Die europäische »Zäsur«

Verschärfung von Schuldenkrise und -politik gefährdet Europas Demokratie

Seit gut einem Jahr verkündet das Gros der politischen Klasse von einem EU-Gipfel zum anderen, dass die Schuldenkrise eingedämmt sei – um von der ökonomischen Realität zugleich wieder dementiert zu werden. Sofern es anfangs noch Glaubwürdigkeit für diese Politik gab, ist sie mittlerweile weitgehend verspielt worden. Was bleibt sind vermeintliche Sachzwänge. Der gewichtigste: Es gehe darum, Europa zu retten und einen Rückfall in längst überkommene nationale Fragmentierung zu verhindern. Und dies setze voraus, auch den Euro zu retten, der seit der Währungsunion das Kernstück der europäischen Integration ist. Wer sich also Rettungspaketen verweigere, riskiere die gesamte »Moderne«.

Hier wird hoch gepokert. Denn die Verkoppelung von »Rettungsschirmen« und Austeritätspolitik mit der Entscheidung über die Zukunft Europas kennt gegenwärtig nur ein siegreiches Lager: den Rechtspopulismus. Dieser formiert sich zunehmend auch antieuropäisch: in Frankreich, in den Niederlanden und Belgien, in Österreich. Dort agitiert die FPÖ bereits für die Spaltung »der Währungsunion in den wirtschaftlich stärkeren und den wirtschaftlich schwächeren Teil. Wie kommen die Österreicher, aber auch die Deutschen oder Niederländer dazu, dauernd die Zeche der südlichen Euro-Länder zu bezahlen?« Und nun die »Wahren Finnen«, für die Anti-EU-Politik (gegen Rettungsschirme, Finanzhilfen und Bürokratie im Allgemeinen) der Wahlkampfhit war. Den Schwedendemokraten und der Dänischen Volkspartei wird das zu denken geben. Und was sollen – auf der anderen Seite – jene WählerInnen von einem »Europa« à la Merkel und Sarkozy halten, das die Daumenschrauben der Austeritätspolitik immer fester anzieht, den Lebensstandard senkt und Arbeitslosigkeit weiter ansteigen lässt? Von einem Europa, in dem sie als »faul« und »nichtsnutzig« abgestempelt werden und in dem sie über ihre eigene Zukunft nicht mehr bestimmen können – die liegt in der Hand jener »Männer in Schwarz«, den Unterhändlern der Troika aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB) und EU-Kommission, die die politische Willensbildung ganzer Völker mehr und mehr zu einer reinen Farce herabsetzen.

Eine politische Mehrheitsklasse, die mit Europa pokert, ohne soziale und zivilgesellschaftliche Perspektiven jenseits einer kruden, autoritären Finanzmarktintegration zu haben, setzt die demokratische Zukunft des Kontinents aufs Spiel. Die ungezügelte Herrschaft der Finanzmarktakteure wird zur Gefährdung der gesamten europäischen Konstruktion.

Ein Spiel mit gezinkten Karten. Denn das Argument, es ginge wie zu Beginn der fiskalischen Interventionspolitik immer noch um die Rettung des Euro, ist falsch. Der hat sich nach anfänglichen Spekulationen mit Unterstützung der immer wieder aufgestockten Rettungspakete letztlich als stabil erwiesen. In dem Jahrzehnt, in dem die Gemeinschaftswährung existiert, lag die Preisentwicklung exakt im Korridor der Zielinflationsrate der EZB (2%). Der Außenwert hat gegenüber dem US-Dollar (1999 = 1,30$) zugelegt und die Bedeutung des Euro als Anlagewährung ist gewachsen: Knapp 30% macht der Anteil des Euro im globalen Währungskorb aus – Tendenz steigend. Nicht gänzlich ausgeschlossen ist, dass der Euro-Club verkleinert wird, aber für ein Kern-Europa der ökonomisch führenden Länder bleibt der Euro garantiert. Spekulationen dagegen lohnen nicht.

Portugal als dritter »Sanierungsfall«

Dennoch hasten die EU-Regierungen von Krisengipfel zu Krisengipfel. Griechenland erhält eine Zinsreduktion für die aus dem 110-Mrd.-Fonds in Anspruch genommenen Kredite, Irland braucht für seine Banken zusätzliche Milliarden, soll aber erst die Unternehmenssteuern anheben, bevor auch hier die Zinslast gesenkt wird. Und noch vor den vorgezogenen Parlamentswahlen am 5. Juni soll Portugal unter den »Rettungsschirm« geparkt werden. Kreditrahmen ca. 80 Mrd., von denen der IWF ein Drittel, die Europäer etwa 54 Mrd. Euro tragen werden.

Wie Griechen und Iren auch hatte sich die portugiesische Regierung monatelang um Kredite aus der European Financial Stability Facility (EFSF) gedrückt – um letztlich doch den Finanzmärkten und deren Ratingagenturen nachgeben zu müssen. Für die Abnahme von Staatsanleihen im Gesamtvolumen von einer Milliarde Euro zahlte Portugal Durchschnittsrenditen von 5,1% bis 5,9%; noch Mitte März hatte die Rendite für die Placierung der einjährigen Titel bei 4,3% gelegen. Bei solchen Zinsbelastungen ist öffentliche Haushaltspolitik massiv eingeschränkt. Der Druck der internationalen Finanzmärkte auf die Regierung in Lissabon wurde noch dadurch verstärkt, dass die privaten portugiesischen Banken ankündigten, keine Schuldtitel des Staates mehr zu kaufen und auch die portugiesische Notenbank sich weigerte, weitere Staatsschuldenpapiere in die Bücher zu nehmen.1 Im Juni muss das Land eine weitere Anleihe in Höhe von 4,9 Mrd. Euro zurückzahlen. Die ersten Auszahlungen des Euro-Rettungsschirms und des IWF müssen daher bis zum 15. Juni erfolgen.

Die WählerInnen in Portugal können auf die Konditionen des IWF/EU-Kredits keinen Einfluss nehmen. Die sollen mit allen großen Parteien vor den Wahlen vereinbart und nach dem 5. Juni nicht mehr verändert werden können. Auf die weitere Zukunft des Landes hat der Souverän keinen Einfluss, das Wort von der durch Wahlen nicht mehr beeinflussbaren Parteiendemokratie bekommt hier – wie zuvor in Irland – bittersten Geschmack. Immerhin gehrt es nicht um »Peanuts«, sondern um soziale Grundentscheidungen und Grundrechte.

Vorangegangen waren harte Maßnahmen der sozialistischen Regierung zum Abbau des Haushaltsdefizits, etwa in Form von höheren Steuern, weniger Kindergeld, Kürzungen der Einkommen über 1.500 Euro im Staatsdienst und Einschnitten im Gesundheitswesen. Im vierten Quartal 2010 stieg die Arbeitslosenquote im ärmsten Land Westeuropas auf den lange unvorstellbaren Wert von 11,1%. Auf knapp 780 Euro beziffert das Nationale Statistikinstitut den durchschnittlichen monatlichen Nettolohn der Arbeitnehmer – bei zunehmender Einkommensungleichheit.

Was die »Männer in Schwarz« gegenwärtig in Lissabon verhandeln ist ein Austeritätsprogramm, das die Defizitquote auf max. 4,6% im nächsten und 2% im übernächsten Jahr senkt. Erneut stehen »Arbeitsmarktreformen« auf der Agenda, mit dem Ziel, Wettbewerbsschwäche durch Lohnkostensenkungen zu überwinden. Die Regierung soll zudem ein »ambitioniertes Privatisierungsprogramm« erarbeiten, um aus dem Verkauf von Staatsbesitz den Schuldenstand zu verringern. Ferner muss die Bankenlandschaft umgebaut werden; ein Teil des Geldes aus dem Euro-Rettungsschirm wird direkt in die Stützung dieses Sektors gehen. Mitte Mai soll das gesamte Maßnahmenpaket stehen. Dass trotz der drastischen Einschnitte die soziale Stellung der portugiesischen BürgerInnen gewahrt werden soll, ist nicht mehr als politische Lyrik.

Verlängerung des Schuldenmarathons

Portugal ist nicht Irland – eine Immobilienblase, wie auch im Nachbarland Spanien, hat es nicht gegeben. Portugal ist auch nicht Griechenland, denn die Staatsverschuldung ist deutlich geringer als dort. Portugal weist zwei zentrale Schwächen auf:

Erstens schwindende Wettbewerbsfähigkeit insbesondere gegenüber den großen Ökonomien Kerneuropas. Zwischen 1996 bis 2000 war die portugiesische Ökonomie bei niedrigen Zinsen und boomender Inlandsnachfrage im Schnitt um mehr als 4% pro Jahr gewachsen. In den letzten zehn Jahren betrug das durchschnittliche Wachstum nur noch weniger als 0,7%. Unter dem Druck von ständig verschärften Kürzungsoperationen verfinstert sich schließlich der Ausweg aus der Krise – die Wirtschaft schrumpft nicht nur in diesem, sondern allen Prognosen nach auch im kommenden Jahr. In Anbetracht von chronischen Leistungsbilanzdefiziten übersteigt Portugals Nettoschuld im Ausland bereits das Bruttoinlandsprodukt. Unter solchen Rahmbedingungen wird die Schuldenlast steigen und der Anteil des erwirtschafteten gesellschaftlichen Produkts, das sich die Finanzinstitute aneignen, nimmt zu.

Zweitens massive Verschuldung der privaten und öffentlichen Haushalte – allein die privaten Haushalte stehen mit rund 130% ihrer verfügbaren Jahreseinkommen bei den Banken im Minus. Zuletzt lag das Defizit bei 8,6% der Wirtschaftsleistung. In seinen Projektionen geht der IWF davon aus, dass die Schulden des Landes bis 2014 auf 100% des BIP steigen werden. Nimmt man eine derzeit vom Markt geforderte Verzinsung von 7% an, so müsste Portugal alleine für die Zinszahlungen jährlich ca. ein Sechstel aller Staatseinnahmen aufwenden. Rund 25 Mrd. Euro frisches Kapital wollte Portugal im laufenden Jahr aufnehmen. Bis zum Auslaufen des bestehenden Euro-Rettungsschirms im Juni 2013 werden es etwa 52 Mrd. Euro sein – nur für den Schuldendienst. Von den ausstehenden Schulden entfallen rund 70% auf klassische Staatsanleihen mit einer Laufzeit zwischen einem und 50 Jahren. 12% gehen auf Schatzanweisungen zurück, die eine maximale Laufzeit von zwölf Monaten aufweisen. Für Portugal deutet sich eine Wiederholung der griechischen und irischen Tragödie an: eine Verlängerung des Schuldenmarathon. Griechenlands Schuldenstand hat 130% des BIP erreicht, und der IWF schätzt, dass dieser auf 160-180% steigen wird, bevor die Schuldenlast zurückgeführt werden könnte. Ein Ausweg aus der Schuldenfalle sieht anders aus.

Gestärkter Stabilitätspakt

Die Ansteckungsgefahr ist geringer geworden, verkündet Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble – ein feiner Unterschied: nicht gebannt, sondern geringer geworden. EU-Kommissar Olli Rehn ergänzt den vordergründigen Optimismus: »Ich bin überzeugt, dass Spanien keine Finanzhilfe Europas braucht«. Rehn trat auch entschieden der Spekulation entgegen, dass Griechenland trotz des 2010 vereinbarten 110-Mrd.-Euro-Hilfspaketes nicht ohne einen Schuldenschnitt auskommen werde. Was spricht für diese Annahmen, die sich in den zurückliegenden Monaten immer wieder als irreal erwiesen haben?

Das offizielle Argument lautet: Mit dem Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) als nunmehr permanentem Krisenmechanismus werde die EU die Bedrohung durch wachsende Überschuldung ihrer Länder an der Peripherie verscheuchen. Der ESM wird Mitte 2013 den derzeitigen temporären Euro-Rettungsschirm (EFSF) ablösen – auf der Grundlage einer Änderung des Lissabon-Vertrags (»Verfassung« der EU). Wie der bestehende Schirm kann der ESM Euro-Staaten in Not unter strikten Auflagen mit Krediten (ausnahmsweise auch mit dem Kauf ihrer Staatsanleihen auf dem Primärmarkt) unter die Arme greifen, sofern die Stabilität der Euro-Zone als Ganze gefährdet ist. Das Geld leiht sich der Fonds auf dem Markt.

Der ESM wird von den Euro-Staaten mit einem Eigenkapital von 700 Mrd. Euro ausgestattet. Hiervon zahlen sie 80 Mrd. Euro ein, die restlichen 620 Mrd. Euro sind abrufbares Kapital und Bürgschaften. Die Beiträge der einzelnen Staaten richten sich nach ihrem Anteil am Kapital der EZB, mit einem Entlastungsfaktor für ärmere Staaten.

Der wichtigste Unterschied zum derzeitigen Rettungsschirm wird der Einbezug des privaten Sektors sein: Wird ein Staat als insolvent beurteilt, muss er mit seinen Gläubigern über eine Umschuldung (Verlängerung der Laufzeit, Stundung von Zinsen, teilweiser Forderungsverzicht) verhandeln, um ESM-Hilfe beantragen zu können. Zur Erleichterung solcher Verhandlungen werden ab Juli 2013 alle neuen, von Euro-Staaten begebenen Anleihen mit mehr als einjähriger Laufzeit eine »collective action clause« enthalten.

Mit dem ESM werden Instrumente gestärkt bzw. eingeführt, die die EU-Staaten und vor allem die Euro-Staaten zu einer »disziplinierteren« Finanz- und Wirtschaftspolitik anhalten sollen. Die Staaten haben sich im Grundsatz auf ein Gesetzgebungspaket zur Stärkung des Stabilitätspakts verständigt, das Leitplanken für die nationale Haushaltpolitik vorgibt. Neben den Staatsdefiziten wird künftig auch die Staatsverschuldung stärker berücksichtigt: Staaten, deren Schuldenstand den Referenzwert von 60% des Bruttoinlandprodukts überschreitet, sollen die Differenz zwischen dem tatsächlichen Stand und dem Referenzwert um einen Zwanzigstel pro Jahr reduzieren. Bei einer Verletzung des Stabilitätspakts werden zudem Sanktionen früher und schneller möglich als bisher, und sie sollen automatischer erfolgen: Neue Beschlussverfahren erschweren den Staaten die Zurückweisung von Sanktionsempfehlungen der EU-Kommission.

Der Euro-Plus-Pakt

Zum Gesamtpaket gehört weiter ein »Euro-Plus-Pakt«. Die Staats- und Regierungschefs bekennen sich zur Sanierung ihrer Haushalte, zum Abbau der Arbeitslosigkeit durch »Arbeitsmarktreformen« und zu wachstumsfördernden Reformen. Diese Grundsätze präzisierend sollen die Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen ausarbeiten und in ihre nationalen Stabilitäts- bzw. Konvergenzprogramme (mittelfristige Haushaltsplanung) und nationalen Reformprogramme übernehmen. Diese Programme, die der EU vorzulegen sind, bilden die Basis für die Erstellung der nationalen Budgets 2012. Die Übung soll künftig jedes Jahr im ersten (»europäischen«) Semester stattfinden und bei Abweichungen die Alarmglocke läuten lassen.

Der entscheidende Punkt des Euro-Plus-Plans besteht darin, tief in nationale Verteilungs- und Sozialsysteme hineinzuschneiden – und zwar im normalen Gang des politischen Alltagsgeschäfts, unabhängig von manifesten Krisenproblemen. Die »Logik«, nach der diese Schnitte vorgenommen werden, folgt allein einer Maxime: Wettbewerbsfähigkeit. Die wiederum wird geradezu klassisch »neoliberal« definiert, als habe es die Große Krise nie gegeben.

Beispiel Lohnpolitik: Löhne sollen sich »entsprechend der Produktivität entwickeln«; da von Preisausgleich keine Rede ist (Lohnindexierungen sollen gerade abgeschafft werden), sind Lohnsenkungen vorprogrammiert. »Lohnstückkosten (sollen) über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet und dabei mit den Entwicklungen in anderen Ländern des Euro-Währungsgebiets und in den wichtigsten vergleichbaren Handelspartnerländern verglichen werden« – womit Lohndumpingprozesse festgeschrieben werden dürften, schließlich gelten sinkende Lohnstückkosten im herrschenden (neoliberalen) Verständnis als Nachweis erfolgreicher Politik. Und um diese wiederum durchzusetzen, steht eine »Überprüfung der Lohnfindungssysteme« auf der Tagesordnung, womit der Verbetrieblichung der Tarifpolitik Vorschub geleistet wird – bei struktureller Überlegenheit des Kapitals auf dieser Ebene. Eine Vorbildrolle soll der öffentliche Sektor übernehmen. Dessen Löhne sollen für die »auf eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit gerichteten Anstrengungen im Privatsektor förderlich« sein.

Der gleichen Logik werden die Sozialsysteme unterworfen – insbesondere hinsichtlich des Schuldenstands »im Bereich Renten-, Gesundheitsfürsorge- und Sozialleistungssysteme«. Defizitabbau heißt hier nichts anderes als Leistungsabbau und weitere Privatisierungen, beispielsweise in der Gesundheitsversorgung. Dass die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf der Tagesordnung steht, ist bereits ein »alter Hut«: zum Zwecke der Rentensenkungen und zur Erweiterung der Anlagesphären für das Finanzkapital bei privaten Alterssicherungen.

Diese Maßnahmen werden die Binnenmärkte unter Druck setzen und damit – auch bei partiellen Verbesserungen von Wettbewerbsparametern – Stagnations- oder gar Krisentendenzen stärken. Was auf diesem Wege nicht passieren wird, ist eine Beseitigung der massiven Ungleichgewichte, die in Europa existieren. Aus einem einfachen Grund: Nach einem Jahrzehnt Wettbewerbsregime unter Euro-Bedingungen haben Länder wie Griechenland oder Portugal keine Exportindustrien mehr, mit denen sie via Kostensenkung schnellstmöglich neue Absatzmärkte erschließen und damit Rückschläge im Binnenmarkt überkompensieren könnten. Der Schuss geht nach hinten los.

Vor der Umschuldung?

Entgegen der von Politikern zur Schau getragenen Zuversicht ist die Schuldenkrise nicht eingehegt. Im Gegenteil – sie spitzt sich erneut zu. Die Herabstufung der irischen Staatsschuld um gleich zwei Bonitätsstufen auf nur noch kurz vor Ramschniveau ist ein Warnzeichen. Der weitere Anstieg der Verzinsung griechischer Staatsanleihen markiert eine beschleunigte Negativentwicklung.

Und Spanien? Mehr als ein Jahrzehnt lang galt Spanien als Musterschüler unter den EU-Staaten. Zwischen Mitte der 1990er Jahre und 2007 präsentierte das iberische Land regelmäßig traumhafte Wachstumsraten von durchschnittlich 3,5% pro Jahr. Der Aufschwung war vor allem einem ungezügelten und spekulativ aufgeheizten Immobilienboom geschuldet, der – zusammen mit einem starken Binnenkonsum – den Grundpfeiler des »spanischen Wirtschaftswunders« bildete. Noch betonen europäische Vermögensverwalter, dass sie keine Notwendigkeit eines Rettungspakets für Spanien sehen. Anders als Griechenland, Irland und Portugal werde das Land keine EU-Hilfen benötigen. Dennoch werden spanische Staatsanleihen als Asset-Klasse mit spitzen Fingern angefasst. China dagegen will weiter spanische Papiere kaufen.

Bundesfinanzminister Schäuble schließt offenkundig eine Umschuldung für Griechenland nicht mehr aus: Es müsse reagiert werden, falls eine für den Juni geplante Analyse ernste Zweifel an der langfristigen Tragfähigkeit der griechischen Schulden ergeben sollte. Allerdings könne bis 2013 eine Restrukturierung nur auf freiwilliger Basis geschehen. Erst nach diesem Datum, wenn der neue Rettungsmechanismus (ESF) in Kraft treten wird, sind auch unfreiwillige Maßnahmen denkbar.

Unklar ist allerdings, wie eine freiwillige Restrukturierung aussehen kann. Banken sind die wichtigsten Gläubiger Griechenlands. Da Banken Staatspapiere zumeist als langfristige Anlagen (statt als Handelsinstrumente) verbuchen und so nicht gezwungen sind, sie auf den Marktwert abzuschreiben, würden auf sie bei einer Restrukturierung neue hohe Verluste zukommen.

Es geht, wie sich im Rückblick auf ein Jahr europäischer Krisenpolitik zeigt, nicht mehr um die Rettung des Euro, als vielmehr um die Stabilisierung des europäischen Banken- und Finanzsystems, präziser um die Sicherung von Eigentums- und Schuldtiteln. Deutsche und britische Banken haben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zufolge gegenüber Irland ausstehende Forderungen von jeweils über 200 Mrd. $, französische gegenüber Griechenland in Höhe von über 90 Mrd. $ und spanische gegenüber Portugal solche von über 100 Mrd. $. Eine Umschuldung, an deren Kosten sich diese Banken und ihre Eigner beteiligen müssten, würde politisch und ökonomisch schwer beherrschbare Konstellation erzeugen. Es wachsen freilich die Zweifel, ob das hochverschuldete Griechenland seine Schulden künftig alleine bewältigen kann. Mehr und mehr bricht die Frage durch, ob eine Umschuldung des Landes nicht unvermeidlich sei.

Die Frage ist: Wann? Hinter der Regelung, dass Umschuldungen unter Beteiligung privater Gläubiger ab 2013 explizit vorgesehen sind, steckt die Erwartung, dass sich Banken, Fonds und Versicherungen bis dahin ihrer toxischen Papiere noch weitergehender entledigt und im laufenden Konjunkturaufschwung ihre Eigenkapitalbasis in Folge hoher Gewinne deutlich verbessert haben. Auch dies ist nichts anderes als die Formierung Europas nach den Verwertungsansprüchen der Finanzmärkte, die – jenseits auch von ihnen nicht steuerbarer Krisenprozesse – vorgeben, wie die Politik zu agieren hat: Wirtschaftspolitik, Fiskalpolitik, Verteilungspolitik, Sozialpolitik. Gibt es noch eine Steigerung?

Zerstörung der politischen Willensbildung

Wo Parlamente und aus ihrer Mehrheit gebildete Regierungen das Haushaltsrecht nicht mehr in Anspruch nehmen können, wird Politik zum Kasperletheater. Wie das nationale Budget aufzustellen ist, obliegt nicht der Entscheidung des demokratischen Souverän und der von ihm gewählten Repräsentanten, sondern wird in vermeintlichen Expertengremien der EU-Kommission und des Internationalen Währungsfonds bestimmt.

Doch selbst das ist nur die halbe Wahrheit. Die Vorentscheidungen werden von jenen Rating-Agenturen – und den maßgeblichen Finanzmarkt-Akteuren, denen sie eine Stimme geben – getroffen, die die politische Mehrheitsklasse unter den Schock der Krisenerfahrung 2008/2009 eigentlich »entmachten« wollte. Wessen Staatsanleihen demnächst auf »Ramschstatus« abgewertet werden, hat sich zügig als Bittsteller beim europäischen Austeritätsregime zu melden. Politik ist längst nicht mehr nur im nationalen Rahmen, sondern in Europa ins Schlepptau der Finanzmärkte geraten.

Gibt es da noch eine Steigerung? Offenkundig. Jürgen Habermas spricht von einer »Zäsur« (»Merkels von Demoskopie geleiteter Opportunismus«, in: Süddeutsche Zeitung vom 7.4.2011). Er meint damit die Installierung des von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy zunächst als »Wettbewerbspakt«, dann als »Pro-Euro-Pakt«, schließlich als »Euro-Plus-Pakt« titulierten Mechanismus. »Zäsur«, weil damit nicht nur jene von den Rating-Agenturen abgestraften Mitglieder des Euro-Clubs, sondern (bis auf vier) nahezu alle EU-Mitgliedstaaten auf intergouvernemental vorgegebene Kürzungs-, Deregulierungs- und Privatisierungspolitik selbstverpflichtet sind. Der rechtliche Status dieser Konstruktion bleibt wohlweislich im Ungefähren, würde, verpflichtender formuliert, wohl keiner verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten. Der normativen Macht des Faktischen tut das keinen Abbruch. Das Urteil, dass nationale Parlamente nur mehr in Brüssel und Washington gefasste Beschlüsse absegnen dürfen, »muss« – so Habermas – »jede demokratische Glaubwürdigkeit zerfressen«.

Damit ist der europäische Integrationsprozess am Ende in einer mit der Entscheidung über die Währungsunion beschrittenen Sackgasse angelangt. Der Euro hat weder die Vertiefung der realwirtschaftlichen Angleichung noch politische Verständigung jenseits von Erpressung vorangetrieben. In dieser Sackgasse sind keine Integrationsfortschritte zu erwarten, es sei denn, dass die »fehlenden Motivationen ... von unten, aus der Zivilgesellschaft selbst, erzeugt werden«.

Die Zivilgesellschaft ist in Fragen der Zukunft Europas allerdings in wachsendem Maße rechtspopulistisch zerfressen. Nicht in erster Linie von jenen, die im Geisteshorizont eines »geschlossenen rechtsextremen Weltbildes« auch alte Neonazis umwerben. Sondern von jenen »modernisierten« Rechtspopulisten, die sich als die eigentlichen Verteidiger sozialstaatlicher Ordnung verstehen – gegen vermeintliche »Modernisierungsprojekte« wie insbesondere die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bis zum 67. oder später mal zum 72. Lebensalter. Die politische Herausforderung besteht darin, dass jene Wahlerfolge in Europa feiern, die sich der sozialen Frage von Rechts stellen: Verteidigung eines Sozialstaates, der nach In- und Ausländern, Unterwerfung oder Verweigerung eines autoritären Arbeitsregimes etc. selektiert. Wenn »Europa« weiter macht wie bisher, wird die Berufung auf eine zivilisatorische Standards verteidigende Zivilgesellschaft schwer fallen.

Jürgen Habermas hat Recht: Die »Wiederentdeckung des Nationalstaates«, »demoskopiegeleiteter Opportunismus« und die Zusammenfügung einer »politisch-medialen Klasse« sind – unter deutsch-französischer Führung – Angriffswellen auf ein fortschrittlich zivilgesellschaftliches und sozial inkludierendes Europa. Habermas hat auch darin Recht, dass die spärliche Besetzung der Verteidigungspositionen eines sozialen Europa einem »Verdruss an politischer Unterforderung« der Befürworter eines »sozialen Europa« geschuldet ist.

Um das aufzubrechen, braucht es mehr Aufklärung. Nicht nur von Seiten zivilgesellschaftlicher Bewegungen wie Attac, BUND oder Food Watch, sondern jener Interessenvertretungen von sozialer Interessen wie Gewerkschaften, Arbeitslosen- und Sozialverbänden, die im Zentrum des Merkel-Sarkozy-Pakts stehen. Dem geht es allein um die Austarierung eines Wettbewerbsregimes. Ein auf den ersten Blick aussichtsloses Unterfangen: Wenn alle dem deutschen Wettbewerbsregime nacheifern, ergibt sich daraus ein Nullsummenspiel, woran dem deutschen Kapital nicht gelegen sein kann. Doch auf dem zweiten Blick macht das Sinn: Wettbewerbsüberlegenheit Europas gegenüber dem Gros des Weltmarktes. Technisch gesprochen ist dies nichts anderes als die Globalisierung der ursprünglich auf die Konkurrenz zu den USA gerichteten Wettbewerbsposition. Aber auch dieser süffisant als Lissabon-Strategie bezeichnete Weg ist gescheitert.

Das Ergebnis der Merkel-Sarkozy-Strategie sind Prekarisierung und Armut. Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft muss an diesen und an den demokratiepolitischen Eckpunkten erfolgen.

 

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Richard Detje Redakteur von Sozialismus.

1 Zugespitzt hat sich die Situation in den letzten Monaten, weil die geringe Kreditwürdigkeit des portugiesischen Staates sich auf die Banken übertragen hat. Obwohl die Solvenz der Großbanken laut Einschätzung der Nationalbank keinen Grund zur Besorgnis gab, sind sie mehr oder weniger vom Interbankenmarkt ausgeschlossen und können sich auch nur sehr begrenzt über die Emission von Anleihen refinanzieren. So sind sie gezwungen, ihre Liquiditätsbedürfnisse bei der EZB zu decken.