Taktik gegen Terror:

Abbottabad ist nicht Tutzing

„‚Bla-Bla ist besser als Bum-Bum‘ (Churchill). Aber unser Autor weiß, wo der Einfluß soziologischer Studien und offener Briefe endet: Terroristen muß klar sein, daß sie ihr Leben riskieren“, schrieb ich in meiner Ende 1987 erschienenen Rezension des Buches von Gayle Rivers „Taktik gegen Terror“ (Zürich/Wiesbaden 1987). Und ich beendete den Beitrag, unter Bezug auf die Originalausgabe, mit der Frage: „Ist übrigens nicht bereits die Titel-Übersetzung (The War Against the Terrorists – How to Win It) Ausdruck bundesdeutscher Verharmlosungsgier?“

Abbottabad in Pakistan und Tutzing am Starnberger See: beide Orte sind für Tourismus und Erholung bekannt. Aber während Tutzing für’s „Bla-Bla“ in schier endlosen akademischen Diskussionen Berühmtheit erlangte, wurde Abbottabad nun für Usama bin Ladins Ende beim Einsatz der US Naval Special Warfare Development Group, also für’s „Bum-Bum, berühmt-berüchtigt.

Gerecht – rechtens – rechtswidrig? „Ich freue mich darüber, daß es gelungen ist, bin Laden zu töten“, verkündete Bundeskanzler Angela Merkel. Die Aussage erinnert mich an das Bekenntnis eines linken Stadtindianers namens Mescalero in Göttingen im April 1977, der beim „Abschuß“ des Generalbundesanwalts Buback durch die Rote Armee-Fraktion „eine klammheimliche Freude nicht verhehlen“ mochte. Aber anders als in dem Nachruf von Mescalero (i.e. Klaus Hülbrock, der heutzutage in Weimar „Goethes Gurkentruppe“ organisiert) gibt es bei Merkel keine Läuterung im Raisonnement, keine Überprüfung solcher Gewaltanwendung. Henryk M. Broder wunderte sich in „Die Welt“ vom 9. Mai 2011: „So bricht in Deutschland eine Debatte über das Völkerrecht aus, wenn die Amis einen Massenmörder zur Strecke bringen, ohne ihn vorher darüber aufzuklären, dass alles, was er sagt, gegen ihn verwendet werden kann. Wenn aber ein Kinderschänder, der seine Strafe verbüßt hat, nicht in Sicherungsverwahrung genommen, sondern entlassen wird, bildet sich sofort eine Bürgerinitiative, die von der Polizei mit viel Mühe davon abgehalten werden muss, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen?“

Er mokiert sich zu Recht (mit Recht!) über widersprüchliches Verhalten. Über einen Widerspruch, den Broder, der bei einer Diskussion hierüber vermutlich wieder mit Stars-and-Stipes-Krawatte in einer Talk-show erschiene, dann konsequenterweise offenbar à la ‚Rübe ab‘ auch für Kinderschänder auflösen müßte, falls er nicht beide Selbstjustiz-Varianten ablehnt.

„Der Präsident schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seiner Präsidentschaft als oberster Gerichtsher [sic] unmittelbar Recht schafft. […] die Tat [war] echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz.“ So in etwa lautet die Ansicht derer, die Obama als berechtigt ansehen, den an der Spitze der FBI-Top-Ten „Most Wanted“ Stehenden (dort immer noch aufgelistet mit dem Zusatz „Deceased“) liquidieren zu lassen. E pluribus unum: Der Staatsrechtler und Rechtsphilosoph Professor Gerd Roellecke in seinem Beitrag „Warum die Tötung Bin Ladins gerechtfertigt war“(F.A.Z. vom 25. Mai 2011).

Das Rechtsschützer-Zitat ist allerdings keins. So hat es niemand dieser Tage geschrieben, wenn auch offenbar so gemeint. Denn die Worte stammen aus dem viel zitierten, selten gelesenen Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“, den Carl Schmitt 1934 nach der Tötung des SA-Führers Röhm schrieb – nur „Führer“ wurde gegen „Präsident“ und „Führertum“ gegen „Präsidentschaft“ ausgetauscht. Immerhin verbrämte Schmitt die Ereignisse der Mordnacht im Juli 1934 nicht als ‚gesetzmäßig‘ und justizförmig; im Gegenteil nannte er Exzesse bei jener Aktion („nicht ermächtigte ‚Sonderaktionen‘“) „um so schlimmeres Unrecht“ und forderte deren „besonders strenge Strafverfolgung“!

Daß die Tötung Bin Ladins nach jetzigem Kenntnisstand rechtswidrig war, hat überzeugend Professor Kai Ambos dargelegt („Auch Terroristen haben Rechte“). Wer dies der Tyrannei der Werte preisgibt, macht Recht zur Magd, nicht zum Maßstab der Politik, und er gibt die zivilisatorische Errungenschaft der Trennung von Recht und Politik auf.

Daß im „Unrechtsstaat“ (der realiter meist ein „Dual State“ gemäß der von Ernst Fraenkel im amerikanischen Exil verfaßten Untersuchung ist) Tötungen jenseits des Rechts beiden Feinden legitim erscheinen, versteht sich von selbst. Durchaus der unterschiedlichen Ausgangslage (Staat versus Einzelpersonen et vice versa) eingedenk: Stauffenbergs Aktentasche harmonierte nicht mit dem „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“ von Ernst Rudolf Huber.

Gleichwohl wäre eine Politik illusionär, ignorierte sie dieses arcanum, das offenbar auch in verrechtlichter Staatlichkeit existiert – sogar bei Abschaffung der Armeen. Im „Gespräch über den Partisanen“ sagte Carl Schmitt 1969 Joachim Schickel: „Es war der Irrtum dieses alten Pazifismus, daß ihm die Abschaffung des regulären Militärs den Frieden der Welt bedeutete.“ Es ist wohl kein Zufall, daß ein Schüler des SPD-Linken Iring Fetscher, der promoviert wurde mit einer Arbeit über Macchiavelli („mantenere lo stato“!) und der sich im Jahr des Erscheinens des Gayle-Rivers-Buchs habilitierte, indem er über die Staatsraison nachdachte (Titel: „Im Namen des Staates – Die Begründung der Staatsräson in der Frühen Neuzeit“), daß also Professor Herfried Münkler zum hierzulande tonangebenden Vordenker in puncto neue „asymmetrische“ Kriege avancierte.

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, faßte Carl Schmitt („Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität“, 1934) zusammen und umschrieb diesen wie folgt: „Es kann weder mit subsumierbarer Klarheit angegeben werden, wann ein Notfall vorliegt, noch kann inhaltlich aufgezählt werden, was in einem solchen Fall geschehen darf, wenn es sich wirklich um den extremen Notfall und seine Beseitigung handelt. Voraussetzung wie Inhalt der Kompetenz sind hier notwendig unbegrenzt.“ Vorzüglich beschrieb Schmitt auch die Irregularität des Partisanen (genitivus subiectivus et obiectivus, seines Kampfes wie seiner Bekämpfung): „Der moderne Partisan erwartet vom Feind weder Recht noch Gnade. Er hat sich von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und in den Bereich einer anderen, der wirklichen Feindschaft begeben, die sich durch Terror und Gegen-Terror bis zur Vernichtung steigert.“ („Theorie des Partisanen – Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen“, 1963.) In der großartigsten deutschen Partisanendichtung, in Heinrich von Kleists „Die Hermannsschlacht“, erwidert Hermann dem ihn an „das Gefühl des Rechts“ erinnernden Septimus: „Du weißt was Recht ist, du verfluchter Bube … Nehmt eine Keule doppelten Gewichts, Und schlagt ihn tot!“

Walter Benjamin befürchtete 1940, „daß der ‚Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist“ („Geschichtsphilosophische Thesen“, Nr. 8). Ungemütlich wird es, wenn sich der Ausnahmezustand als Weltordnung (Giogio Agamben) etabliert; so ist die Abschaffung des schon über viele Jahre aufrechterhaltenen Ausnahmezustands in den Staaten Ziel der progressiven Kräfte der Arabellion. Es gilt, die ungebändigte staatliche Gewalt für wenige wirkliche Ausnahmesituationen einzuhegen; Präsident Obamas Versprechen, „Guantánamo“ als Dauerzustand zu beenden, hatte dieses Ziel: Rücknahme der von Präsident Bush als Oberbefehlshaber am 13. November 2001 erlassenen „military order“, die „indefinite detention“ erlaubt.

Aaron J. Klein schilderte, wie der israelische Geheimdienst die Olympia-Mörder von München jagte (und daß bei der Verfolgung des Schwarzen September durch den Mossad auch ein unschuldiger marokkanischer Kellner ‚liquidiert‘ wurde). Im Juni 1976 befreiten Israelis in Entebbe, also auf ugandischem Territorium, die jüdischen Geiseln in einem entführten Air-France-Flugzeug und töteten dabei sieben Terroristen, u.a. Winfried Böse, der als deutscher Linksradikaler keine Skrupel hatte, jüdische von den nichtjüdischen Passagieren zu selektieren (militärwissenschaftlich Darstellung der Aktion von Dr. Heinrich Zador [Tel Aviv]: Die Entebbe-Aktion und ihre Lehren aus israelischer Sicht, in: Europäische Wehrkunde, Nr. 9/1976, S. 454ff.). Die britische Eliteeinheit SAS (Motto des Special Air Service: „Who Dares Wins“) tötete 1988 im spanischen Gibraltar IRA-Terroristen. Scheich Hussein Ali Fidow und Saleh Ali Saleh Nabhan, zwei Führer der Al-Shabab-Milizen, die inzwischen (am 1. Februar 2010) Al Qaida beitraten, wurden am 14. September 2009 auf einer Straße bei Barawe Opfer von Targeted Killings der CIA – exekutiert ebenfalls von US-Navy Seals. Und vor gar nicht langer Zeit begründete Ulf Häußler, Assistant Legal Advisor am Allied Command Transformation der NATO im amerikanischen Norfolk, warum solche „wet actions“ zwar gelegentlich nach innerstaatlichem Recht unerlaubt, jedoch völkerrechtlich nicht verboten sind („Gezieltes Töten: legale Methode der Kriegführung? Targeted Killing: A Lawful Method of Warfare?“, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Band 4, Nr. 2, S. 195-204). Auf der in den USA dreifach geführten "Kill List" (beim Nationalen Sicherheitsrat im Weißen Haus, bei der CIA und im Joint Special Operations Command) stehen sogar US-Amerikaner, als zum Feind Übergewechselte zum (Drohnen-)Abschuß freigegeben - für Verdächtige braucht man inzwischen nicht mehr Guantánamo.

Ratsam wäre, wieder zu lesen, was Leo Trotzki „Über den Terror“ vor hundert Jahren wußte, wenn sich „der Rauch einer Explosion verzieht, die Panik verschwindet: der Nachfolger des ermordeten Ministers tritt in Erscheinung, das Leben verläuft wieder im alten Trott, das Rad der kapitalistischen Ausbeutung dreht sich wie zuvor; nur die Unterdrückung durch die Polizei wird grausamer und dreister. Und als Ergebnis kommen anstatt der erweckten Hoffnungen und der künstlich angestachelten Erregung Desillusion und Apathie.“

Der lange Marsch des Winfried Kretschmann vom Mitglied im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) Anfang der siebziger Jahre zum ersten grünen Ministerpräsidenten 2011 ist beschwerlicher und folgenreicher (auch wenn sich heutzutage nicht nur ex-maoistische Grüne fragen, wo die Arbeiterklasse geblieben ist) als die heimtückische Erschießung des hessischen Wirtschaftsministers Heinz-Herbert Karry, im Schlaf zu Hause vor 30 Jahren. Nochmals Trotzki: „Nur die bewußte und organisierte Arbeiterklasse kann eine starke Vertretung in die Parlamentsgebäude schicken, um für die proletarischen Interessen einzutreten. Um jedoch einen prominenten Staatsdiener zu ermorden, braucht man nicht die organisierten Massen hinter sich zu haben. Die Rezepte für Sprengstoffe sind allen zugänglich, und einen Browning kann man überall bekommen.“

Ebenso lohnt sich das Wiederlesen des schon ein viertel Jahrhundert alten Buchs von Gayle Rivers, der proklamierte: „Aufgabe des Antiterror-Agenten ist es, den Terroristen ihr Leben zu nehmen“. Nach Berichten in Sunday Times und Los Angeles Times soll hinter dem Pseudonym „Gayle Rivers“ der seinerzeit von der Schweiz aus agierende Raymond Brooks stecken. Weitergehend als heutige Reaktorsicherheits- und Ethikkommissionen erörterte schon damals Rivers die Gefahr, daß Atomkraftwerke Ziel von Terrorangriffen werden: „Um eine radioaktive Explosion zu erzeugen, braucht man keine Kernwaffe.“ Zu phantasievoll? In demselben Buch schrieb Rivers anno 1986: „Ich kann dieses Kapitel nicht abschließen, ohne auf die besonderen Probleme der größten und verwundbarsten Stadt Amerikas zu sprechen zu kommen – ich meine New York … Die Skyline von Manhattan ist eines der modernen Weltwunder. Für jeden, der mit Terrorismusbekämpfung zu tun hat, zeigt sie viel zu viele, viel zu leichte, viel zu ‚kosteneffektive‘ Ziele für terroristische Anschläge.“