Die koreanische Frage

Mit dem Wachwechsel von Kim zu Kim in Pjöngjang war Nordkorea wieder in den Medien, auch hierzulande, nicht aber die koreanische Frage. Gibt es überhaupt eine „koreanische Frage“? Das mag mancher hier fragen. Unter postmodernen Perspektiven mag das eine abseitige Frage sein. In Europa kommen neuen Grenzen – etwa nach dem Ende des Kommunismus, oder künftig nach dem Austritt Schottlands aus dem Vereinigten Königreich oder Kataloniens aus Spanien – und verschwinden andere oder relativieren sich, mit der und durch die Europäische Union. Die Geschichte aber scheint nur darin zu bestehen, dass neue Geschichte geschrieben wird.
Anderenorts ist das anders. Als ich Anfang Dezember nach Seoul kam, wurde ich immer wieder gefragt, was ich als Deutscher zur Vereinigung Koreas meine. Und es waren Linke, die dort in strikter Opposition zur jetzigen Regierung stehen, die die Konferenz organisiert hatten, an der ich teilnahm. Zuerst wollte ich mich rausreden, dass ich als Gast vom anderen Ende des eurasischen Großkontinents keine Ratschläge zu erteilen hätte – die selbstgewissen Regierer des deutschen Landes, ihre Ideologen, Schriftgelehrten und Schreiber tun dies gewiss gern, geben immer und überall, gebeten und ungebeten, passende und meist weniger passende Ratschläge, ich aber, der Linke aus dem Osten, der früher mal DDR war, wolle mich da eher zurückhalten. Das aber war nicht lange durchzuhalten. Ich müsste doch eine Meinung haben, zumal nach der deutschen „Wiedervereinigung“. Die Spitzfindigkeit, es sei eine „Vereinigung“ gewesen, weil so, wie die beiden Deutschlands 1990 waren, das eine nie gewesen war, verfing nicht; Deutschland ist über tausend Jahre alt, wurde geantwortet, wie auch Korea, da ist eine Spaltung widernatürlich und immer nur temporärer Natur.
Es gibt also eine koreanische Frage, und die besteht nicht darin, dass der Norden die Atombombe hat, sondern darin, dass das Land gespalten ist. Dennoch weigerte ich mich, die Spaltungen in eins zu setzen. Deutschland war einer der Hauptschuldigen des zweiten Weltkrieges, imperialistische Macht, die Europa erobern und beherrschen wollte, nach einem Platz an der Sonne der Weltherrschaft schielte, eine Unzahl von Verbrechen im Kriege begangen hatte, mit der Kriegsführung, in der Besatzungspolitik in Polen, Jugoslawien und anderenorts, bei der Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilbevölkerung, mit der systematischen Ermordung der europäischen Juden. Die Spaltung Deutschlands war Resultat zuerst des gescheiterten Versuchs faschistischer Weltherrschaft, erst danach auch der Logik des Kalten Krieges. Korea dagegen war japanische Kolonie, Hinterland des japanischen Versuchs, in Asien und im pazifischen Raum Imperium zu werden. Die historischen Hintergründe waren unterschiedlich, die Gründe der Spaltung im Kalten Krieg aber letztlich doch vergleichbar: Es ging um die Aufteilung von Machtpositionen zwischen den USA und der Sowjetunion. So war es in Deutschland, in Korea und schließlich auch in Vietnam.
Zwei dieser Teilungen sind inzwischen historisch erledigt. In Vietnam kollabierte 1975 ein korrupter, abhängiger Kapitalismus im Süden, und die USA erlitten eine historische Niederlage im Krieg gegen die Kräfte der nationalen Befreiung in Vietnam, die im Norden seit 1945 ihren Staat hatten; der siegreiche Norden vereinigte das Land 1976 zu seinen Bedingungen. In Deutschland brach 1989/90 die DDR zusammen, im Kontext des Fiaskos des osteuropäischen Kommunismus, und Deutschland wurde 1990 zu den Bedingungen vereinigt, die der dominierende Westen diktierte.
Und Korea? Korea ist übrig geblieben. Die Uhren des Kalten Krieges wurden mit dem Waffenstillstand von 1953 angehalten, der Zustand eingefroren. Die UNO kann kein Vermittler sein, weil sie durch die Eigenheiten des Ausbruchs des Korea-Krieges von 1950 für die Kriegsführung des Westens den Rahmen und die Flagge stellte. Mit den Sechsergesprächen zwischen den beiden Koreas sowie China, Russland, den USA und Japan sollte ein neuer Raum für diplomatische Wege zur Entspannung auf der koreanischen Halbinsel und im Fernen Osten geschaffen werden. Der Westen hat diese Gespräche aber auf Eis gelegt, meint, Nordkorea erpressen zu können, das aber seit 1948 darauf besteht, nicht erpressbar zu sein. Der deutsche Fall lässt sich dort nicht wiederholen, da ist schon die Atombombe vor. Der Norden blieb indessen wirtschaftlich zurück, stellte aber dennoch die Mittel für den Bau von Nuklearwaffen und Raketen bereit – das hatte schon Stalin in der Sowjetunion 1945/46 so gemacht, und um den Preis des Hungers war der Triumph des nuklearen Gleichgewichts das Resultat. Insofern werden auch in Nordkorea die wirtschaftlichen Probleme die Fortsetzung der strategischen Rüstungen nicht verhindern.
Der Süden wurde zur gleichen Zeit einer der kapitalistischen Tiger, die den wirtschaftlichen Aufschwung Asiens voranbrachten, bevor China in Bewegung kam. Kontakt, regelmäßigen Austausch zwischen den beiden Koreas gibt es kaum. Beiderseits der Demarkationslinie starren sich schwerbewaffnete Militäreinheiten an.
Dennoch diskutieren die Linken in Seoul über Perspektiven einer Wiedervereinigung. Da es durch Dominanz einer Seite nicht geht – wie in Vietnam und Deutschland –, gehe es nur durch friedliche Koexistenz. Der 1997 gewählte südkoreanische Präsident Kim Dae-jung hatte die Aussöhnung mit dem Norden zur zentralen Aufgabe seiner Politik erklärt, im Jahre 2000 traf er sich in Pjöngjang mit Nordkoreas Staatschef Kim Jong-il. Der Nachfolger Roh Moo-hyun setzte diese Politik fort, stattete dem Norden 2007 ebenfalls einen Staatsbesuch ab und vereinbarte mit Kim Jong-il, einen Friedensvertrag abzuschließen, der an die Stelle des Waffenstillstands von 1953 treten sollte. Die Aussöhnungspolitik war jedoch unter den Druck der Politik von US-Präsident George W. Bush geraten, der Nordkorea auf seine Liste der „Schurkenstaaten“ gesetzt hatte. Der konservative Nachfolger Lee Myung-bak hatte schon während des Wahlkampfes erklärt, die Beziehungen zum Norden herunter zu kühlen und eine härtere Gangart einzulegen. Nordkorea hat dies als neuerliche Drohung perzipiert und das Atomwaffenprogramm beschleunigt.
Über die Wiedervereinigung reden in Korea im Grunde alle politischen Kräfte, der Norden ohnehin, im Süden die verschiedenen Richtungen. Die Konservativen setzen auf einen Zusammenbruch des politischen Systems im Norden als Voraussetzung der Wiedervereinigung, die Gemäßigten und Linken auf Konzepte der friedlichen Koexistenz und Zusammenarbeit, für die der Systemwechsel im Norden nicht Vorbedingung sein soll. Sie betrachten die Politik der Konservativen und die anhaltende Abhängigkeit von den USA als das eigentliche Hindernis für die fortgesetzte Teilung Koreas und fordern den Abzug der US-Truppen aus Korea. Sie wollen nicht Teil und Objekt der geopolitischen Vorgehensweisen der USA sein, die im Kern gegen China gerichtet sind. Insofern lehnen sie es auch ab, China als imperiale Macht zu betrachten, die mit den USA auf eine Stufe zu stellen sei. China sei auch als Großmacht nie auf die Ausbeutung anderer Länder aus gewesen, seine Politik sei auf Harmonie und Stabilität in der Welt gerichtet. Daher könne ein starkes China nur im Interesse Koreas liegen. Und die Atomwaffen im Norden, sind die keine Bedrohung? Wenn ein Vereinigungsprozess in Korea in Gang gesetzt sei, spielten die keine Rolle. Und das kommende vereinigte Korea könne sie ja dann übernehmen; andere Länder hätten schließlich auch Atomwaffen …
Die „koreanische Frage“ ist offensichtlich weiter offen. Und wenn das Land über tausend Jahre alt ist, nach etlichen Rechnungen der Historiker über zweitausend Jahre, dann hat man gegebenenfalls auch noch ein paar Jahre Zeit, bis die USA schwach genug sind, gegangen zu sein.