»Innovative Tarifpolitik« im Einzelhandel?

Heiße Diskussionen in ver.di – deutliche Abgruppierungen befürchtet!

in (15.02.2012)

Im Fachbereich Handel der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di entwickeln sich seit Herbst 2011 heiße Diskussionen über das Ob und Wie neuer Tarifverträge, mit denen bundesweit die Eingruppierungs- bzw. Entlohnungskriterien vollkommen neu geregelt werden sollen. Das neue Tarifwerk soll nach Planung der Befürworter in ver.di, u.a. die Spitze im Berliner Bundesfachbereich Handel um das neue Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger, Ende 2012 mit den Arbeitgebern vereinbart werden. Diese Verhandlungen für eine ursprünglich »innovative Tarifpolitik« genannte Regelung firmieren nun unter dem Label »Entgeltstrukturreform«. Sie drängen die zeitgleich geführten Verhandlungen um einen tariflichen, bundesweiten Mindestlohn im Einzelhandel in den Hintergrund, obwohl dieser im Frühjahr 2012 ausgehandelt sein soll. Beide Tarifprojekte unterliegen in ver.di einer kritischen Bewertung. Der express wird diese Diskussionen in den nächsten Monaten begleiten.

 

Dass beide Tarifprojekte zeitgleich kontrovers diskutiert werden, hängt u.a. damit zusammen, dass die regionalen Tarifkommissionen und Vorstände sowie die Mitglieder erst im Herbst 2011 halbwegs aussagekräftige Unterlagen und Informationen zur »Entgeltstrukturreform«, die den Verhandlungsstand zwischen ver.di und den Arbeitgebern wiedergeben, erhalten haben. Zentraler Bestandteil, über den zwischen den Verhandlungskommissionen der Arbeitgeber und ver.di Einigkeit besteht, ist die Einführung der analytischen Arbeits-platzbewertung.

Das Projekt »innovative Tarifpolitik«/»Entgeltstrukturreform« hat eine lange Geschichte. Seit Jahrzehnten gelten die derzeit gültigen Gehalts- und Lohngruppen inclusive der Eingruppierungsmerkmale und Tätigkeitsbeispiele als überarbeitungswürdig. In der Grundstruktur wurden sie in den 1930er-Jahren vom Nazi-»Treuhänder der Arbeit« im Einzelhandel eingeführt. Trotz aller kleineren Reformen, vor allem in den 1970/80er-Jahren, besteht angesichts der stofflichen und organisatorischen Entwicklungen im Einzelhandel relevanter Überarbeitungsbedarf.

Die Bundesfachgruppenkonferenz Einzelhandel hat auf Antrag des Bundesfachgruppenvorstandes Einzelhandel folgende Ziele und damit Bewertungsmaßstäbe für eine neue Entgeltstruktur beschlossen:

- Diskriminierungsfreie Tarifverträge

- Einheitliche Entgelttarifverträge statt Lohn und Gehalt

- Die veränderten Anforderungen an die Arbeit im Einzelhandel müssen erfasst und bewertet werden; deshalb Anforderungs- statt Personenbezug und neue Anforderungskategorien wie zum Beispiel »soziale Kompetenz«

- Möglichst einfache Handhabbarkeit

 

Weiter soll lt. Beschluss erreicht werden: Verständlichkeit und Handhabbarkeit in allen Betriebsformen und Teilbranchen, alle Tätigkeiten sollen zugeordnet werden können, Zukunftssicherheit und damit die Erfassung und Bewertung neuer Tätigkeiten und Anforderungen sowie ein wirksamer Schutz gegen Abgruppierungen und materielle Schlechterstellungen.

Über das nun in großen Teilen vorliegende Tarifwerk wurde seit 2002 (!) verhandelt. Die Institute SOFI in Göttingen und ABO in Trier übernahmen »die wissenschaftliche Begleitung«. Ausgangspunkt waren von den Arbeitgebern in der Tarifrunde 1999 aufgestellte, schließlich nicht vereinbarte Forderungen zur Absenkung der Entgelte und zu einer stärkeren Entgeltdifferenzierung vor allem in den unteren Tarifgruppen. Stattdessen wurden im Rahmen des 1999er-Tarifabschlusses für den Einzelhandel in Bayern Verhandlungen über neue Entgeltstrukturen vereinbart.

Als ersten innergewerkschaftlichen Diskussionsbeitrag und als Auftakt dokumentieren wir hier auf Seite 2-3 (oben) eine differenzierte, deutliche Kritik aus Baden-Württemberg.

 

anton kobel

 

 

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/12

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