Lieber gesund und reich

Die neue Gesundheitsreform inDeutschland setzt verstärkt auf Wettbewerb und Eigenverantwortung als aufbezahlbare Gesundheitsleistungen für alle. 

 Gesundheitsprämie oder doch lieber Kopfpauschale –was klingt sozialverträglicher? Beide Begriffe beschreiben gehaltsunabhängigeVersichertenbeiträge, die sich nur im Detail unterscheiden und ein Novum in derFinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) darstellen würden. Obdies zulässig ist, darüber stritt die Regierungskoalition aus FDP und CDU/CSUwährend der letzten Wochen. Und überließ es Gesundheitsminister Philipp Rösler(FDP), „Kostenexplosionen” in der Gesundheitsversorgung und den vielfachkonstatierten „demografischen Wandel” zusammenzudenken und die gesetzlichenKrankenkassen finanziell aufzupeppeln. Die Zielvorgaben waren einerseits in denKoalitionsvereinbarungen, andererseits durch die beschrittenen Wege derKrankenkassen zu mehr Privatisierungvorgegeben. So beschreibt ein Papier vom Sommer 2010 bereits dieEckpunkte der Reform: „Wir brauchen eine Krankenversicherung, bei der dieLasten gerecht verteilt werden und die unabhängiger von konjunkturellenEntwicklungen ist. Wir werden die Voraussetzungen für mehr Transparenz undWahlmöglichkeiten für die Versicherten schaffen und die Eigenverantwortungstärken.”

Auf diesen beiden Sätzen baut die jüngsteGesundheitsreform auf und verkündet den Abschied auf Raten von einemumlagefinanzierten und auf paritätische Beteiligung basierenden Gesundheitssystem.Stattdessen setzt die Reform auf privatisierte, flexible und präventiveGesundheitsleistungen und führt eine kleine Kopfpauschale ein.

Im November 2010 präsentierte dasBundesgesundheitsministerium das neue Reformvorhaben, das zugleich ein Gesetzzur Finanzierung der Krankenkassen ist. Am 17. Dezember ging es durch denBundesrat, ohne dass es einer Zustimmung bedurfte, und trat am 1. Januar diesenJahres in Kraft. Neben Sparvorgaben für die Krankenkassen bricht das Gesetz miteinem Punkt des Solidarprinzips der Kassen, in die ArbeitgeberInnen undArbeitnehmerInnen bisher zu fast gleichen Teilen einzahlten. Der neueBeitragssatz von 15,5 Prozent wird nun zu einem Anteil von 7,3 Prozent durchdie ArbeitgeberInnen bestritten und zugleich unveränderbar „eingefroren”, wiees in der Reform heißt. Der Anteil der ArbeitnehmerInnen liegt bei 8,2 Prozentvom Bruttolohn. Weiterhin können die Krankenkassen Zusatzbeiträge in Form vonlohnabhängigen Pauschalen einheben, die mögliche Engpässe lindern sollen.

Wahlfreiheit und Wettbewerb. Gewerkschaften undOppositionsparteien kritisieren, dass die Lasten nur auf Seiten derArbeitnehmerInnen zu finden und vor allem Geringverdienende und RentnerInnenbetroffen seien. Aber auch, dass das Vorhaben, die Gesundheitskosten von denArbeitskosten zu lösen, um Arbeitsplätze zu sichern und auszubauen, in diefalsche Richtung laufe. Dieses Vorhaben unterschlage geradezu, dass „Arbeitkrank macht”, wie es im Positionspapier der Reformkommission„Bürgerversicherung statt Kopfpauschale. Für ein solidarischesGesundheitssystem der Zukunft” heißt. Die Kommission, bestehend aus demDeutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Wohlfahrtsverbänden, WissenschaftlerInnenund weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen erarbeitete Vorschläge, wieein kassenfinanziertes Gesundheitssystem bezahlbar gestaltet werden kann, undbezieht auch die Vorschläge von SPD und Grünen zu einer Bürgerversicherung mitein. Hierfür sollen die Bemessungsgrundlagen verbreitert und privat Versichertemiteinbezogen werden.

Auch Nicole Ramcke, Pressereferentin derTechnikerInnen-Krankenkasse, kritisiert „diese offensichtliche Klientelpolitik,die die ArbeitgeberInnenbeiträge nicht an die wirtschaftliche Situation anpasstund diese nicht in die Pflicht nimmt”. Aber sie ist froh, dass für dieses Jahrdie Finanzierung gesichert ist und sie ihren Versicherten keine Zusatzbeiträgeabfordern müssen. Im Gesetz selbst ist ein Sozialausgleich angelegt, der denVersicherten verspricht, dass Pauschalbeträge, die mehr als zwei Prozent ihresBruttogehalts ausmachen, zurückerstattet bzw. mit ihremKrankenversicherungsbeitrag verrechnet werden. Wem das dennoch zu teuer ist,der kann einfach die Kasse wechseln, schlägt Rösler vor. So sieht er denWettbewerb zwischen den Kassen gestärkt. Ebenso sei die „Wahlfreiheit” derVersicherten gegeben.

 

Bonuspunkte für gesunde Lebensführung. DieseWahlfreiheit besteht nicht nur entlang der Preise, sondern auch anhand desAngebots, denn das Gesetz beinhaltet auch weitere Schritte in diePrivatisierung der Kassenleistungen. Schon länger bieten die KassenZusatztarife an, etwa für Zahnersatz, homöopathische Behandlungen oder​Bonusprogramme. Nun sollen vereinfachte Kostenerstattungen, also Behandlunggegen Vorkasse, die gesetzlich Versicherten in die Nähe der privat Versichertenrücken. Von einer Drei-Klassen-Medizin spricht hier Karl Lauterbach,Gesundheitsexperte der SPD, in der nicht die Schwere der Krankheit über eine schnelle Behandlung entscheidet, sonderndie finanziellen Ressourcen.

Doch auch schon in den letzten Jahren verringertensich die kassenärztlichen Leistungen rapide. Zuzahlungen zu Sehhilfen fielenweg, Zahnfüllungen und Medikamente mussten teilweise oder gänzlich selbstfinanziert werden. Die Krankenkassen geben lieber Zuschüsse zu sogenanntenPräventionsangeboten: rauchfrei werden, sich bewegen und entspannen odervollwertig ernähren. Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) belohnt eine„gesundheitsbewusste Lebensweise” bzw. ein ebensolches Verhalten mitBonuspunkten, die je nach Tarif in Geld oder Sachwerten wie elektrischenZahnbürsten ausgegeben werden. Auch die Rückzahlung einer bestimmten Summe vonden Beitragszahlungen ist möglich. „Das Prinzip ist einfach: Für Ihre Teilnahmean DAKpro Balance wird Ihnen jedes Jahr eine garantierte Grundprämiegutgeschrieben. Zusatzprämien erhalten Sie für die Wahrnehmung vorgeschriebenerVorsorgeuntersuchungen, das Ausfüllen eines Gesundheitsfragebogens und guteGesundheitswerte. Zur Ermittlung Ihrer Gesundheitswerte werden einmal im Jahrdie Werte für Ihren Body-Mass-Index, Blutdruck, Blutzucker und IhrGesamtcholesterin erfasst.” So wirbt die Internetseite für den Tarif.

Flexibel und integriert. Solche Bonusprogramme fürgesundes Leben bieten mittlerweile alle Krankenkassen an. Daneben gewinnt derTarif der „integrierten Versorgung” an Bedeutung. Eine Behandlung, die quasials Paket medizinische Eingriffe, Rehabilitationsmaßnahmen und Beratungkoordiniert und vereinfacht. So ermöglicht etwa die TechnikerInnen-Krankenkassebei Gebärmutterkrebs die Behandlung im Dachauer Klinikum. „Eine schmerzfreieUltraschall-Therapie wird dort angewendet, um die Myome aufzulösen”, erzähltRamcke. Mit dieser Klinik hat die TechnikerInnen-Krankenkasse bzw. derenLandesfilialen Verträge abgeschlossen, um ihren Versicherten „mehr undspezielle Leistungen zu bezahlen, wenn sie den Zusatztarif der integriertenVersorgung wählen”.

Als spezielle geschlechtsspezifische Angebotemöchte Ramcke den Zusatztarif nicht verstanden wissen, denn die Angebote würdennicht pauschal, eher nach wissenschaftlichen Erkenntnissen erarbeitet. AuchMarktforschungsergebnisse ziehen die Kassen heran, um ihr Angebot anzupassen.In Kooperation mit privaten Versicherungsunternehmen bieten sie dann die neuenZusatztarife an, die günstiger sind als wenn gleich eine privateKrankenversicherung abgeschlossen wird, sagt Jörg Bodanowitz, Pressesprecherder DAK.

Auf diese Zusatztarife geht auch dieGesundheitsreform ein und flexibilisiert die Vertragslaufzeiten: Nur noch aufdrei Monate brauchen sich die Versicherten festlegen.

 

Ungleiche Gesundheitschancen. Studien über denZusammenhang von Armut, schlecht bezahlter Arbeit und Gesundheitszustand kenntdas Bundesgesundheitsministerium hingegen nicht, wie ein Fragenkatalog derLinken hervorbrachte. Wie die „taz” berichtete, „hatte sie über 200 Fragengestellt, von denen die Bundesregierung ein Viertel nur vage oder gar nichtbeantwortet hat. Vor allem, wenn Daten zur ungleichen Verteilung sozialer oderGesundheitschancen abgefragt wurden”.

Auch im Hinblick auf einen größer werdendenNiedriglohnsektor ist dieses Desinteresse bemerkenswert, aber nichtverwunderlich. Gerade die FDP appelliert an die Eigenverantwortung und somit andie eigenen Ressourcen, es sich leisten zu können – gesund zu werden und zu bleiben.Selber schuld oder unfähig mit der Freiheit umzugehen scheinen hingegendiejenigen zu sein, die einen Mangel an Ressourcen haben und somit ein höheresRisiko, krank zu werden und zu bleiben. Für Geringverdienende, Arbeitslose undRentnerInnen, die nicht in die Kategorie der konsumstarken „Best Ager” fallen,erschöpft sich die propagierte Wahlfreiheit in der Suche nach der Krankenkassemit den kleinsten Zusatzbeiträgen. Und auch für die Zukunft hat sich derGesundheitsminister schon einiges vorgenommen: „Die Schaffung von mehrWettbewerb auf der Einnahmenseite ist nur ein erster Schritt: Ziel ist es,weitere strukturelle Reformen im System anzugehen, die zu mehr Wettbewerb, mehrFreiheit für den Einzelnen und weniger Bürokratie führen.”