Ein neues Schuldenzeitalter?

Missverständnisse, Einsichten und offene Fragen

Editorial von Heft 1/2012 "Sparen Sparen Sparen. Austeritätspolitik im neuen Schuldenzeitalter?"

Die europäische Schuldenkrise beherrscht derzeit die wirtschaftspolitischen Debatten. Obwohl die gestiegene Staatsverschuldung im Euroraum eine Folge der 2007 ausgebrochenen Wirtschafts- und Finanzkrise ist, wird sie fast nur unter dem Gesichtspunkt staatlicher Überschuldungspolitik verhandelt. Wie so oft in Schuldenkrisen mit internationaler Dimension dominieren Gläubigerinteressen die wirtschaftspolitischen Reaktionen (Dyson 2010). Die Hauptanpassungslast wird SchuldnerInnen zugeschrieben, die vorwiegend durch Sparen ihr "Leben über ihre Verhältnisse" zu korrigieren haben; strukturelle Ursachen bleiben weitgehend ausgeblendet.

Dies lässt sich an entsprechenden Reformen des Regelwerks für staatliche Wirtschaftspolitik in der EU ablesen, die in Reaktion auf die Krise in Angriff genommen wurden. Das so genannte „Sixpack“ zur verschärften haushaltspolitischen Überwachung und Reduktion und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte  trat bereits im Dezember 2011 in Kraft. Politische Vereinbarungen wie der Euro Plus Pakt und der Fiskalpakt werden außerhalb der EU-Verträge auf völkerrechtlicher Ebene vorangetrieben. Diese sehen Kompetenzverschiebungen in der Budgetpolitik und Instrumente wie die „Schuldenbremse“ vor - Dinge, die bis vor kurzem nicht durchsetzbar schienen. Vor allem Deutschland erhöht den Druck, und knüpft die Zustimmung zu weiteren Hilfen und zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) an die Durchsetzung seiner Vorstellungen.

Neoliberale Ansätze scheinen also zunächst politisch gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Aber die Krise hat in manchen Bereichen des herrschenden ökonomischen Theoriegebäudes auch Kratzer hinterlassen. Der Mainstream der Ökonomie stützte sich bislang vorwiegend auf Modelle, die den Finanzsektor und Verschuldung des Privatsektors ausblenden, weshalb die sich zusammenbrauenden Probleme vor Ausbruch der Krise weitgehend unbeachtet blieben. Jetzt wird Hyman Minskys Schuldenzyklus-Theorie wieder ausgegraben (Dokko et al. 2009), die Wirtschaftsgeschichte als Lehrmeisterin über Finanzkrisen rehabilitiert (Reinhart/Rogoff 2009) und die Rolle von Vermögens- und Schuldbeständen besser zu integrieren versucht (Obstfeld 2011).

In die offene Lücke stoßen auch neue theoretische Ansätze, die das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis als politischen Konflikt in den Vordergrund rücken wie zinskritische und anthropologische Ansätze, die im Kontext der Finanzkrise Aufwind bekamen. Die kritische politische Ökonomie untersucht in der Analyse zu „Finanzialisierung“ nun auch verstärkt die veränderten Kreditbeziehungen und ihre Folgen für Ungleichheit und Überschuldung.

Zinskritik und Geldreform

Der Betriebswirtschafter Franz Hörmann hat in Österreich mit Publikationen öffentliche Aufmerksamkeit erregt, die die "Zinskritik" wiederbeleben (Hörmann/Pregetter 2011). In dieser Wirtschaftsanalyse wird das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis in den Vordergrund gestellt, und in der Verzinsung von Krediten die Ursache für Systemprobleme gesehen. Hörmann zufolge ist das zentrale Problem, dass Banken Geld als Kredit aus dem Nichts schöpfen, aber dabei die Zinsen nicht mitgeschöpft werden. Deshalb sei für Rückzahlung plus Zinsen zu wenig Geld da und der Zusammenbruch unvermeidlich. Sein Beispiel: Auf einer Insel mit 10 EinwohnerInnen eröffnet eine Bank und verleiht an jede Person 10 Goldstücke für ein Jahr zu einem Zinssatz von 10%. Nach einem Jahr werden in Summe 110 Goldstücke fällig. Die BewohnerInnen würden deshalb im Lauf des Jahres versuchen, sich gegenseitig Goldstücke abzujagen, würden also zur Konkurrenz gezwungen, um die Rückzahlung plus Zinsen aufzubringen. Es gibt aber insgesamt nur 100 Goldstücke, folglich seien letztlich Konkurse und Beschlagnahmung von Sicherheiten durch die Bank die unausweichliche Folge. Die Kreditwirtschaft sei somit ein Betrugs- und Enteignungsmodell. Hörmann sieht die aktuelle Überschuldungskrise in Europa als Ausdruck dieser Mechanismen.

Das ist ein sehr schönes Beispiel, weil sich an ihm zentrale Irrtümer der Zinskritik veranschaulichen lassen. Erstens beachtet sie nur die Zirkulationssphäre und blendet den Verwendungszweck der Kredite, und damit die Produktion völlig aus. Der Kapitalismus dreht sich aber um Mehrwertproduktion, und Kredite sind das Mittel für Unternehmen, um diese zu starten: Sie sind kein Zwang, der Unternehmen erst in Konkurrenz versetzt, sondern die Konkurrenz bringt Unternehmen dazu, freiwillig Kredite aufzunehmen, um Mehrwert produzieren zu können. Die Geschäfte zwischen den InselbewohnerInnen, sofern es sich um eine kapitalistische Insel handelt, bestehen nicht aus wechselseitiger Übervorteilung im geldvermittelten Tauschhandel, wie das in Hörmanns Beispiel anklingt. Sondern es werden mit Hilfe der Kredite im Erfolgsfall neue Werte geschaffen, die mehr Geld einbringen als die Summe ihrer Bestandteile. Kreditgeld fungiert hier als Kapital, nicht bloß als Zahlungsmittel.

Zweitens ist die Geldmenge als Summe der zirkulierenden Zahlungsmittel keine Beschränkung für die Kreditrückzahlung plus Zinsen: Ein und dasselbe Goldstück aus dem obigen Beispiel kann für eine Vielzahl von Zahlungen durch verschiedene InselbewohnerInnen benutzt werden - Geld zirkuliert (deshalb ist die Umlaufgeschwindigkeit ein großes Thema in der ökonomischen Theoriegeschichte). Die Zinsen, die die Bank von einem Schuldner erhält, fließen wieder in den Wirtschaftskreislauf zurück (weil damit u.a. Bankangestellte, -aktionärInnen und SparkundInnen bezahlt werden, die dieses Geld wiederum ausgeben können), und erlauben den nächsten, ihre Rechnungen zu begleichen etc. Abgesehen davon ist die Annahme abwegig, dass sämtliche Kredite einer Wirtschaft zum selben Zeitpunkt auf einmal fällig werden. Dass es zu ungleichen Verteilungsprozessen kommt, ist zwar nicht zu bestreiten: Im Kapitalismus gilt die Kapitalakkumulation als Imperativ. Aber Zinsen sind nur ein Aspekt davon. Unternehmensgewinne, Spitzeneinkommen, Erbschaften und Finanzgeschäfte sind die zentralen Quellen für wachsende Ungleichheit: Durch Einstreifen der Zinsen auf braves Sparbuch-Sparen ist hingegen noch niemand reich geworden.

Die Zinskritik schließt an traditionelle Vorbehalte gegen Geldverleih und Zinsen an, die durch die jüngste Finanzkrise in der öffentlichen Meinung wieder Auftrieb erhielten. Mit diesem Fokus verfehlt sie jedoch zentrale Mechanismen des geltenden Wirtschaftssystems und ihr Verständnis der Funktionsweise von Geld beruht auf folgenschweren Missverständnissen. Dass entsprechende Ansätze häufig eine Nähe zu Antisemitismus aufweisen, ist auch kein Zufall (Schallhas 2012).

Anarchistische Anthropologie

Große mediale Resonanz erhielt zuletzt auch der US-Anthropologe David Graeber, der eine Untersuchung über die Geschichte von Geld und Kredit vorgelegt hat (Graeber 2011). Wie viele seiner KollegInnen vor ihm weist Graeber darauf hin, dass Geld nicht aus dem Tausch entstanden ist, wie es die neoklassische Robinson Crusoe-Mythologie erzählt, sondern aus dem Kredit. Im Gegensatz zu vielen ZinskritikerInnen betont Graeber, dass sich mit Anbruch des Kapitalismus etwas an den Umständen für Geld und Kredit ändert. Doch auch er scheint den Kapitalismus durch die Gläubiger-Schuldner-Achse bestimmt zu sehen, und macht als seine Besonderheit den Übergang von einer moralischen nachbarschaftlichen Kreditökonomie innerhalb von Gemeinschaften zu einer formalisierten, durch ein staatlich sanktioniertes Schuldrecht gestützten Zinsökonomie aus. Durch diesen Übergang erhielten Schuldverhältnisse eine Gewaltsamkeit und Inflexibilität, die Verhandlungslösungen erschwere. So wie sein Lehrer Michael Hudson (2011) leitet auch Graeber seine Vorschläge für die aktuelle Situation aus einer Analyse der altertümlichen Geschichte ab, wonach Schulden den Reichtum polarisieren und zu einer Dominanz der Politik durch eine Gläubigeroligarchie führen. Bezugnehmend auf die im alten Mesopotamien üblichen regelmäßigen Schulden-Streichungen durch neue Machthaber leiten sie für die heutige Situation die Forderung nach einem Moratorium für nicht rückzahlbare Schulden (für Verbindlichkeiten überschuldeter KonsumentInnen und Staaten) ab. Gegen diese Forderung ist politisch wenig einzuwenden, aber es ist fraglich, ob wirtschaftspolitische Lehren aus Parallelen zu einer Zeit zu ziehen sind, in der Geld- und Marktbeziehungen eine ökonomische Nebenrolle spielten (und wo folglich Verschuldung vorwiegend die Rolle eines den Produktionsverhältnissen äußerlichen Notfallschirms spielte, während sie heute ein integraler Bestandteil des Wirtschaftssystems ist).

Kritische politische Ökonomie

Eine größere Anstrengung, Spezifika des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses unter geänderten historischen Bedingungen zu verstehen, wird in der kritischen politischen Ökonomie unternommen. Der Literaturstrang zum Thema "Finanzialisierung" spürt seit einigen Jahren diesen Veränderungen nach (Krippner 2005), wenngleich hier zwar häufig die Expansion der Finanzmärkte und daraus resultierende Folgen für Macht und Ungleichheit, aber bis zur Krise selten die Kreditbeziehungen und die daraus resultierenden Gefahren der Überschuldung für das Wirtschaftssystem selbst thematisiert wurden (van Treeck 2009). In einer Reihe von Ansätzen wird die Ausweitung des Kredits in den Jahren vor Ausbruch der Finanzkrise als Symptom einer schon länger schwelenden strukturellen Krise interpretiert. Hier sind ökonomisch und politisch-soziologisch dominierte Ansätze zu unterscheiden.

Vorwiegend unter ökonomischen Aspekten analysieren marxistische Autoren wie Lapavitsas und Vercellone die Zusammenhänge. Vercellone (2010) sieht im Aufstieg des Finanzsektors ein Indiz dafür, dass im zeitgenössischen wissensbasierten Kapitalismus Mehrwertabschöpfung für die Unternehmen wegen dem öffentlichen Gut-Charakter vieler immaterieller Güter immer schwieriger wird, weshalb die erzielten Gewinne eher als Renten zu bezeichnen seien. In diesem Regime habe der Finanzsektor eine produktive Funktion, und seine Krisen sind somit Ausdruck fundamentaler Verwertungsprobleme. Angesichts dürftiger empirischer Belege bleibt jedoch offen, ob es sich um mehr handelt als um eine unzulässige Verallgemeinerung von Beobachtungen aus der „new economy“ Periode. Lapavitsas (2008) sieht in der Ausweitung der KonsumentInnenkredite eine neue Epoche im Kapitalismus, in der der Finanzsektor sich eine neue Einkunftsquelle erschließt. Die marxistische Debatte kämpft aber noch damit, die Veränderungen zu kategorisieren: Handelt es sich um „Ausbeutung“ (analog zur Mehrwertproduktion), um „Enteignung“ (anschließend an David Harveys Analyse der "Akkumulation durch Enteignung" als Merkmal der zeitgenössischen Phase des Kapitalismus) oder eine Form der „Rente“? (Choonara 2009)

In stärker politisch-soziologisch orientierten Untersuchungen wird Verschuldung als Machtinstrument interpretiert. Bonefeld/Holloway (1995) analysieren die Ausweitung von Kredit als ein Indiz dafür, dass aktuelle Ausbeutung der Arbeit ungenügend gelingt, und somit auf künftige Ausbeutung gewettet werden muss. Phasen der Kreditausweitung, die als ein Nachgeben gegenüber den Ansprüchen der Lohnabhängigen zu verstehen sind, werden immer wieder von historischen Phasen abgelöst, in denen Kreditverknappung als Disziplinierungsversuch eingesetzt wird. Die Autoren wenden somit die konservative Deutung von Schulden als Laster im Sinne einer emanzipatorischen Interpretation.[i]

Den jüngsten und am prägnantesten auf das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis eingehenden Analyserahmen in dieser Tradition hat Lazzarato (2011) entworfen. Er sieht das Verhältnis als eines unter mehreren Dispositiven des Neoliberalismus, das aber derzeit in den Vordergrund trete. Schuldenfabrikation sei zur Kernstrategie neoliberaler Politik geworden. Schulden fungieren laut Lazzarato als Abschöpfungsmaschine, als makroökonomisches Vorschrifts- und Führungsinstrument, als Umverteilungsdispositiv sowie als Dispositiv zur Produktion und Führung von kollektiven und individuellen Subjektivitäten. Die Subjektivitätsproduktion besteht in der Ausbildung einer Moral, die Schulden mit Schuld gleichsetzt und deren Begleichung zum Imperativ macht, dem sich alles unterzuordnen hat, womit ein Programm neoliberaler Reformen transportiert und legitimiert wird. Der verschuldete Mensch ersetze das unternehmerische Selbst (vgl. Kurswechsel 2/2000) als neoliberales Subjektivitätsmodell nach dessen Scheitern. Im Gegensatz zu Bonefeld/Holloway, die die Arbeiterklasse als autonomes kollektives Subjekt konstruieren, das von Krediten profitiert und erst durch Kreditverknappung diszipliniert wird, betont Lazzarato die permanente Sozialisationsfunktion von Verschuldung und individuelle Disziplinierung durch laufende Zahlungsverpflichtungen im Rahmen eines Schuldverhältnisses. Welches Modell die bessere Beschreibung liefert, ist wohl letztlich eine empirische Frage.

Mit den Ansätzen kritischer politischer Ökonomie werden Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse zu einem Aspekt des Kapitalverhältnisses in sozialen Auseinandersetzungen, der zeitweise in den Vordergrund rückt, aber keine grundsätzliche Priorität in der Analyse des Sozialen beanspruchen kann. Doch unter welchen Umständen rücken Schulden nun ins Zentrum?

Eine Integration politischer und ökonomischer Aspekte im Rahmen einer Analyse historischer Umbrüche des Gläubiger-Schuldner-Verhältnis und seiner Rolle im zeitgenössischen Kapitalismus gelingt am ehesten Analysen, die die Vorkrisenperiode als ein Regime charakterisieren, das sich als "privatisierter Keynesianismus" bezeichnen lässt.[ii] Vorwiegend in Bezug auf die USA und Großbritannien, aber auch in Bezug auf Länder der EU-Peripherie gültig, hat die von einer Expansion des Finanzsektors gespeiste Verschuldung der privaten Haushalte und Vermögenspreisinflation in den Jahren vor Krisenausbruch eine gesamtwirtschaftliche Expansion erlaubt. Die Kreditaufnahme privater Haushalte hat somit jene nachfragestabilisierende Rolle gespielt, die einst als Aufgabe der Wirtschafts- und Lohnpolitik gesehen wurde, und dadurch das System vorübergehend stabilisiert.[iii] Durch Verschuldung wurde eine Niedriglohnstrategie und Vermögensakkumulation ermöglicht, ohne auf Massenkaufkraft und politische Akzeptanz der neoliberalen Politik verzichten zu müssen. Zu ergänzen ist das Argument um eine internationale Dimension, wonach für Staaten wie Deutschland und seine ökonomisch Alliierten wie Österreich der Exportüberschuss in Länder mit Verschuldungsbereitschaft das Absatzproblem löste, das durch "Leben unter den eigenen Verhältnissen" (in Form von niedrigen Lohnabschlüssen über Jahre hinweg) erzeugt wurde.

Ein neues Schuldenzeitalter?

Schulden entkontextualisiert von den Produktionsverhältnissen in einem überhistorischen Rahmen zu diskutieren, führt in die Irre. Im Kapitalismus sind gegenüber früheren Perioden Schulden ein wichtiges Systemelement. Seit seinem Beginn kommt es schubweise zur Ausweitung der Möglichkeiten, Kredite aufzunehmen, zum eigenen Nutzen einzusetzen, und auch wieder zurückzuzahlen. Wenn Zukunftserwartungen im Zuge von Wirtschaftskrisen auf breiter Front enttäuscht werden, rücken Konfrontationen im Gläubiger-Schuldner-Verhältnis häufig in den Vordergrund, da Schuldkontrakte ein höheres Maß an Verbindlichkeit als andere Marktbeziehungen aufweisen. Ob Schulden zum Problem werden, hängt u.a. stark davon ab, wer sie aufnimmt (der Staat mit seinen makroökonomischen Aufgaben und seiner Steuerhoheit hat hier einen anderen Status als Private), für welchen Zweck sie eingesetzt werden (für Investitionen und zur Überbrückung kurzfristiger Einkommensausfälle oder für Konsum) und in welchem makroökonomischen und politischen Umfeld dies geschieht.

Das in die Krise geratene wirtschaftspolitische Regime hat Kreditausweitung an private Haushalten massiv als Ersatz für notwendige Umverteilung eingesetzt, deshalb sind die Probleme aktuell besonders massiv. Private Schulden wurden im Kontext der Finanzkrise und den Bankenrettungspaketen zu öffentlichen Schulden und somit auch zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte. Ob es sich um eine unumkehrbare neue Epoche oder ein reversibles Zwischenstadium handelt, ist vorwiegend eine politische Frage.

Auch in der Diskussion um Krisenlösungen ist der Kontext wichtig: Das Zusammendenken gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge und politischer Regimeanalyse mit einer Untersuchung von herrschenden Subjektivitätsmodellen spielt eine wichtige Rolle für die Frage nach den politischen Aussichten für eine Austeritätsstrategie zur Bewältigung der Schuldenkrise, wie sie momentan im Euroraum in Angriff genommen wird: Im neuerdings wirtschaftsgeschichtlich informierten Mainstream der Wirtschaftswissenschaften werden frühere Episoden der Bewältigung von Schuldenkrisen in Hinblick auf Lehren für heute untersucht. Laut Reinhart (2012) stehen folgende Möglichkeiten zur Schuldenreduktion zur Verfügung: Wachstum, Austerität, Schuldenrestrukturierung, Inflation und „finanzielle Repression“ (also politischer Druck und Eingriffe in den Finanzsektor, um Zinsen niedrig zu halten und dem Staat Kredite zukommen zu lassen). Laut Reinhart  ist ein verstärkter Rückgriff auf letztere Methode zu erwarten, um die aktuelle Krise zu bewältigen, also eine Politisierung und Entliberalisierung der Wirtschaftspolitik. Doch ob sich die Geschichte diesbezüglich wiederholt, kann nicht beantwortet werden, ohne aktuelle Kräfteverhältnisse zu untersuchen, die die Durchsetzung einer solchen Strategie erlauben.

In keynesianischen Ansätzen dominiert (aus der gesamtwirtschaftlichen Kreislaufbetrachtung und der besonderen Rolle des Staates darin) die Sorge um eine Abwärtsspirale durch staatliche Sparanstrengungen. Aber auch Schuldenstreichungen wird wegen befürchteten Dominoeffekten Skepsis entgegengebracht (Niechoj 2011). Doch in einer breiteren politischen Betrachtung bedeutet das zunächst nur, dass allfällige Schuldenstreichungen Begleitmaßnahmen erfordern, die tiefgreifende Veränderungen im Wirtschaftssystem und ein lange Zeit ungekanntes Interventionsniveau bedeuten würden, also letztlich eine Frage der Machtverhältnisse sind. Davon hängt es ab, ob etwa eine Schuldenstreichung als Überwälzung der Kosten auf vermögende GläubigerInnen funktioniert, oder ob diese die Kosten auf Umwegen rücküberwälzen können (z.B. in dem sie durch den eigenen Zusammenbruch andere mit sich reißen oder mit Kapitalentzug sanktionierend reagieren). Und abseits makroökonomischer Optimierungsüberlegungen stellt sich jedenfalls die Frage der politischen Tragfähigkeit wirtschaftspolitischer Lösungen, was zur Frage der Subjektivitäten führt. Fügen sich die Betroffenen aus Schuld-Bewusstsein der Diagnose, sie hätten kollektiv über ihre Verhältnisse gelebt, und der daraus abgeleiteten Austeritätsstrategie, oder leisten sie Widerstand?

Beat Weber, Christa Schlager und Cornelia Staritz

Literatur

BEIGEWUM/Attac (2010) Mythen der Krise. Einsprüche gegen falsche Lehren aus dem großen Crash, Hamburg.

Bonefeld, Werner/John Holloway (1995) Conclusion: Money and class struggle, in: dies. (Hg.): Global capital, the national state and the politics of money, London, 210-228.

Choonara, Joseph (2009) Marxist accounts of the current crisis, in: International Socialism 123, http://www.isj.org.uk/?id=557

Crouch, Colin (2009) Privatised Keynesianism: An unacknowledged policy regime, in: British Journal of Politics and International Relations, 11/3, August, 382-399.

Dahrendorf, Ralf (2009): Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik? Sechs Anmerkungen, in: Merkur 63/720, 373–381.

Dokko, Jane/Brian Doyle/Michael T. Kiley/Jinill Kim/Shane Sherlund/Jae Sim/Skander Van den Heuvel (2009) Monetary Policy and the Housing Bubble, Federal Reserve Finance and Economics Discussion Series 2009-49.

Dyson, Kenneth (2010) Normans Lament: The Greek and Euro Area crisis in historical perspective, in: New Political Economy 15/4, December, 597-608.

Graeber, David (2011) Debt. The first 5000 years, New York.

Hörmann, Franz/Otmar Pregetter (2011) Das Ende des Geldes, Etsdorf am Kamp.

Hudson, Michael (2011) Was sind Schulden?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 2.12.2011, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/politik-und-finanz-was-sind-schulden-11548820.html

Krippner, Greta (2005) Financialization of the US economy, in: Socio-Economic Review 3, 173-208.

Kurswechsel (2000) Leitbild Unternehmen, Heft 2.

Lapavitsas, Costas (2008) A new sort of financial crisis, http://www.workersliberty.org/story/2008/04/14/new-sort-financial-crisis-marxists-capitalist-crisis-2-costas-lapavitsas

Lazzarato, Maurizio (2011) La fabrique de l’homme endetté, Paris.

Niechoj, Torsten (2011) Staatsinsolvenz in Europa. Konsequenzen für den Euroraum, in: Kurswechsel 3/2011, 89-95.

Obstfeld, Maurice (2011) Financial flows, financial crises, and global imbalances, CEPR Discussion Paper 8611.

Reinhart, Carmen M./Kenneth S. Rogoff (2009) This time is different: Eight centuries of financial folly, Princeton.

Reinhart, Carmen (2012) A series of unfortunate events: Common sequencing patterns in financial crises, CEPR Discussion Paper 8742.

Schallhas, Markus (2012) Hörmann-Gate, in: Malmoe Heft 57, 14, http://www.malmoe.org/artikel/verdienen/2340

van Treeck, Till (2009) The political economy debate on financialization – a macroeconomic perspective, in: Review of international political economy 16/5, 907-944.

Vercellone, Carlo (2010) Krise des Wertgesetzes. Der Profit wird zu Rente, in: Sandro Mezzadra/Andrea Fumagalli (Hg.) Die Krise denken. Finanzmärkte, soziale Kämpfe und neue politische Szenarien, Münster, 85-114.

 

 



[i] Eine prominente Version der konservativen Deutung liefert Dahrendorf (2009). In Anlehnung an Daniel Bell betont Dahrendorf, dass Verschuldung die Arbeitsmoral untergrabe, auf die der Kapitalismus angewiesen sei. Denn Schulden erlaubten Einkommen auch ohne Anstrengung in der Gegenwart (insofern ist die Analyse mit Bonefeld/Holloway kongruent, wenngleich die Bewertung eine diametral andere ist). Die zeitgenössische Wirtschaft sei ein "Pumpkapitalismus", der nun von einer Wiederrichtung der Arbeits- und Spardisziplin abgelöst werden müsse.

[ii] vgl. Crouch 2009. Mit ähnlichen Begriffen wurde das gleiche Phänomen u.a. von Robert Brenner, James Galbraith und Christian Marazzi beschrieben.

[iii] Auch sozialpolitische Funktionen wurden durch eine Förderung von privaten Wohnungseigentum auf Kredit bei gleichzeitigem Verzicht auf soziale Wohnungspolitik individualisiert (vgl. BEIGEWUM  2010: 25 ff.).