Der Staat als Lakai

Die Europäische Kommission hat sich nun (endlich!) dazu durchgerungen, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in der Europäischen Union vorzuschlagen. Diese soll sich - dem Vorschlag entsprechend - auf 0,1 Prozent für Aktien- und Anleihentransaktionen sowie 0,01 Prozent bei Derivaten (besonders spekulative Finanztermingeschäfte) belaufen. Damit soll der Finanzsektor einen „angemessenen" Beitrag zur Haushaltskonsolidierung in den Mitgliedsstaaten der EU leisten, nachdem sich deren Schuldenlast durch ihre Maßnahmen zur Rettung des Finanzsektors auf Kosten der Steuerzahler dramatisch erhöhte. Der Vorschlag sieht vor, dass die Einnahmen aus der Steuer in Höhe von schätzungsweise 57 Milliarden Euro pro Jahr zwischen der EU und den Mitgliedstaaten aufgeteilt werden. Der EU-Haushalt ist für das Jahr 2011 mit 126,5 Milliarden Euro aus den Zahlungen der 27 Mitgliedsländer veranschlagt, von denen unter anderem Deutschland knapp 22, Frankreich 19, Italien 14,5 und Großbritannien knapp 13 Milliarden Euro in die Kasse bringen.
Bei Betrachtung dieser Zahlen möchte man meinen, es handele sich um einen bedeutsamen Vorschlag der Kommission. Immerhin ist dem litauischen EU-Steuerkommissar Algirdas Semeta durchaus auch darin zuzustimmen, mit diesem Vorschlag werde die Europäische Union „zum Wegbereiter für die Einführung einer weltweiten Finanztransaktionssteuer". Eine solche ist nun schon seit vier Jahrzehnten als so genannte Tobin-Steuer in der Diskussion. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler James Tobin schlug 1972 vor, durch eine „sehr niedrige" Steuer auf sämtliche internationalen Devisentransaktionen die kurzfristige Spekulation auf Währungsschwankungen einzudämmen". Nun wollen die Europäer, so Semeta, mit gutem Beispiel vorangehen und dann weiter auf globaler Ebene Druck machen.
Andererseits erscheinen die anvisierten Prozentsätze - wobei noch völlig offen ist, ob diese „durchsetzbar" sein werden -als geradezu lächerliche „Belastung" der Finanzbranche. Deren jährliche Gewinne dürften sich bei Umsätzen von schätzungsweise 57 Billionen Euro (hochgerechnet aus dem vorgeschlagenen 0,1%igen Steuersatz und den erwarteten Einnahmen) auf Hunderte Milliarden, wenn nicht sogar auf Billionen-Beträge belaufen. Ferner: Würden Sie, lieber Leser, gegebenenfalls auf ein lukratives Geschäft verzichten, nur weil sich der zu zahlende Preis der Sache Ihres Begehrs um ein zehntel oder sogar nur hundertstel Prozent erhöhte? Unter Spielern heißt es: Geld, mit dem man ins Casino geht, muss man übrig haben. Auch die Spekulationsgeschäfte an den Finanzmärkten werden mit Geld betrieben, das überschüssig ist. Der Staat könnte es total wegversteuern, ohne jemandem wirklich weh zu tun, in Not zu bringen. Warum tut es die Europäische Kommission nicht?
Die Justizkommissarin der EU, Viviane Reding aus Luxemburg, kritisierte in diesem Zusammenhang den wachsenden Einfluss von Interessengruppen auf Entscheidungen der EU-Kommission. So hätten vor allem britische Interessenvertreter „Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt", um eine Finanztransaktionssteuer zu verhindern, sagte sie gegenüber der Zeit und stellte fest, früher habe niemand die Vorschläge der Kommission zerredet. Heute liefen einzelne Interessengruppen Sturm, noch bevor die Vorschläge auf dem Tisch lägen.
Für Marxisten ist (oder war?) der Staat das „Machtinstrument der jeweils herrschenden Klasse". Angesichts der nun dreijährigen Eierei im Umgang mit der Krise seit 2008 sollte man vielleicht von seiner Rolle als Lakai in der Tragikomödie „Wirtschaft" im Schmierentheater dieser Welt reden. Wie ein Hund nach dem Knochen schnappt er - Schnäppchen sind ja heutzutage „in" - nach den aus der Schweiz herübergeworfenen Steuerbrosamen, anstatt den Flüchtigen an die Kehle zu gehen. Er weiß nicht, welchem seiner vielen Herren er es recht machen soll. Da liebedienert er mit allen und bekommt für seine hilflose Unterwürfigkeit noch Prügel von allen Seiten. Und der Gipfel der Ironie: Alles Gezänk und Geschrei beruht auf Irrtümern, vor allem auf der großen Illusion aller Akteure vom Reichtum dieser Welt, den sie im Geld sehen und im Geld messen wollen. Sie erstreben ihn als bedrucktes Papier, von dem sie nicht leben und mit dem sie eines Tages - wenn sie nicht umzudenken lernen - nichts mehr werden kaufen können, weil sie seinetwegen die Erde verwüstet, unseren Planeten unbewohnbar gemacht haben werden. Niemand will sich mit ihm, dem Staat, identifizieren, er wird als ein Dritter, außer den Individuen Existierender und eigenes Subjekt betrachtet. (Friedrich der Große bezeichnete seinerzeit sich selbst immerhin noch als ersten Diener seines Staats.)
Jedermann redet von einer im Laufe weniger Jahrzehnte veränderten, globalisierten Welt. Zu Grunde liegt diesem Wandel letztlich der wissenschaftlich-technische Fortschritt. Doch was dies alles für die Menschen als Subjekt und Objekt der Veränderungen gleichermaßen bedeutet, für ihr menschliches Sein als Individuen und Teil einer nun weltweiten Gesamtheit zugleich, für die Organisation ihres im weitesten Sinne gemeinsamen Lebens auf diesem Planeten, wird noch immer mit alten Begriffen, in Denkmustern, Schablonen von ehemals zu deuten (weniger zu erklären) versucht. Hat auf Grund der objektiven Veränderungen menschlicher Produktions- und Lebensweise nicht auch der Staat objektiv ein neues Wesen bekommen und von daher neue Aufgaben zu erfüllen? Resultiert nicht gerade aus diesem Widerspruch zwischen der (fortgeschrittenen) materiellen Basis der Gesellschaft und ihrem (veränderungsbedürftigen) geistig-politischen (auch juristischen) Überbau das ganze, für einen Betrachter von außerhalb dieser Erde tragikomische, Getue von Politik und Wirtschaft im Kampf gegen die Krise? Ist die globale Krise von Finanzen, Wirtschaft und Politik nicht nur Ausdruck eines weltweiten politisch-ökonomischen und geistigen Erneuerungsbedarfs?
Neue Denkansätze müssen her! Neues Handeln erfordert neues Denken. Nicht mehr das Private  kann Maßstab von Wirtschaft und Wirtschaften sein, sondern primär das Wohl des Ganzen, weil das Wohl der ganzen Menschheit auf dem Spiel steht. Dies zu gewährleisten und zu organisieren ist zur objektiven Aufgabe dessen geworden, was mit dem überkommenen Begriff „Staat" nicht mehr hinreichend umschrieben wird. Der Staat im herkömmlichen Sinne ist zum hilflos-lächerlichen Lakaien gesellschaftlicher Interessengruppen verkommen und muss sich dringend zu einem Organisator des Überlebens der Menschheit entwickeln.
Nun höre ich schon die Alarmglocken läuten. Nein, nicht um eine zentrale, womöglich weltweite „Planwirtschaft" wird es sich handeln müssen, sondern darum, dem freien, eigenverantwortlichen Handeln von Individuen und Gruppen der Gesellschaft einen gesetzlichen beziehungsweise Ordnungsrahmen zu geben, der ein globales Desaster verhindert. Das setzt ein neues Denken mit neuen Zielen und Begriffen von Glück und Reichtum voraus, den es vernünftig zu produzieren und zu verteilen gilt. Geld und Finanzen werden dabei eine bedeutende, doch nicht die entscheidende Rolle spielen. Primär werden die Bedürfnisse der Menschen in ihrer Gesamtheit (auch um des sozialen Friedens willen) zu befriedigen und die dafür notwendigen sachlichen Voraussetzungen zu schaffen sein. Die Freiheit, Raubbau an der Natur und Umwelt zu betreiben, zu produzieren, um zu verdienen und dann wegzuwerfen, wird es nicht länger geben können.
Bei solcher Programmatik brauchen weder Arme noch Reiche mit Bangen in die Zukunft zu schauen. Die sachlichen Voraussetzungen ihres Wohlergehens kann die Menschheit ohnehin immer nur zu gegebener Zeit, also die künftigen erst in der Zukunft produzieren, weil sachlicher Reichtum nur von kurzer Lebensdauer ist. Aber bereits heute müssen die materiellen und vor allem auch die geistigen Voraussetzungen für die Produktion von morgen geschaffen werden. Deshalb: Keine Panik auf der Titanic, es ist genug, nicht nur Wasser, für alle da!