Unsere Gehirne sind „Glaubensmaschinen“, so Michael Shermer in seinem
druckfrischen Buch „The Believing Brain“ („Das glaubende Hirn“): Sie
suchen und finden Strukturen, die sie dann mit Bedeutung füllen. Diese
bedeutungsvollen Strukturen formen Überzeugungen, die unser Verständnis
von Realität gestalten. Unsere Hirne neigen dazu, nach Informationen zu
suchen, die unsere Überzeugungen bestätigen, während sie Informationen,
die unseren Überzeugungen widersprechen, ignorieren… Shermer nennt dies
„glaubensabhängige Realität“ und meint, mit dieser griffigen Formel
einen Schlüsselbefund moderner Hirnforschung auf den Punkt gebracht zu
haben.
Believing is seeing – Glauben ist Sehen, nicht umgekehrt, wie bisher
angenommen… Nun bin ich kein Hirnforscher. Dennoch leuchtet mir Shermers
These ein. Zumindest hilft sie mir, Dinge zu verstehen, die ich mir
bisher nicht erklären konnte. Etwa, warum so viele westliche
Russlandversteher unverdrossen zwischen dem „liberalen „Hoffnungsträger“
Medwedjew und dem „autoritären Sowjet-Fossil“ Putin unterscheiden. Klar
doch: Medwedjew ist der Gute, weil man fest daran glaubt, entspricht er
doch genau jenem postsowjetischen Reformertyp, auf den so genannte
Entscheidungsträger in Berlin und anderswo abfahren: jung, smart,
twitternd … und natürlich mit viel Herz für den Westen. Wer nun aber
etwa Anderes glaubt, etwa, dass es mehr braucht als einen jugendlichen
Helden mit Laptop, um die russische Karre aus dem postsowjetischen Dreck
zu ziehen? Erschließt sich diesem auch eine andere Realität? Zum
Beispiel eine, in der zwischen „Reformern“ und „Fossilen“ zu
unterscheiden einigermaßen schwerfällt. Ich glaube schon.
Mag Medwedjew noch so viel von „Rechtsnihilismus“ schwadronieren und
medienwirksam verkünden, das Land vom langen Schatten Stalins befreien
zu wollen – das Update der Milliarden Rubel schweren ultraliberalen
„Strategie 2020“ geht auf Premier Putins Kappe, ist sein Brand, für
dessen Kultivierung er sogar unlängst eine neue Struktur aus dem Boden
gestampft hat: die so genannte Russische Akademie für Volkswirtschaft
und Öffentlichen Dienst unter Leitung des Gajdar-Jüngers Wladimir Mau.
Also sind letztlich beide, Medwedjew und Putin, Liberale? Stehen sich
zumindest gedanklich viel näher als gemeinhin angenommen? Spielen
lediglich gegenüber dem Westen good cop – bad cop?
Zumindest viele russische Beobachter scheinen dies so zu sehen: Das
Hauptproblem der „Strategie 2020“ wie des gesamten postsowjetischen
Reformkurses, so zwei der gescheitesten Kreml-Kritiker, Michail Remisow
und Boris Meschujew, sei die Schaffung einer „künstlichen
Alternativlosigkeit“ in Fragen der sozialökonomischen Entwicklung…
Wirklich? Auch wenn Ex-Gajdar-Berater Mau meint, einer Art russsicher
ENA vorzustehen, er ist nicht der Einzige, der vom Kreml gehätschelt
wird. Staatlich bezuschusst werden neben Maus schärfstem Konkurrenten,
der Moskauer Hochschule für Ökonomie, auch andere, weit weniger liberale
Einrichtungen, von der Moskauer Universität über die Akademie für
Arbeit und soziale Beziehungen bis hin zum Russischen Institut für
Strategische Studien. Und alle arbeiten an ihren eigene „Strategien
20XX“, stellen sie zur Diskussion, verwerfen sie und fangen von vorne
an…
Nein, von einer „künstlichen Alternativlosigkeit“ kann keine Rede sein,
eher von einer künstlichen Pluralität. Es sieht eher danach aus, als
habe sich der Kreml längst noch keine abschließende Meinung darüber
gebildet, wohin Russlands Reise im 21. Jahrhundert gehen soll und
deshalb verzweifelt nach Meinungen fischt. Denn nur Eines scheint ihm
inzwischen wirklich klar zu sein: So wie bisher kann es nicht
weitergehen…
Nirgendwo wird dies deutlicher als in Russlands aktueller
„Ostforschung“: Hundert Experten, dreihundert Meinungen… Ist Russland
„eurasisch“ oder „pazifisch“, gehört es zum „Großen Osten“, zu
„Großostasien“ oder etwa zum „Großen Mittleren Osten“? Welche Rolle kann
Zentralasien bei der Entwicklung Sibiriens spielen? Sollten die
„Schanghaier Sechs“ mit der NATO kooperieren? Gibt es einen
„postbyzantinischen Raum“…? Fragen, an den sich nicht nur spinnerte
Orientologen am Moskauer Fernostinstitut oder in Irkutsk die Zähne
ausbeißen, sondern zunehmend auch smarte Analysten im liberalen
Institute of Contemporary Development, bei Gasprom und Transneft. Aus
gutem Grund: In Richtung Westen gibt es kaum etwas, das nicht längst
ausprobiert wurde: „Strategische Partnerschaften“, „Gemeinsame Räume“
„Flankenvereinbarungen“… Gebracht hat dies alles relativ wenig.
Entsprechend groß der Frust. Und das Bemühen, im Osten noch einmal neu
anzufangen: Strukturen zu schaffen, wo es nie welche gab, nicht länger
Problem, sondern Problemlöser zu sein…
In Russlands Denkfabriken riecht es stark nach Zukunft, bricht sich eine
neue Futurologie Bahn. Mit Rechnung an den Kreml. Und der zahlt.
Korruption nicht ausgeschlossen. Auch bleibt es (vorerst) eine
Futurologie der Mittelklasse, deren Träume an einem kindlichen Egoismus
leiden (Tatjana Iwanowa), und die deshalb für jene Viele, die durch den
sozialen Rost fallen bzw. schon gefallen sind, wenig Empathie
aufbringt.Dennoch: Zukunft hat, wer über sie nachdenkt. Und nachgedacht
wird im heutigen Russland mehr denn je. Sollte das Tandem
Medwedjew-Putin je eine historische Mission gehabt haben, dann diese:
den widersprüchlichen, verworrenen, nicht selten abwegigen, aber immer
leidenschaftlichen Debatten zwischen Polittechnologen, Akademikern,
Künstlern, Uniformträgern, Popen, NRO-Aktivisten und vielen anderen
nicht nur nicht im Wege zu stehen, sondern aktiv zu fördern. Zumindest
im Augenblick sieht es so aus, als wolle man sich dieser Mission
tatsächlich stellen.
Blauäugigkeit? Kaum. Verständigung tut einfach Not, denn nur sie
fokussiert letztendlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf das
Wesentliche: Von entscheidender Bedeutung ist nicht, ob sich Russland
nach Westen oder Osten bewegen soll, sondern, dass es sich überhaupt
bewegt. Und erste Bewegungen sind durchaus spürbar. Russland schickt
sich an, seine postsowjetische Phase hinter sich zu lassen. Dabei kehrt
es nicht in die Welt zurück (wie Daniel Treisman in seinem jüngsten Opus
durchaus wohlwollend meint), sondern korrigiert die Konturen dieser
Welt, indem es transgressiv Realitäten schafft, denen nicht länger die
Vorstellung zugrunde liegt: entweder liberal oder autoritär – ein
Drittes ist nicht gegeben…
Postpostsowjetische Verhältnisse: eine neue politische Kultur, ohne
Euro-Masochismus und eurasische Folklore, die renitenten Westlern und
Slawophilen keinerlei Karrierechancen mehr bietet, die Vergangenheit
auch mal Vergangenheit sein lässt, um Zeit für Zukunft zu haben, die
mehr auf Yota und Badoo als auf Öl und Gas setzt… Eine
phantasieintensive Angelegenheit. Aber anders wird Russland der längst
überfällige Sprung ins 21. Jahrhundert nicht gelingen.
P.S.: Ach so, die bevorstehenden Wahlen. Überraschungen dürften sie keine bereithalten, die oben beschriebenen Tendenzen nicht konterkarieren. Und das ist gut so.