Faule Griechen, fitte Deutsche

Zu Ursachen und Funktion des Rassismus bei der Erklärung der Euro-Krise

Vor zwei Jahren stand die griechische Regierung vor der Pleite. Griechenlands Ministerpräsident Giorgos Papandreou reiste daher am 5. März 2010 nach Deutschland, um dort für Hilfskredite für sein Land zu werben. Hätte er bei seiner Ankunft die BILD-Zeitung aufgeschlagen, so hätte er folgenden Brief lesen können:

„Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, wenn Sie diese Zeilen lesen, haben Sie ein Land betreten, das ganz anders ist als das Ihre. Sie sind in Deutschland. Hier arbeiten die Menschen, bis sie 67 Jahre alt sind... Bei uns erschummeln sich die Bauern keine EU-Subventionen mit Millionen von Olivenbäumen, die es gar nicht gibt. Deutschland hat zwar auch hohe Schulden – aber wir können sie auch begleichen. Weil wir morgens ziemlich früh aufstehen und den ganzen Tag arbeiten. Weil wir von unserem Gehalt immer auch einen Teil für schlechte Zeiten sparen. Weil wir fitte Firmen haben, deren Produkte rund um den Globus gefragt sind...“

Wirtschaftskrisen schaffen Opfer – und damit erhöhten Erklärungsbedarf. Nicht nur für die BILD, auch für  Politiker liegt die Schuld an der Krise recht eindeutig bei den betroffenen Ländern bzw. am mangelnden Fleiß ihrer Bevölkerung. „Wir können nicht eine Währung haben, und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel Mitte Mai 2011. Es gehe auch darum, dass „man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland“.

Das gezeichnete Bild ist klar: „Wir haben die Zeche gezahlt – während andere auf unsere Kosten schamlos Party feiern“ (BILD 10.5.10). Die „Schummel-Griechen machen mit ihrem Schuldendrama unseren Euro kaputt“ (2.3.10).

Diese Aussagen klingen nicht nur rassistisch und nationalistisch. Sie sind es wohl auch. Denn erstens erhalten unterschiedslos „die Griechen“ die Schuld, sie werden als nationales Kollektiv in Haftung genommen, unabhängig vom Arbeitseinsatz der Einzelnen. Zweitens fällten BILD und andere Kommentator_innen ihre Urteile über die Ursachen der Krise schon vor einer näheren Untersuchung der Faktenlage. Das Urteil „faule Griechen“ stand schon immer fest und wird durch Befunde nur bebildert. Widersprechende Fakten werden nicht zur Kenntnis genommen. Ein paar Beispiele:1)

Faulheit: Die Wochenarbeitszeit – abzüglich Mittagspausen – liegt in Griechenland bei 44,3 Stunden pro Woche, in Deutschland bei 41 Stunden.
Urlaub: Griechische Arbeitnehmer_innen haben einen durchschnittlichen Urlaubsanspruch von 23 Tagen im Jahr, die deutschen von 30 Tagen.
„Luxusrenten“2): Im Durchschnitt gehen Griech_innen mit 61,9 Jahren in Rente, Deutsche mit 61,5 Jahren. Die griechische Durchschnitts-Rente lag 2007 bei 617 Euro im Monat (Deutschland: 800-900 Euro)
„Party feiern“: Der durchschnittliche Stundenlohn liegt in Deutschland bei 29 Euro, in Griechenland bei 17,7 Euro. Ein Viertel aller griechischen Lohnabhängigen erhält weniger als 750 Euro im Monat.
„Aufgeblähter Beamtenapparat“: In Griechenland sind 7,9% aller Erwerbstätigen Beamte, in Deutschland 9,6%.
„Marode Wirtschaft“: Zwischen 1990 und 2007 hat sich der griechische Export verdreifacht. Die Wirtschaftsleistung (BIP) wuchs um 35%, die deutsche um 10%.

Und so weiter, die Beispiele für Fehlinformationen sind zahlreich. Um bloße Irrtümer handelt es sich bei den Vorwürfen kaum, dafür sind sie viel zu zielgerichtet und resistent gegen Aufklärung. Es sind vielmehr Bebilderungen der Krisenursachen. Sie beruhen auf einer Weltanschauung, die den Rahmen zur Beurteilung des ökonomischen Weltgeschehens liefert.

Im Folgenden geht es nicht um eine umfassende Erklärung von Ursprung und Funktion des Rassismus. Es sollen lediglich einige Ideologien aufgeführt werden, auf denen die ökonomische Weltanschauung fußt und an die die rassistische Deutung der Krise anschließen kann. Denn der Rassismus entsteht nicht durch die Krise. Er ist immer da und kann jederzeit allein durch (fehlerhafte) Hinweise auf hohe Renten oder geringe Arbeitsstunden aktiviert werden.

„Leistungsgerechtigkeit“ und Rassismus

Dienstbarkeit: Ohne Arbeit kommt man zu nichts, das ist den meisten Menschen klar. Arbeit im Kapitalismus bedeutet jedoch: sich nützlich machen – für andere. Diese anderen, das sind für die meisten Menschen die Unternehmen. Für sie muss man nützlich sein – nicht umgekehrt. Ein großer Arbeitseinsatz und Bescheidenheit gelten daher als lobenswert. Verzicht gilt als Tugend. So erklärt sich, dass im Falle Griechenlands ein hoher Lohn, „Luxusrenten“, viel Urlaub, wenig Arbeitsstress – lauter eigentlich gute Dinge, die sich jeder wünscht – als Mängel dingfest gemacht werden. Umgekehrt ist die eigene Bescheidenheit eine Tugend: „Zehn Jahre lang haben wir Deutsche für einen stabilen Euro geschuftet, haben Opfer gebracht. Haben uns bei den Löhnen zurückgehalten – ohne groß zu murren...“, lobt die BILD (10.5.2010) die Leser_innenschaft.
Diese Haltung basiert auf einer Wahrheit des kapitalistischen Systems: Hier dient die Menschen als Humanressource für die Unternehmen, weil sie von deren Benutzungsinteresse abhängig sind. Und für dieses Benutzungsinteresse sind die Menschen umso tauglicher, je weniger eigene Ansprüche sie stellen. Sie müssen also ihren Materialismus zunächst zügeln, sie müssen billig und leistungsfähig sein, um einen Lohn zu erhalten. Auf der anderen Seite besteht die höchste Leistung „der Wirtschaft“ für die Menschen in der Bereitstellung von „Arbeitsplätzen“: Die Menschen für die Unternehmen arbeiten und den Profit produzieren zu lassen – das ist die zentrale Dienstleistung der Firmen für die Bevölkerung.

Harmonieideal: Ohne Fleiß kein Preis, heißt es. Mit Fleiß aber gilt der Preis als sicher. Wer sich anstrengt, wer hart arbeitet und anständig ist, der oder die kommt im Kapitalismus auch zu was, so die Behauptung. Dahinter steht die Idee einer Konkurrenz ohne Verlierer_innen: Wenn jede_R nur an seinem Platz sich ehrlich anstrengt, dann soll die Rechnung auch für alle aufgehen. Im Umkehrschluss gilt damit: Wer in eine ökonomische Notlage oder Krise gerät, der oder die war wohl entweder nicht fleißig („faule Griechen“) oder nicht anständig („Schummel-Griechen“). Dieses angenommene Prinzip wird auch auf Inländer_innen angewandt und produziert Vorwürfe wie „faule Arbeitslose“ oder „gierige Banker“.

Leistung: Mit dem Harmonie-Ideal des Kapitalismus verwandt ist der Rassismus der Leistung. Gemäß ihm entspricht der ökonomische Ertrag der persönlichen „Leistungsfähigkeit“ der Arbeitenden: Wer viel bzw. wenig verdient, so wird geglaubt, der oder die hat es auch nicht anders verdient, und wer in die Krise gerät auch nicht. Mit dem Kurzschluss vom Einkommen auf individuelle Eigenschaften wie Intelligenz, Begabung oder Leistungswillen ist der Übergang zum Rassismus vollbracht: Arme Menschen taugen wohl nicht viel (sonst wären sie ja reich). Erfolgreiche Menschen verfügen über eine besonders wertvolle „Persönlichkeit“ (wären sie sonst so erfolgreich?) und verdienen als Helden und Prominente unsere Bewunderung.

Ist Reichtum immer „verdient“?

Auf Basis der Ergebnisse der kapitalistischen Konkurrenz – die notwendig Gewinner_innen und Verlierer_innen produziert – teilt der Leistungsrassismus die Menschen in minder- und höherwertige Individuen. Es ist die Behauptung: Der Markt bewertet die Persönlichkeit nach ihrer Leistungsfähigkeit und damit nach ihrem wahren, „natürlichen“ Wert. Dieser ökonomische Rassismus bietet eine Legitimation für soziale Unterschiede - Arm und Reich gelten nur als Ausdruck „natürlicher“ Unterschiede der Menschen – und eine Deutung von Krisen: „Die Griechen“ haben es einfach nicht drauf. Sonst wären sie ja nicht in der Krise. Umgekehrt ist Deutschland ökonomisch erfolgreich – das kann nur an der quasi angeborenen Tüchtigkeit der Deutschen liegen.

Zum einen wird also von einer Entsprechung von Einkommen und Leistung ausgegangen. Zum anderen werden überall Verstöße gegen dieses Prinzip festgestellt: Reichen Erb_innen wird vorgehalten, sie bezögen „leistungslose Einkommen“. Hohe Gehälter für „Banker“ gelten als „durch nichts zu rechtfertigen“. Manager_innen mit Millionenbezügen werden als „Nieten in Nadelstreifen“ beschimpft, deren Leistung ihr Einkommen nicht rechtfertige – obwohl dies doch eigentlich so sein sollte.3)

Auf der anderen Seite werden jene beklagt, die trotz Anstrengungen zu nix kommen, deren Arbeit nicht gewürdigt wird oder die erst gar keine Chance erhalten, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Damit meint das Stammtischpublikum üblicherweise sich selbst. Diese Verstöße gegen das angenommene Prinzip Lohn=Leistung=Leistungsfähigkeit führen jedoch nicht zu einer Widerlegung dieses Prinzips, sondern zu allgegenwärtigen Klagen, dass es doch zu gelten habe.

Angemerkt sei noch: Schon der Schluss von „Leistung“ auf „Leistungsfähigkeit“ ist absurd. Ebenso absurd ist die Forderung, im Kapitalismus sollten sich Einkommen und Leistung entsprechen. Denn erstens kennt die „Arbeitsleistung“ gar keinen anderen Maßstab als das Einkommen selbst. Sie hat keinen „eigentlichen“ Wert, der getrennt von der Bewertung durch den Markt wäre. Von daher entspräche der Lohn immer der Leistung. Was aber ohnehin nicht so ist. Denn der Lohn entgilt nicht die Arbeitsleistung. Sondern die Arbeitskraft.4)

Nationalismus: Ihre Arbeit sehen die Individuen als ihren Beitrag zum Wohl nicht nur des Unternehmens, sondern auch des Standortes. Zusammengefasst werden alle diese Beiträge im nationalen Bruttoinlandsprodukt (BIP), das als Ergebnis „unserer“ Leistung gilt. Das harmonische Bild kontrastiert mit der Realität auch in Deutschland: Hier konkurrieren Unternehmen gegeneinander um Marktanteile, Lohnabhängige gegeneinander um Arbeitsplätze und Unternehmen und Lohnabhängige konkurrieren gegeneinander um Einkommen usw.

Nationalistisches „Wir“ in der Konkurrenz

Das ökonomische Ergebnis dieses Hauens und Stechens jedoch fasst das Statistische Bundesamt jedes Jahr in einem Gesamtertrag zusammen: ein BIP über 2400 Milliarden Euro, das „unser“ Produkt sein soll, auf das „wir“ stolz sind oder sein sollen. Im BIP sind Unternehmen und Arbeitslose, Niedriglöhner_innen und Millionär_innen, Politiker_innen und Sozialhilfeempfangende zusammengefasst: ein Land, ein Volk, ein Team. Dies ist die zentrale ideologische Leistung der gesamtwirtschaftlichen Rechnung, die auch „unsere“ Investitionsquote ausrechnet, „unsere“ Sparquote oder „unsere“ Staatsschulden. Im nationalen Kollektiv sind alle Unterschiede ausgelöscht. Gleichzeitig ist jede_R dazu aufgerufen, für dieses Kollektiv Partei zu ergreifen5) und beizutragen zum Wohle der Nation und ihr Geld: Der Euro ist „unser Euro“, auch wenn ein paar sehr viel davon haben und die meisten nur wenig.

Kombiniert mit dem Leistungsrassismus kommen Nationalist_innen zu folgendem Weltbild: Das BIP oder die Staatsschuldenquote sind die Summe all „unserer“ Anstrengungen und Fähigkeiten. Wenn der griechische Staat überschuldet ist, dann sind damit also auch „die Griechen“ pleite (obwohl es viele reiche Griech_innen gibt), dann haben „die Griechen“ über ihre Verhältnisse gelebt (egal wie sparsam die Einzelnen gewesen sein mögen), dann sind „die Griechen“ faul und/oder schlicht unfähig.6) Und wenn Deutschland erfolgreich auf dem Weltmarkt ist, dann haben „wir“ (wer?) eben „fitte Unternehmen“.

Der Nationalismus kommt in Kombination mit dem Harmonieideal zu dem Schluss: Wenn hier zu Lande etwas schief geht, dann ist das Ausland schuld. Dafür finden Nationalist_innen leicht Belege. Denn in der globalen Konkurrenz der Standorte sucht jedes Land seinen Vorteil auf Kosten der anderen. Das als „Partnerschaft“ der Staaten titulierte Weltsystem existiert nur als Machtkampf einzelner Staaten um Anteile am globalen Reichtum. Daher ist „unser“ Wohlstand permanent bedroht – entweder durch „faule Griechen“ oder aber durch Chinesen, die eben nicht faul und gefräßig sind, sondern gerade durch Bescheidenheit und Arbeitsfleiß für „uns“ so gefährlich sind.

Die rassistische Deutung der Krise ist nützlich. Politiker_innen formulieren mit ihr einen Anspruch: Egal ob „die Griech_innen“ nun faul oder verschwenderisch sind, sie müssen auf jeden Fall die Kosten der Krise tragen. „Die Griechen gehen zu früh in Rente“ – solch ein Satz mag wahr oder falsch sein. Auf jeden Fall aber soll das Rentenalter in Griechenland hoch gesetzt und die Rente verringert werden.

Für die Bevölkerung dient die rassistische Deutung zum einen zur Reduktion von Komplexität: Sie bietet eine einfache Erklärung komplizierter Zusammenhänge. Gleichzeitig können sich Rassist_innen bedingungslos auf die Seite jener Institutionen – Regierung und Unternehmen – stellen, denen sie ohnehin unterworfen sind. Damit wirkt Rassismus systemstabilisierend. Das wird belohnt: Die BILD erhielt 2011 für ihre Serie „Geheimakte Griechenland“ den Herbert-Quandt-Medienpreis.

1) Die folgenden Zahlen beziehen sich auf die Zeit vor der Finanzkrise. Eine ausführlichere Untersuchung findet sich in der Broschüre „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen!“. http://www.rosalux.de/publication/37617

2) „Wir zahlen den Griechen Luxusrenten“ (BILD 27.4.2010)

3) Siehe hierzu auch: Ökonomische Krise als Charakterfrage: die Managerschelte. Prokla 140, Sep. 2005. http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2005/Prokla140.pdf

4) Warum zumeist geglaubt wird, der Lohn bezahle die Arbeitsleistung, siehe: Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie, S. 94.

5) In Deutschland wie in Griechenland: „Papandreou rief alle Griechen auf, ‚nur noch ans Überleben des Vaterlandes zu denken’“. (Focus, 26.2.2010).

6) Dabei stimmt eher die Umkehrung: Die Krise hat die Arbeitslosenquote in Griechenland steigen lassen und damit tausende Griechen zur „Untätigkeit“ verurteilt.