Land den Geboten der neoliberalen Makroorganisa­tionen des reichen Westens und Nordens verweigert, beweist – paradoxerweise – Ar­gentinien.9 

Man möge die folgenden Ausführungen nicht als Idealisierung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und (erst recht nicht) ökologischen Situation des Landes missverstehen.

Es geht lediglich darum, zu zeigen, dass die angeblich unhintergehbaren Gesetze des Marktes, die Merkel, Sarkozy, Rösler und andere vielfältig im Munde führen, weder unhintergehbar noch wirtschaftlich sind. Sie sind der Versuch, verschärfte Ausbeutung im Interesse einer globalen Minderheit langfristig sicherzustellen.

2001 war Argentinien das Armenhaus Lateinamerikas: Ein Staat, der, erdrückt von über 100 Milliarden Dollar (!) Auslandschulden im wahrsten Sinne des Wortes Konkurs anmelden musste. Der Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft ging einher mit sozialen Protesten, wie man sie in dieser Wucht lange nicht mehr gesehen hatte. Die Bevölkerung der Städte schlug wutentbrannt auf ihre leeren Pfannen und Töpfe, Straßenschlachten tobten, innerhalb von 6 Wochen gaben sich 6 (!) Ministerpräsidenten die Klinke in die Hand. „¡Que se vayan todos!“ [‘Sie sollen alle verschwinden!’] war der Schlachtruf einer Bevölkerung, die nicht länger gewillt war, Ausbeutung, Autokratismus, Gewalt, Misswirtschaft und Korruption tatenlos hinzunehmen.

2003 verweigerte der linkspero­nistische Präsident Nestor Kirchner schließlich jede weitere Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfond (IWF). 2005 unterbreitete seine Regierung den privaten Gläubigern ein Angebot: Sie sollten entweder auf 75% ihrer Ansprüche verzichten – oder völlig leer ausgehen.

Diese Zwangsumschuldung reduzierte die Auslandsschulden des Landes quasi über Nacht von 100 auf 20 Milliarden Dollar. Sie machte Argentinien aber auch zum schwarzen Schaf der internationalen Finanzmärkte – und das im Grunde bis heute. Geschadet hat das seiner Wirtschaft nicht – im Gegenteil.

Heute besitzt Argentinien eine sich selbst tragende Wirtschaft mit einem durchschnittlichen Wachstum von 7-8% Prozent.

Vier Millionen Arbeitsplätze wurden unter der Regierung Kirchner geschaffen. Intensive Sozialleistungen des Staates senkten die Zahl der Armen um gut zwei Drittel – eine Entwicklung, die wiederum dem argen­tinischen Einzelhandel sehr zu­gute kommt. 3,7 Millionen Kinder armer Eltern erhalten nach wie vor eine staatliche Unterstützung von umgerechnet 45 Euro pro Monat, einzig geknüpft an die Bedingung regelmäßigen Schulbesuchs und ebensolcher Impfungen.10

Argentinien ist, bei allen Einschränkungen, ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie man einer am Boden liegenden Wirtschaft auf die Beine helfen kann, indem man soziale Ausgaben erhöht, statt sie zu reduzieren.

Dass die Situation Argentiniens mit der Spaniens oder Griechenlands nicht ohne weiteres vergleichbar ist, tut hier wenig zur Sache.

Es geht um etwas anderes: Der Widerstand gegen die Dominanz einer neoliberalen Herr­scherelite in Politik und Wirtschaft muss ein politischer sein.

Er darf sich von angeblichen „Zwängen des Marktes“ nicht irre machen lassen.

Die im sogenannten „Washington-Konsens“ beschlossene Profitmaximierung der Gläu­bigerländer war eine politische Entscheidung – sie kann und muss politisch bekämpft und rückgängig gemacht werden. Es ist nicht nötig, nur auf die Wall Street zu starren.

Vor der eigenen Haustür kann politischer Druck aufgebaut, können ausbeuterische Zyklen durchbrochen und Alternativen öffentlich erprobt werden.

Die rücksichtslose Ausbeutung und Zerstörung gesellschaftlicher Strukturen ist eine bewusst gemachte und vorangetriebene Politik, für die Verantwortliche zu benennen und zur Verantwortung zu ziehen sind. Vor allem aber ist sie eben dies: eine Politik. Die kann man ändern.

 

Joseph Steinbeiß

 

Anmerkungen:

 1 Zit. n. Gebauer, Thomas, „Enthemmte Ökonomie. Über die Amoralität der herrschenden Vernunft“, in: medico international rundschreiben 1, 2012, S. 4-5, hier S. 5.

 2 Ostrom, Elinor, Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, Tübingen (Mohr Siebeck) 1999, S. 19.

 3 Vgl. Hall, Stuart, „Eine permanente neoliberale Revolution?“, in: Das Argument 294, Jg. 53, Heft 5, 2011, S. 651-672, hier insb. S. 657f.

 4 Thompson, Edward P., „Die ‘moralisch Ökonomie’ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert“, in: ders., Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18.und 19. Jahrhunderts, ausgewählt und eingeleitet von Dieter Groh, Frankfurt/M., Berlin (Ullstein) 1980, S. 67-130, hier S. 82.

 5 Zur Situation in Griechenland und Spanien vgl. u.a. Cáceres, Javier, “27 Milliarden Euro in einem Jahr. Mit beispiellosen Sparmaßnahmen will Premier Rajoy Spaniens Schuldenberg abtragen”, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 31.März/1. April 2012, S. 8; Kaimaki, Valia, “‘Aux banques ils donnent de l’argent, aux jeunes ils offrent...des balles’. Révolte d’une génération grecque déses­pérée”, in: Le monde diplomatique, Janvier 2009, S. 4-5.

 6 Schui, Herbert, “Methode Merkozy: Wie Europa zu Tode gespart wird”, in: Blätter für deutsche und Internationale Politik, Januar 2012, S. 66-74, hier S. 68.

 7 Ebenda.

 8 „Sparend in die Krise” [Interview mit Elmar Altvater], in: medico international, a.a.O., S. 9-11, hier S. 10.

 9Vgl. Ling, Martin,  „Erfolgsgeschichte mit Kehrseite. Argentiniens Wirtschaft prosperiert seit dem Staatsbankrott im Jahr 2001“, in: Lateinamerika-Nachrichten 451, Januar 2012, S. 34-38.

 10 Vgl. Schulten, Johannes, “Vermeintlicher Linksruck”, in: Lateinamerika-Nachrichten 450, Dezember 2011, S. 21-22, hier S. 22.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 369, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 41. Jahrgang, Mai 2012, www.graswurzel.net