sarrazin und kein ende.

Oder: Warum sein „Fall“ für die Linke von strategischer Bedeutung ist.

Für sich genommen ist Thilo Sarrazin ohne jedes Interesse. Wenn sein „Fall“ dennoch unbedingt ernst genommen werden muss, dann weil die Linke nur von ihm her die Alternative formulieren kann, mit deren Wahl oder Abwahl sich die Gesellschaft nach links oder nach rechts entscheiden wird. Relevant sind deshalb auch nicht die Auslassungen des Volks-Wirts, sondern das Versagen der SPD-Führung, ihm angemessen zu antworten. Statt Sarrazin politisch so unmissverständlich zu widersprechen, dass er von sich aus das Weite gesucht hätte, flüchtete die SPD im ersten Zug ins im Kern unpolitische Parteiausschlussverfahren. Verschreckt durch die Deckung, die Sarrazin aus der eigenen Basis gewährt wurde, verzichtete sie im zweiten Zug dann aber noch auf die bloß bürokratische Klarstellung und war sich dabei nicht zu schade, vom Fortschritt auf einem „klugen Weg“ (Andrea Nahles) daherzufaseln. Im dritten Zug setzte der Parteivorstand schließlich den Blinker zur anderen Seite und verordnete den Führungsgremien eine Migrant/innenquote von 15%. Allerdings blieb man auch da unfähig zur politischen Positionierung und sicherte die Mehrheit nur im „Basta!“-Stil Schröders. Sarrazins Kommentar: „Je migrantischer diese Leute eingestellt sind, desto weniger neigen sie dazu, Probleme oder Schwierigkeiten objektiv zu sehen.“ Dabei gab er noch einmal zu Protokoll, dem Parteivorstand gegenüber „kein Wort von den Aussagen seines Buches zurückgenommen“ zu haben (taz, 05.05. 2011).

Der Kern des Problems

So erbärmlich der freie Fall der SPD-Führung in einen kaum weiter zu entleerenden Opportunismus und so widerwärtig jede Wortmeldung des noch-immer-sozialdemokratischen Rassen- und Klassenkämpfers ist: der politische Punkt der peinlichen Posse liegt in dem Faktum, dass laut aktueller Forsa-Umfrage 49% der SPD-Wähler/innen dem Verbleib des Kerls in der Partei aus vollem Herzen zustimmen. Zu ihnen sind dann die Wähler/innen der politischen Rechten, ein vermutlich nicht allzu geringer Teil der Wähler/innen der LINKEN und schließlich eine erhebliche Schar aus der wachsenden Menge der Nicht-Wähler/innen hinzuzurechnen. Zählt man das zusammen, wird deutlich, wie schnell es hier ebenso zugehen kann wie in den europäischen Ländern, in denen offen rassistische Formationen wie die „Wahren Finnen“, Front National, die Freiheitlichen, Fidesz oder die Lega Nord längst zu den stärksten der Parteien gehören. Soweit die Lage.

Sofern im Opportunitätskalkül der SPD jenseits der verzweifelten Sorge um Amt und Gehalt ein politischer Rest verbleibt, liegt dessen Bedeutung in dem Umstand, auch in den Gewerkschaften und von vielen LINKEN und Grünen geteilt zu werden. Leitend ist dabei die Annahme, das Aufkommen eines organisierten Rassismus durch pädagogische Vorab-Einbindung zu verhindern: Man will „die Leute“ nicht verschrecken, sondern durch volks-parteiliches „Abholen“ an der Drift nach rechts hindern. Dem dient dann auch die Teilnahme an der „Integrations“-Debatte – an der sich deshalb auch der Widersinn der ganzen Strategie aufweisen lässt. Denn tatsächlich zielen die Machttechnologien der „Integration“ allein darauf, widerständige Subjekte durch zuletzt auch strafrelevante Identifikation als „nicht-integriert“ oder gar „integrationsunwillig“ vom funktions- und verwertungsfähigen Teil der hier lebenden nicht-deutschen Menschen auszusondern und dann der Sonderbehandlung zuzuführen – wobei der Unterschied zwischen „fordern und fördern“ vom konkreten Verhalten der „Einzeltäter/in“ abhängt und deshalb gern auch unter Mitwirkung ausgesucht wohlintegrierter Einwander/innen entschieden wird.

Was tun?

Wenn die „Integrations“-Debatte im „Fall Sarrazin“ ihr Geheimnis offen legt, dann deshalb, weil sie nicht nur die eigensinnige Logik rassistischer Ausgrenzung anzeigt, sondern auch deren Einpassung in das allgemeine Funktionieren neoliberaler Disziplin und Kontrolle. Denn tatsächlich wird an den „nicht-integrierten“ und „integrationsunwillen“ Migrant/innen eingeübt, was in selbstverständlich gradueller Abstufung allen drohen wird, die nicht verwertet werden können: Wer gar nicht passt, fällt raus, alle anderen werden je nach Dienstbarkeit gefördert und/oder gefordert. Für die allgemeine Zustimmung zu diesem Verfahren sorgt der neoliberalisierte Nationalismus, der die Zugehörigkeit zur Nation primär am Leistungswillen festmacht und arbeitsfähige Einwander/innen deshalb ebenso einschließen kann wie er sozialschmarotzerische Blutsdeutsche nötigenfalls ausschließen wird. Schon von daher wurden Sarrazins Ausflüge in die Genetik von der breiten Anerkennung seines „Problembewusstseins“ ausdrücklich ausgenommen.

Von links her kann das Ko-Funktionieren von neoliberaler Kontroll- und rassistischer Ausgrenzungsgesellschaft nur im solidarischen Bezug auf die migrantische Erfahrung zurückgewiesen werden: Nicht, um Migrant/innen zum emanzipatorischen Subjekt oder auch nur zu „besseren Menschen“ zu romantisieren, sondern weil die Verteidigung und mehr noch die Durchsetzung ihrer Rechte der strategische Ausgangspunkt wie die strategische Probe einer Demokratisierung der zunehmend autoritären Verhältnisse sind. Dies ist so, weil sich in der Zurückweisung des „Integrations“-Zwangs der Zusammenschluss von Demokratie- und sozialer Frage zum Zusammenschluss des Kampfs um bedingungslose Bürger/innenrechte mit dem Kampf um bedingungslose soziale Rechte konkretisiert: Allein der freie und gleiche Zugang zur Bürger/innenschaft garantiert die Allgemeinheit der sozialen Rechte. Wenn über die migrantische Erfahrung zugleich gezeigt werden kann, dass der Bogen zu erkämpfender sozialer Rechte vom bedingungslosen Existenzgeld für definitiv alle Bürger/innen über den allgemeinen Mindestlohn und die progressive Arbeitszeitverkürzung bis zur gesellschaftlichen Verfügung über die öffentlichen Güter reichen muss, dann ist auch das kein Zufall, sondern in neoliberaler Lage der einzige Abzweig nach links.

Dr. Thomas Seibert ist Philosoph und Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne.