Demokratisierung in der arabischen Welt?

Der folgende Aufsatz ist die redaktionelle Bearbeitung eines Vortrags, den Professor Ruf am 7. September in Essener Volkshochschule gehalten hat. Wir bedanken uns, dass wir die freie Rede aufnehmen durften und für die Autorisierung duch den Autor.

 

Was in der nordafrikanischen Region vorgeht, bedeutet mehr als eine arabische Revolte, es geht darüber hinaus. Was eigentlich das Erstaunliche war: alle bejubelten plötzlich diese Revolten gegen widerwärtige Diktatoren, gegen Kleptokraten, die ihr Land, ihr Volk jahrzehntelang mit kräftiger Unterstützung des Westens ausgeplündert haben. Die andere „Revolte“ hat mich noch mehr erstaunt: Von al jazeera bis CNN, von ARD bis FAZ  jubelten plötzlich alle Medien für Freiheit und Demokratie und die tapferen Völker, die sich erhoben haben, um die Diktatoren davon zu jagen.  Man traute fast seinen eigenen Augen und Ohren nicht mehr,  wie von einem Tag auf den anderen sich das alles änderte.

Die USA  haben dann auch sofort auf diese Bewegungen gesetzt. Schon am 31. Januar erklärte der Sprecher von Hilary Clinton, der Außenministerin: „Der Wandel ist notwendig. Wir haben nicht gezögert, die universellen Rechte des algerischen Volkes zu betonen. Wir haben dasselbe in Tunesien getan und in Ägypten sind wir dabei, dasselbe in der ganzen Region zu tun. Wir ermutigen diesen Wandel, und wir wollen diesen Wandel.“ Und der Sprecher von Präsident Obama erklärte, dass man „den legitimen Forderungen des ägyptischen Volkes nach Versammlungs- und Redefreiheit stattgeben muss“.  Töne, wie man sie vorher nie gehört hatte. Ich vermute allerdings, dass das nicht plötzlich ein radikaler totaler Sinnes­wandel der US-Regierung war, sondern dass da Hintergründe stehen.

Erst einmal: Die Wirtschaftskrise ist an den USA noch viel weniger vorbei gegangen als an Europa.  Aber der zentrale Punkt ist, dass die USA bis zum Tag der Verabschiedung der Lybien-Resolution 1973 gegen den Krieg in Libyen war. Dahinter steht ein Stück Lern­prozess. Da ist die Finanzkrise. Die USA sind offensichtlich nicht mehr die Weltvormacht, die sie vor 20 Jahren noch waren, als die Sowjet­union aus der Geschichte ausgetreten ist, der Warschauer Pakt sich selbst aufgelöst hat.

Und sie haben die Erfahrung von zwei verlorenen Kriegen. Der Krieg in Irak: das Land ist zerstört, hat keine Zentralmacht mehr. Das Land ist das, was man in Polito­logen­kreisen so schön ein failed state, einen zerfallenden Staat, nennt. Die USA sind abgezogen (55000 Sol­daten bleiben allerdings dort). Es ging im Irak ausschließlich um Öl. Dann der Krieg in Afgha­nistan, der definitiv verloren ist, wo man jetzt ver­zweifelte Anstrengungen macht, heraus zu­kommen und einigermaßen das Gesicht zu wahren.

Aber ist die aktuelle Haltung so viel anders, als das, was die USA vorher getrieben haben? George W. Busch war angetreten mit dem Anspruch, die arabische Welt zu demokratisieren. „Democratising the Middle East“, das war der Wahlspruch, unter dem der Krieg gegen den Irak und auch der Krieg gegen Afghanistan geführt wurden. Anscheinend hat man gelernt, dass man diese Kriege nicht nur nicht gewinnen kann, sondern dass, wenn man sie so führt wie geschehen, der Schaden größer ist als der Nutzen. Deswegen vertrete ich die These, dass die USA zumindest in Äpypten und Tunesien so etwas wie ein Regime-Change light versuchen, einen Regimewandel auf die weiche Art, indem man sagt: Jawohl, wir brauchen mehr Freiheit, politischen Pluralismus, Pressefreiheit, wir brauchen vor allen Dingen Rechtstaatlichkeit.

Rechtstaatlichkeit hat ja auch sein Gutes für das Kapital, das dort investiert oder produziert; denn wenn man Verträge immer nur für irrsinnige Bestechungsgelder bekommt und dann sehen muss, dass der  Konkurrent ein etwas höheres Bestechungsgeld geboten und deswegen den Auftrag bekommen hat, dann ist das für das Kapital nicht gerade passabel. Also hinter diesen Begriffen wie Frei­heit und Rechtsstaatlichkeit steht durchaus auch ein Interesse. Wenn es gelingt, den Ruf nach Dermokratie in diesen Ländern, den Druck, der immer größer geworden ist, aufzufangen, indem man eine demokratische Fas­sade aufbaut, indem man tatsächlich dem Volk einige Rechte zugesteht, dann ist das sicherlich besser und dauerhafter, als wenn man immer wieder mit dem Knüppel versucht, die Revolte niederzuhalten.

In beiden Ländern, in Ägypten und Tune­sien war die soziale Situation nicht mehr haltbar. Es hat in Ägypten seit fünf Jahren  Riesen­proteste gegen Mubarak und seine Wie­derwahl gegeben. Die Gewerkschaften waren alle unter Staatsaufsicht gestellt worden. Es haben sich freie Gewerkschaften ge­bildet, die große Streiks gemacht haben, nicht nur im Bereich der Stahlarbeiter, sondern auch im Textil­be­reich, wo hauptsächlich Frauen be­schäftigt sind. In Tunesien war es ähnlich in den Phos­phat-Minen in Süd­tunesien, wo es seit 2008 Streik­be­wegungen gegeben hat. Man hat es nur nicht zur Kenntnis genommen. Und jetzt auf einmal sind alle Medien darauf gesprungen.

Ich muss noch anmerken, warum das mit der Demokratie schwierig werden wird. Die Europäische Union hat 2005 in Barcelona eine Konferenz abgehalten mit den Staaten am Südufer des Mittelmeeres außer Libyien – es war nur mit einer Beobachterdelegation vertreten. Dort wurde ein Abkommen über eine Mittelmeerkooperation abgeschlossen. Dieses Abkommen, nachempfunden der KSZE-Kon­ferenz in Helsinki, hatte drei Körbe: einen wirtschaftlichen, einen menschenrechtlichen  und einen sicherheitspolitischen. Die EU interessierte vor allem der erste und der dritte Korb, der zweite - man hatte darüber gesprochen und auch einiges dafür getan. Es gibt in der Europäischen Union eine Einrichtung für Menschenrechte und Demokratie. Das ist jedoch mehr eine Schaufensterveranstaltung. Worum es wirklich ging, waren die wirtschaftlichen und die sicherheitspolitischen Interessen.

Letzteres bedeutet: diese Staaten sollen dafür sorgen, dass keine Migranten in die Europäische Union kommen, dass sie den Islamismus bekämpfen. Das haben sie auch kräftig getan, indem sie jede  demokratische Bewegung unterdrückt  und vernichtet haben, nicht nur die islamistische Bewegung.  Dafür bekamen sie von der Europäischen Union Geld,  Gaddafi,  Ben Ali, der marokkanische  König, im Schnitt 50 Millionen Euro zur Bekämpfung dieser Migrantengefahr vor unserer Haustür.  Dafür waren sie gut.

Die wirtschaftlichen Interessen liefen darauf hinaus, aus den Mittelmeer-Drittstaaten verlängerte Werkbänke Europas zu machen. Es wurden dort „freie Produktionszonen“ eingerichtet, d.h. in den territorial umgrenzten Gebieten, wo die europäischen Firmen ihre Fabriken aufbauten, galten die bescheidenen von den Gewerkschaften erkämpften Sozial­rechte nicht – kein Krankheitsschutz, kein Versicherungsschutz usw., kein Schwanger­schaftsschutz, was besonders im Textilbereich eine große Rolle spielt. Und man hatte die Verträge so ausgerichtet, dass die Staaten am Südrand des Mittelmeers einwilligen mussten,  europäischen Firmen, die dort investierten, 20 Jahre lang Steuerfreiheit und freien Gewinn­transfer zu gewähren. Hinzu kam, dass sie ihre Märkte für europäische Produkte öffnen mussten, die als industrielle Massenprodukte oft billiger waren, als sie auf dem einheimischen Markt hergestellt werden konnten. Aus­ge­nommen von diesem Freihandel wurden die Agrarprodukte. Keines dieser Länder darf  insbesondere Olivenöl, Zitrusfrüchte usw. in die EU einführen. Das wäre ja eine Kon­kurrenz für die Südstaaten der EU.

An dem sozialen Elend, an den Protesten in diesen Ländern haben die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten einen satten Anteil.

Ich war vor einigen Wochen  in Tunesien, wo ich vor 50 Jahren zum ersten Mal meinen Fuß in dieses Land gesetzt habe und ich mag dieses Land sehr. Ich habe viel recherchiert, wie das Regime das Land ausgeplündert hat. Ben Ali und seine zweite Ehefrau Leila Trabelsi, die eine riesige Verwandschaft hat. Sie haben gestohlen wie die Raben. Die Tunesier haben das schöne arabische Märchen Alibaba und die 40 Räuber umbenannt in Ben Ali Baba und die 40 Trabelsis. Und als die Revolution im Gange war, wurden gezielt die Super­marktketten geplündert, die Leila Trabelsi gehörten. Die Menschen wussten genau, wem was gehörte.

Die Demonstranten in Tunesien und in Ägypten sind friedlich geblieben. Sie haben mit friedlichen Mitteln versucht, etwas zu erreichen, was nicht heißt, dass diese Aufstände unblutig waren. In Tunesien sind mehr als 300 Menschen umgebracht worden, in Ägypten waren es 800 bis 1000, die von den „Sicherheitskräften“ umgebracht worden sind. Aber es war friedlicher Widerstand gegen eine verzweifelte Lage. In einer Demonstration tausender junger Leute in Algerien war ein großes Transparent zu sehen: „Schießt doch – wir sind schon tot“.

Anders war es in Libyen, wo am ersten Tag nach Beginn der Demonstrationen einige Gruppen Kasernen und Polizeistationen gestürmt, sich Waffen geholt und angefangen haben zu kämpfen. Ich kenne bisher keinen Innenminister der Welt, der tatenlos zuschaut, wenn irgendwelche Leute die Kasernen und Polizeistationen plündern und anfangen, auf Leute zu schießen. Das war der Anfang.

Dass das Gaddafi-Regime eine Diktatur war, wie alle anderen auch, dass in dem Land brutale Menschenrechtsverletzungen stattfanden, das stimmt alles. Aber – ich will hier kein Loblied singen – man muss bestimmte Fakten feststellen:

Libyen, dass die genannten EU-Verein­barungen nicht mitmachte, hat bei sechs Millionen Einwohnern ein Pro-Kopf-Ein­kommen von 11000 Dollar pro Jahr. Das ist viel. Das wird nicht pro Kopf verteilt. Es bekommen nicht alle 11000 Dollar am Jahres­ende. Aber es ging den Menschen nicht schlecht. Es gab genug zu Essen. Es gab kostenlose Kredite für Wohnungsbau und Häuserkauf. Es gab ein allgemeines Schul­wesen. Es gibt unter 40jährigen keinen Analphabetismus mehr. Es gab ein flächendeckendes Gesund­heitswesen, das nicht sehr gut war, aber es gab es. Die Reichen sind nach Tunesien in Privat­kliniken gefahren. Und es gibt noch etwas:  Libyen war der einzige Staat, der immer wieder versucht hat, in der OPEC eine Führungsrolle zu spielen gegen das Kartell, das alle Preise festlegt. Libyen  war der einzige Staat, der die Kontrolle über  den Ölexport  in Händen behalten hat. Alle Firmen mussten mindestens 60 Prozent  libysches Kapital haben. Am Anfang hatte Gaddafi versucht, alle möglichen Vereini­gungen mit arabischen Staaten zu schaffen. Das hat aus vielen Gründen nicht funktioniert, auch weil man Angst hatte vor seinen teilweise recht kruden sozialistischen Ideen, die er in den ersten 15 Jahren seiner Amtszeit von sich gegeben hatte. Einige erinnern sich wahrscheinlich an das „Grüne Buch“, die „dritte Universal­theorie“, die Kapitalismus und Sozialismus überwinden sollte. Das war so ein kleines grünes Buch, der Mao-Bibel nachempfunden. Das war sein skurriler Geltungsdrang.

Aber es ging den Menschen nicht schlecht, und die libysche Wirtschaft  war tatsächlich unter nationaler Kontrolle. Und nachdem die arabischen Einigungsversuche fehlgeschlagen waren, hat Gaddafi sich hauptsächlich auf Afrika konzentriert, hat die Afrikanische Union zu einem für die internationalen Be­ziehungen wichtigen Akteur gemacht. Er hat einen afrikanischen Nachrichtensatelliten finanziert, der es den Afrikanern erlaubt, endlich unabhängig von den europäischen und amerikanischen Satelliten zu sein, für die sie ungeheure Summen für die Nutzung zahlen mussten, usw. Gaddafi war ein etwas anderer, doch genauso schlimmer Diktator. Er war den westlichen Staaten ein Dorn im Auge.

Es ist schon verblüffend, wenn man sieht, dass – die Unruhe begannen am 17. Januar – am 10. März bereits Frankreichs Präsident den Nationalen Übergangsrat der Rebellen als den „legitimen Vertreter des lybischen Volkes“ anerkannte, Sarkozy, der knapp vier Jahre zuvor zwischen Champs Elysées und Place de la Concorde ein riesiges Terrain freigeräumt hatte, damit Gaddafi bei einem Staatsbesuch dort sein folkloristisches Beduinenzelt aufstellen konnte. Ein Sarkozy, dessen Außen­ministerin noch drei Tage, bevor der oberste Dieb in Tunesien geflohen ist, die französischen Spezialtruppen zur Aufstands­be­kämpfung angeboten hat. Es war dieses Frank­reich, das jetzt den Krieg gegen Libyen vorangetrieben hat. Als Anlass nahm man die vom Sender al jazeera behaupteten Massen­ver­gewaltigungen, Massenmorde an der Be­völ­kerung. Es hat sich mittlerweile aufgrund einer UNO-Untersuchung herausgestellt, dass das frei erfundene Lügen waren. 

Man muss höllisch aufpassen: Jeder Krieg beginnt mit einer Lüge. Man muss immer Kriege beginnen, indem man die Moral der Menschen mobilisiert. Schon Bismarck hatte die sogenannte Emser Depesche gefälscht,  damit es den deutsch-französischen Krieg 1870/71 geben konnte. Wir kennen Hitlers „seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen“. Da war das  inszenierte Massaker von Raçak, das den Anlass zum Kosovo-Krieg gegeben hat oder der Überfall zweier nordkoreanische Schnellbote, die die 8. amerikanischen Flotte angegriffen haben sollen – hinterher hat man gesagt: April, April – wir brauchten einen Grund, um Hanoi zu bombardieren.

Es ist jedes Mal dasselbe, und wenn plötzlich die Menschenrechte so herausgestellt werden, dann sollte man sich fragen: Warum gibt es keine humanitäre Intervention gegen die Tatsache, dass jährlich 40 Millionen Menschen an Hunger krepieren.  40 Millionen Menschen, das ist die Hälfte der Bevölkerung der Bun­desrepublik Deutschland. Alle 10 Sekunden stirbt ein Kind. Dagegen gibt es keine humanitäre Intervention. Das ist – wie mein Freund Jean Ziegler sagt – die kanibalische Ordnung, das muss eben so sein. Darüber denkt man nicht nach und lässt sich von in der Regel er­fundenen Geschichten hochputschen: da muss man doch etwas tun. Ich denke, wenn wir etwas tun müssten, dann müssten wir erst einmal hier anfangen, weil es unser System ist, das die Ausbeutung und die Armut dort organisiert.

Noch ein Wort zur Demokratie in Tunesien und Ägypten. Wenn man sieht, dass die Märkte dieser Länder voll auf die  auf die Europäische Union ausgerichtet sind, wenn man weiß, dass die Armeen dieser Länder in den USA ausgebildet worden sind , wenn man weiß, dass die Rüstungsgeschäfte mit  mit dem arabischen Raum die größten sind, die der Westen überhaupt macht – dann weiß man auch, wie schwer es ein wird, Demokratie als Selbstbestimmung der Völker durchzusetzen.

In Tunesien ist es einfacher, da hat die Armee nie eine große Rolle gespielt, obwohl das, was jetzt passiert, mit Chaos, mit Streiks, mit kleinen Aufständen, die Armee immer mehr in mehr in die Rolle des Ordnungs­stifters hineinbringt. Warum nehmen wir nicht zur Kenntnis: In Tunesien ist Krieg. Seit drei Monaten kämpfen die Rebellen und die Gaddafi-Anhänger auch auf tunesischem Territorium. Da kümmert sich auch niemand drum. Bei uns bricht die Panik aus, wenn in Lampedusa 20 000 Flüchtlinge ankommen, die in die 27 Staaten umfassende EU wollen. Dass  Tunesien 900 000 Flüchtlinge hat, ein Volk mit 12 Millionen, darüber spricht niemand, das ist nicht unser Problem. Sie sollen sie uns nur vom Leibe halten, die zu uns wollen.

Wichtig ist aber jetzt: Libyen war der einzige Staat der Region, der die volle Kontrolle über seine Erdölvorräte, über den Erdöl­ex­port und den Gasexport behalten hat.  Das stört. Libyen hat vor zwei Jahren ein neues Gesetz erlassen, mit dem auch alte Verträge auf eine stärkere Staatsbeteiligung. umgestellt worden sind. Libyen hat gigantische Summen in einer libyschen Investitions­gesellschaft angelegt, die überall im Ausland tätig ist. Mit der Anerkennung der Rebellen als die legitime Vertretung des libyschen Volkes gehört  das Geld, das die Vorgänge­rregierung angelegt hat, dem Staat Libyen. Also haben die Rebellen die Möglichkeit, damit die Waffen­lieferungen des Westens zu bezahlen. In Ägypten und Tunesien ist es anders. Da ist das Geld auf die Namen persönlich von Mubarak und seiner Sippe, auf Leila Trabelsi, ihre Kinder, Schwiegersöhne verteilt worden. Das ist privat. Rechtlich macht das einen Unterschied.

Es wird ein großes Geschäft, wenn man dieses Land wieder aufbauen will, das in einer Weise kaputt gebombt worden ist, wie man es sich gar nicht vorstellen kann. Die NATO hat gegen Jugoslawien 1700 Einsätze geflogen. In Libyen hat sie inzwischen über 20000 Ein­sätze geflogen. Die Zerstörungen müssen un­be­schreib­lich sein. Die Operation, die zum Schutz der Zivilbevölkerung gestartet worden ist, hat mittlerweile über 50000 Menschen getötet. Vorsicht also ist geboten, wenn Menschen­rechts­argumente hochgezogen werden. Dann wird – in Kriegen zumal – etwas ganz anderes beabsichtigt, als der Schutz der Menschen.

Im Schatten dieser Revolte in Libyen ist etwas passiert, das konnte man wunderbar verstecken: In Bahrein war ein Aufstand fast des ganzen Volkes, ein friedlicher Aufstand. Da ist Saudi Arabien einmarschiert  mit den Staaten des Golfkooperationsrats und hat den Auf­stand mit brutalen Militäreinsätzen nieder­geschlagen. Man weiß bis heute nicht, wieviele Menschen umgebracht wurden. Alle Leute gucken nach Libyen, dann braucht man nicht nach Bahrein zu gucken. Dort ging es ums Öl und vor allem um den Heimathafen der 5. US-Flotte am Golf und des Ober­kommandos der US-Marine in der Golf­region. Das ist mili­tärisch wichtig als Auf­marschgebiet gegen den Iran. Wenn in Bahrein die Demokratie gesiegt hätte, wäre das ein Sprengsatz gewesen für alle die Despotien am arabischen Golf, einschließlich Saudi Arabien.

Bezeichnend für die Interessenslage dort ist, dass es die Arabische Liga war, die als erste die Einrichtung einer Flugverbotszone in Libyen vorschlug. Die arabische Liga mit 22 Mit­glie­dern hat auf einer Versammlung, an der elf Mitglieder teilnahmen, beschlossen, den Sicher­­­heitsrat zu bitten, eine solche Flug­ver­botszone einzurichten. Von den elf anwesenden Staaten haben zwei dagegen gestimmt, Algerien und Syrien. Die neun Ja-Stimmen kamen aus den Golfstaaten. Der Sicherheits­rat hat dann die Resolution 1973 beschlossen. Und in dieser Re­solution werden fast wörtlich ganze Text­pas­sagen eines UN-Dokuments – die Responsibility to Protect – die „Verant­wortung zum Schutz“ übernommen. Sie besagt:  wenn ein Staat seine Bevölkerung nicht schützen kann oder will, dann muss die „internationale Gemeinschaft“ intervenieren, notfalls mit Waffengewalt. Wenn dies die NATO tut, zieht sie sich immer den Mantel der „internationalen Gemeinschaft“ über. Sie maßt sich ein Inter­ventionsrecht in Staaten an. Das bedeutet ganz klar das Ende des Artikels 2 Ziffer 7 der Charta der Vereinten Nationen, der besagt, dass Ein­mischung in die inneren Ange­legen­heiten eines Staates verboten ist.

Das Londoner Institut für internationale Studien, ein Think Tank der NATO, hat eine Studie veröffentlicht, die feststellt, es gibt bei der „Internationalen Gemeinschaft“, sprich bei der NATO, gar nicht so viele Truppen, dass „wir“ überall intervenieren könnten, wo es nötig wäre. Das führt dazu, dass „wir“ selektiv intervenieren müssen. Im Fall Libyen wird diese „Verantwortung zum Schutz“ – angeblich der Zivilbevölkerung - zugrunde gelegt für eine Resolution, die Luftbomdardements der NATO legitimiert. Aber dabei wird es nicht bleiben. In der Resolution steht zwar ausdrücklich: keine Bodentruppen, das hatte sich die arabische Liga ausbedungen. Doch schon wird auf der NATO-Ebene offen darüber geredet, dass man irgendwie am Boden auch tätig werden müsse. So zieht ein Ding das andere nach sich. Ich glaube, die Menschen, die sich von den Menschen­rechts­argumenten haben beeindrucken lassen, werden bald merken, wem sie damit aufgesessen sind.

Das Resultat des Krieges: bisher über 50 000 Tote, mit Sicherheit eine total zerstörte Infra­struktur; und wir haben einen neuen Partner, nämlich den „Nationalen Übergangsrat“. Der besteht aus etwa 40 Personen, von denen kennt man 13 oder 14. Wer die anderen sind, weiß man nicht.

Libyen ist ein Land, das nie eine nationale Einigung hatte. Libyen hat unter der faschistischen Kolonisation gelitten wie kaum ein anderes Land. Die italienischen Faschisten haben einen regelrechten Völkermord begangen. Sie haben etwa ein Drittel der libyschen Bevöl­kerung ermordet. Die Weltöffent­lich­keit weiß nichts davon. Vor vier Jahren hatte sogar Berlusconi eingewilligt, Libyen Ent­schä­digung zu zahlen für die Kriegs­ver­brechen, die Italien dort begangen hatte. Als die Faschisten aus Nord­afrika abziehen mussten, hat Groß­bri­tannien einen König in Libyen eingesetzt: Idris der I. Er war Oberhaupt einer konservativen islamischen Bruderschaft, die damals Einfluss hatte von Senegal bis Indonesien. Für den britischen Imperialismus war das eine ideale Figur. Er hat das Öl völlig freigegeben. Dann kam am 1. September 1969 der Putsch von Gaddafi, der hat das Öl nationalisiert, hat am zweiten Tag seiner Herrschaft den größten amerikanischen Flugplatz außerhalb der USA, Wheelus Field, geschlossen. So etwas vergessen die USA auch nicht.

Aber das Land wurde nach wie vor von Stämmen regiert. Und wenn ein solches Land  von den Einnahmen aus dem Öl-Geschäft lebt, dann wird alles aus dem Ausland importiert. Dann gibt es keine Industrialisierung, es gibt keine Weiterverarbeitung, es gibt folgerichtig keine Gewerkschaften, nicht einmal Unter­nehmerverbände. Es gibt auch keine Parteien. Es dominieren die Stämme. Und was wir jetzt sehen, ist ein Kampf der Stämme untereinander und gegeneinander. Es ist ein Land, das wir uns hier von der politischen Struktur nur sehr schwer vorstellen können. Wir haben im Kampf um Tripolis gesehen, dass die Milizen sich gegen­seitig mehr bekämpft haben, als sie die Gaddafi-Leute bekämpften. Wir haben es mit Leuten zu tun, die niemand kennt, mit Leuten, die sich spinnefeind sind, mit Leuten, unter denen jede Regierung der NATO-Staaten ihre Agenten hat. Wie das jemals zu einer Staat­lichkeit zurückführen soll, das ist mir persönlich rätselhaft.

Doch man sollte auch nicht unterschätzen, dass Demokratie, wenn sie gelebt wird, nicht nur diese Schaufensteratrappe ist, wie man sie sich im Westen gern vorstellt, sondern dass in diesen Ländern auch Leute sind, die sagen: jetzt haben wir die Macht erobert, jetzt wollen wir die Verhältnisse ändern. So unklar noch die Verhältnisse in der ganzen Region sind, so unsicher die Perspektive der Demokratie, die Bewegungen haben die hochmütigen Theo­rien von der „Demokratieunfähigkeit der arabischen Völker“, wie sie der ultrakonservative US-amerikanische Politologe Huntington vertreten hat, gründlich widerlegt.

Doch mit Blick auf Libyen ist noch Skepsis angebracht. Ich bin fest überzeugt, dass vor unserer Haustür ein Afghanistan installiert wird, ein zerfallener Staat, in dem alle möglichen Gruppierungen gegeneinander kämpfen, die sich gegeneinander ausspielen, auch gegeneinander ausspielen lassen. Wer sich kümmert, sind vor allem die alten Kolonialmächte, die noch einmal versuchen Fuß zu fassen. Vor­gestern ist ein Vertrag ans Licht gekommen, wonach Frankreich sich 35% der libyschen Ölexporte gesichert hat. In der FAZ vom 23. August hofft Eugen Weinberg, Rohstoff-Ana­lyst der Commerzbank: „Wir rechnen binnen weniger Monate mit der Wiederaufnahme der Öl-Produktion. Jede künftige Regierung wird ein großes Interesse an einer möglichst schnellen Wiederaufnahme der Ölexporte haben. In Irak hat es sich erwiesen, dass dafür nicht einmal politische Stabilität vonnöten ist.“ Warum auch, man kann sich heute für billiges Geld eine private Krieg­führungsfirma kaufen, und diese macht dann die Drecksarbeit. Aber damit  wäre der Staat  Libyen nicht mehr existent. Das könnte sogar im Interesse des internationalen Kapitals bzw. der Ölfirmen sein. Wenn Libyen in zwei Staaten oder sogar in drei zerfällt, dann kann man mit denen noch leichter umgehen. Und wenn Libyen jetzt voll in die Libera­li­sierung hineingezogen wird, könnten die Ölfirmen endlich ein lästiges Kartell zerschlagen, nämlich die OPEC, den Zusam­menschluss der erdölproduzierenden Länder.

Dennoch: in Afrika hat es in zehn Ländern Unruhe gegeben, und zwar massive, mit den gleichen Losungen,mit den gleichen Zielen, mit den gleichen Aktionsformen, friedliche Aktionen. In Israel rufen die Leute auf der Straße, wir marschieren jetzt wie die Ägypter. In Spanien geht die Jugend auf die Straße … diese Revolten können auch ein Zeichen der Hoffnung sein für eine Umgestaltung der Welt in Richtung auf mehr Demokratie und die wirkliche Selbstbestimmung der Menschen!