Kritischer Professionalismus

Pro und Contra

Pro:

druck in den kessel!
Plädoyer für kritischen Professionalismus

von Kolja Möller

Dass gesellschaftliche Veränderung im Alltag beginnt, ist eine Binsenweisheit. Klar: Es braucht Demos, linke Abgeordnete und Bewegungs-Größen. Aber das alles wird nichts, wenn sich im Alltag nichts ändert. Erst wenn hier die Widersprüche aufbrechen, wenn Druck im Kessel ist, kann gesellschaftliche Veränderung stattfinden: Keine Schulreform ohne Diskussion im Klassenzimmer und Konflikte mit der Gymnasiallobby. Keine antiautoriäre Gesellschaft ohne innerfamiliäre Konflikte, die den pater familias seiner Autorität berauben. Keine commonistische Perspektive ohne Medienarbeiter_innen, die ihre Kompetenzen für eine andere Gesellschaft einsetzen. Für viele bedeutet Alltag auch Lohnarbeit in einem Beruf. Dafür wird die Jugend lang geprobt. Man qualifiziert sich, erwirbt Kenntnisse und positioniert sich innerhalb der kapitalistischen Arbeitsteilung.
Doch es gibt Spielräume für eine kritische Ausübung seines Berufs. Erworbene Kompetenzen müssen nicht zwangläufig so eingesetzt werden, wie es erwartet wird. Lehrer_innen können zumindest in Ansätzen den Lehrplan durchkreuzen. Ärzt_innen können bei „Castor Schottern“ verletzten prager-frühling-Redakteuren den Arm schienen (wie jüngst geschehen!). Informatiker_innen können die nächste Online-Demo technisch unterstützen. Berufsgruppen können sich selbst organisieren und die Spielräume für eine kritische Ausübung ihres Berufs ausloten. Dass sie dabei an Grenzen stoßen, etwa die Lehrpläne im Bildungsbereich oder die Gewaltförmigkeit der Polizei, ist bei vielen Berufsbildern vorprogrammiert. Doch dieser Konflikt mit der „déformation structurelle“ und der „déformation professionelle“ ist Teil eines notwendigen Lern- und Aufklärungsprozesses, die eine „formation professionelle“ voraussetzt.
Der gesellschaftlichen Linken ist nicht damit geholfen, dass man sich für seine Rolle in der Arbeitsteilung schämt. Vielmehr sind alle Versuche, die eigene Rolle gegen den Strich zu bürsten und vorhandene Spielräume zu nutzen, Anknüpfungspunkte für linke Politisierung. Die Linke braucht Rechtsanwält_innen, die juristisch was drauf haben. Studierende, die gründlich studieren. Journalist_innen, deren Schreibstil zum Weiterlesen animiert. Dann kann eine Kritik an der Verselbständigung des Beruflichen und der damit einher gehenden Verteilung von Herrschaftspositionen sinnvoll einsetzen. Ohne eine vorherige „formation professionelle“ und ein hinreichendes Maß an Fähigkeiten sind solche politischen Ressourcen nicht zu erschließen.
Die gesellschaftliche Linke braucht einen Aufbruch des kritischen Professionalismus. In den letzten Jahren sind Fortschritte erzielt worden. Eine Partei links von der Sozialdemokratie erzielt stabilen Einfluss im politischen System. Darüber hinaus ist eine Erneuerung außerparlamentarischer Proteste zu beobachten. Dabei besteht die Gefahr, dass Fragen alltäglicher Politisierung aus dem Blickfeld geraten: Am Wochenende bei der Linkspartei den „demokratischen Sozialismus“ beschließen, um am Montag als Bürgermeister das Verwaltungsrecht genauso anwenden wie ein CDU-Bürgermeister. Immerhin gibt es schon Keimformen für einen kritischen Professionalismus. Von Teilen der Gewerkschaften, über kritische Ärzte- und Anwältevereine bis hin zu kritischen Polizist_innen. Solchen Organisationsansätzen Leben einzuhauchen oder neue Ansätze zu erproben – daran entscheidet sich unter anderem, ob sich konkret erfahrbare Veränderungen einstellen.

 

Contra:

fallstricke der déformation professionelle
Eine Kritik des Kritischen Professionalismus und ein Plädoyer für die Kritik der Profession

von Stefan Gerbing

Was haben SozialdemokratInnen im Kaiserreich, eine Vierjährige und die Frauenbewegung gemeinsam? Was nach dem Anfang eines schlechten Witzes klingt, ist der Einstieg in eine oft gestellte Frage, mit der politische Bewegungen nach einer gewissen Etablierung zu tun haben. Im Zuge von Institutionalisierung findet zum einen eine Professionalisierung von Bewegungen statt. Zum anderen werden kritische Inhalte Teil von Professionsverständnissen. Dieser „kritische Professionalismus“ ist also von Professionalisierung nicht zu trennen.
Die organisierte Sozialdemokratie stellte sich die Frage in dem Moment, als die Identität als Arbeiterpartei in Frage stand. Bestand bereits in der Anfangszeit die Parteiführung nicht aus ArbeiterInnen, sondern z.B. HandwerkerInnen wie August Bebel, veränderte sich nach Abschaffung der Sozialistengesetze auch die soziale Zusammensetzung. Plötzlich gab es sozialistische Reichstagsabgeordnete und bezahlte Kader. Viele LehrerInnen traten plötzlich in die Partei ein, weil sie gleichzeitig Sozialist und Staatsangestellte bzw. „Revoluzzer und Lampenputzer“ (Erich Mühsam) sein konnten. Das veränderte allerdings auch die innerparteilichen Machtverhältnisse. Der sozialdemokratische Soziologe Robert Michels entwickelte nicht zufällig in dieser Zeit das „Gesetz der Oligarchie“. Seine These: Innerparteiliche Machtverhältnisse verfestigen sich im Zuge der Professionalisierung. Die Führungsnotwendigkeit und das Beharrungsvermögen bürokratisierter Parteiapparate stehe im Spannungsverhältnis zu innerparteilicher Demokratie.
Für die Frauenbewegung stellte sich die Frage einige Jahrzehnte später. Neben dem Wahlrecht war für Protagonistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung wie Louise Otto-Peters eine zentrale Forderung, überhaupt Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit zu bekommen. Man sieht also: Einen kritischen Professionalismus konnte es vor Erreichen dieser Ziele gar nicht geben. Für proletarische und für viele ledige Frauen stellte sich die Frage ganz anders. Sie hatten ebenfalls keine Berufswahl. Sie mussten arbeiten, allerdings in Arbeitsverhältnissen, in denen es keine kritische Berufsausübung geben konnte. Deswegen dauerte es fast hundert Jahre, bis sich Feministinnen die Frage stellen mussten, was eigentlich mit „dem“ Feminismus passiert, wenn er plötzlich als Versatzstück in Gender-Mainstreaming-Programme der Regierung Eingang findet oder einzelne Protagonistinnen um die wenigen Stellen in der akademischen Geschlechterforschung konkurrieren.
Professionalisierung gilt es nicht per se zu verdammen, schließlich ist sie bis zu einem bestimmten Grad unvermeidlich. Sie sollte aber kritisch reflektiert werden. Es geht schließlich nicht primär um individuelle Wünsche, sondern um die Rückwirkungen von sozialen Institutionen. Damit wären wir bei dem Vierjährigen.

Antimilitaristische SoldatInnen und kritische PolizistInnen?

Wenn man Vierjährigen noch unterstellen kann, dass ihnen ein Verständnis vom staatlichen Gewaltmonopol fehlt, wenn sie PolizistIn werden wollen, um für „Gerechtigkeit“ zu sorgen, sind und waren Linke häufig genauso naiv. Ihnen fehlt das Verständnis von zur Herrschaft geronnenen Machtverhältnissen. Sie glauben, dass sie an jedem Ort Gutes wirken können: Wenn sie nur die richtigen Überzeugungen haben. Sie werden dann vielleicht nicht PolizistIn, aber EntwicklungshelferIn, RechtsanwältIn oder BioladenbetreiberIn und glauben damit, das Richtige im Falschen zu tun. Das ist alles weniger schlimm als die Versuche von K-Gruppen in den 1970er Jahren statt der vermeintlich „egoistischen Kriegsdienstverweigerung“, antimilitaristische Soldatenarbeit zu betreiben und dann eben als kritischer Soldat durch die Kasernen zu marschieren. Aber es zeigt, wohin man gelangen kann, wenn nicht darüber nachgedacht wird, wie Strukturen auf das Individuum zurückwirken. Ein Extrembeispiel? Ja, doch eines, das gar nicht so wenige AnhängerInnen hatte. 1975 gab es mindestens 50 Basisgruppen der Aktion Demokratischer Soldaten. Solche Sackgassen zeigen, dass es durchaus sinnvoll ist, die Grenzen und die Möglichkeiten von kritischem Professionalismus zu reflektieren.

Hahahabitus und NoNoNormalisierung?

In modernen Gesellschaften findet eine selektive Integration von zunächst widerständigen Praktiken statt. Was gestern nicht zu denken war und von Bewegungen erstritten wurde, wird legitimes Wissen oder akzeptierte Lebensform. Das ermöglicht einerseits machtvolle Interventionen: Zum Beispiel, wenn feministisches Wissen den Weg in Lehrbücher und Nachschlagewerke findet und damit eben Teil des wissenschaftlichen Kanons wird. Oder wenn das Ökoinstitut, das ursprünglich aus der Antiatombewegung kommt, naturwissenschaftlichen Sachverstand zur Verfügung stellt, um mit Hilfe des Planungsrechts Atomkraftwerke zu verhindern. Diese Normalisierung ändert allerdings auch die Rollen der ProtagonistInnen. Bei den kritischen Soldaten liegt die Rückwirkung der Struktur auf der Hand: Ein reiner Männerbund, der sich in der Ausübung von Gewalt trainiert. Es wundert nicht, dass die Wirkung der Struktur auf die kritischen Soldaten wohl stärker war, als die Veränderung der Struktur, die sie bewirkten. Beim Ökoinstitut führt sie dazu, dass man irgendwann auch einmal Hoechst in Sachen Unternehmensstrategie beriet. Man sieht: Auch in zivilen Berufen lassen sich solche Rückwirkungen, die berühmte Déformation professionelle, bewundern. Es ist unvermeidlich, dass bestimmte professionelle Perspektiven die Herangehensweise prägen. Personen, die sich mit kritischem Verständnis in einen Apparat begeben haben, neigen nicht zufällig mit zunehmendem Verstehen desselben zur Fokussierung auf technokratische Lösungen, die der jeweiligen Apparatelogik folgen. Während sich vor hundert Jahren die Revisionisten in der SPD Gedanken über eine sozialistische Kolonialpolitik machten und glaubten, dass sie einen viel „humaneren“ Kolonialismus machen könnten, glauben heute einige InformatikerInnen, dass man über ein bisschen Programmierung an der richtigen Stelle Demokratiedefizite oder gleich die soziale Frage lösen kann.
Ein anderer Herrschaftseffekt: Professionalisierung versetzt Personen in die Funktion von Gatekeepern, die darüber bestimmen, welche Voraussetzungen den Zugang zu Apparaten regeln. Auch kapitalismuskritische LehrerInnen geben schließlich Noten und bestimmen darüber, wer aufs Gymnasium kommt und damit auch, wer vielleicht in Zukunft gar nicht vor der Entscheidung stehen kann, kritischer Lehrer zu werden. Es kommt also nicht nur darauf an, die Welt zu verändern, sondern es gilt auch, darüber nachzudenken, an welchen neuen Herrschaftswirkungen und Ausschlüssen man unter Umständen gerade professionell mitbastelt.

Es braucht fremde Augen für die eigenen blinden Flecke!

Was also ist die Alternative, wenn es also aus den genannten Gründen kein simples Plädoyer für einen kritischen Professionalismus geben kann? Das Berufliche zur Privatangelegenheit erklären und gar nicht erst einzufordern, dass sich Menschen Gedanken machen, wie sie auch ihren beruflichen Alltag in emanzipatorischer Hinsicht verändern? Unbefriedigend und zynisch. Die Kämpfe um gesellschaftliche Hegemonie sind selbst eine Form von Institutionalisierung, die ohne eine Professionalisierung nicht zu denken sind. Gatekeeperfunktionen sind durchaus wünschenswert, wenn sie verhindern, dass z.B. sexistische Positionen in ein Organisationsverständnis eingeschrieben werden oder wenn sie ermöglichen, dass bisher marginalisierte Sprechpositionen hörbar werden. Es bedarf daher kritische Korrektive, welche die eigene Betriebsblindheit korrigieren. Jenseits eines kritischen Professionalismus benötigt es Reibungsfläche, die eine Kritik des eigenen Professionalismus ermöglicht. Daran mangelt es derzeit eher. In Zeiten, in denen selbst bei Gewerkschaftsstiftungen auf Regelstudienzeitenerfüllung geschaut wird und mancher Parteifunktionär vor lauter Arbeit sich dann doch im geschlechtsspezifisch aufgeteilten Familienernährermodell einrichtet, sollte man sich sehr genau fragen, welches Verständnis von Professionalismus gemeint ist, wenn von kritischem Professionalismus die Rede ist. Manchmal ist es wohl nur das hegemoniale. Mit einem kritischen Mäntelchen.

Literatur:
Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911.
Sabine Hark: Dissidente Partizipation: Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt am Main 2005.