Der Aufstand, der seinen Namen nicht nennt

Die Rothemden in Bangkok

Die Revolte der Rothemden im Stadtzentrum von Bangkok war die längste und gewaltvollste politische Auseinandersetzung in der modernen Geschichte Thailands. Sie begann am 14. März 2010, als die Vereinigte Front für Demokratie und gegen Diktatur (United Front for Democracy and Against Dictatorship, UDD) zu einer Großdemonstration mobilisierte, um den Rücktritt von Premier Abhisit Vejjajiva und Neuwahlen zu erzwingen. Abhisit, der Wunsch-Premier der royalistisch-konservativen Eliten, kam an die Macht, nachdem im Dezember 2008 die Partei der Volksmacht (People’s Power Party) durch ein Urteil des Verfassungsgerichts aufgelöst wurde. Die UDD sieht darin einen weiteren Schritt in einer langen Reihe von Eingriffen der royalistischen Elite, die die politische Macht monopolisieren und vor allem die Rückkehr des Ex-Premier Thaksin verhindern will. Thaksin – ursprünglich selbst ein Ziehkind der Machteliten – hatte durch Sozial- und Investitionsprogramme eine so große Popularität erreicht, dass er in mehreren aufeinander folgenden Wahlen die absolute Mehrheit erringen konnte. Dadurch war er zu einer bedrohlichen Konkurrenz für die royalistisch-konservative Elite geworden, die ihn 2006 durch einen Putsch absetzte. Aus dem Exil unterstützt er seither die Opposition und avancierte trotz seines autokratischen Regierungsstils und schwerer Menschenrechtsverletzungen während seiner Amtszeit zu einer Symbolfigur für Demokratie. Die Strategie der UDD stützte sich auf die schiere Masse an Demonstranten, die sie nicht nur in Bangkok mobilisierte, sondern vor allem in den Provinzen des Nordens und Nordostens, die als Hochburgen der Thaksin-Anhänger gelten.

Die Regierung ignorierte die Proteste zunächst und hoffte, dass die Demonstranten aus Mangel an Ressourcen bald heimkehren würden. Unerwarteterweise verstetigten sich die Proteste – zunächst in einem friedlichen »Straßenfest für Demokratie«. Als jedoch am 10. April, knapp vier Wochen nach Beginn der Demonstra tionen, bei einem Zusammenstoß mit dem Militär über zwanzig Menschen ums Leben kamen und knapp tausend verletzt wurden, nahmen die Proteste eine andere Qualität an: Unter dem Eindruck der Gewalt und durch die Verhängung des Kriegsrechts für die Region Bangkok radikalisiert, besetzten die Rothemden Straßenzüge im Geschäftsviertel, erklärten sie zur »Roten Zone« und bauten Barrikaden. Wachen kontrollierten den Zugang zu den besetzten Gebieten. Was als polizeilich genehmigte Demonstration begonnen hatte, entwickelte sich zu einer Revolte, die über den Angriff auf das Gewaltmonopol den Staat direkt herausforderte. Es dauerte vier Wochen, bis nach gescheiterten Gesprächsversuchen und mehreren verstrichenen Ultimaten die Armee mit schwerem Gerät vorrückte, die Revolte niederschlug und die Rote Zone räumte.

Mit der Bilanz von über 80 Toten und etwa 1 500 Verletzten stellt die Revolte der Rothemden alle Demonstrationen früherer Jahrzehnte, die bislang als Meilensteine der thailändischen politischen Bewegungsgeschichte galten, in den Schatten: die Studentenunruhen von 1973, durch die die Militärdiktatur gestürzt wurde, die Studentenunruhen von 1976, deren blutige Niederschlagung die Rückkehr des Militärs und die Restauration der alten Eliten einläutete, sowie die Demokratiebewegung von 1992, die als Aufbegehren der Bangkoker Mittelschicht und als Durchbruch der Demokratie im Schwellenland Thailand gewertet wurde (kritisch: Hewison 1997; Somsak 1993). Folgt man der Modernisierungstheorie, treiben diese städtischen Bewegungen eine progressive politische Entwicklung voran, indem sie an symbolischen Orten der Macht die Eliten herausfordern (Missingham 2002, 1650; kritisch: Glassman 2010). Demgegenüber entsprach die Revolte von 2010 jenen Demonstrationen, mit denen das »Forum der Armen« seit Mitte der 1990er zur symbolischen Belagerung des Regierungssitzes nach Bangkok mobilisieren. Die Umstände und die Interpretation der Demonstrationen gibt jedoch Rätsel auf. Warum dauerte die Demonstration so lange? Weshalb breitete sie sich aus und wurde zur Stadtrevolte? Damit zusammen hängt die Frage, was die Regierung so sehr provozierte, dass sie die Armee gegen die Demonstranten einsetzte und damit ein seit den letzten großen Unruhen 1992 geltendes Tabu brach.

Wer sind die Rothemden?

Die Interpretation ist deshalb so schwierig, weil die soziale Basis der Rothemden, ihre Analysen und ihre Forderungen kaum Hinweise auf die Art des Konflikts geben. Landläufig werden die Rothemden als arme Bevölkerung aus den Provinzen im Norden und Nordosten charakterisiert, die von den (populistischen) Sozialprogrammen Thaksins profitierten und sich ihn zurückwünschen. Erste Studien zur sozialen Herkunft zeigen jedoch, dass die in der Revolte aktiven Rothemden sich kaum von den Unterstützerinnen und Unterstützern des Regierungslagers, den Gelbhemden (People’s Alliance for Democracy, PAD), unterscheiden.

Auch über die Gesellschaftsanalyse, die von den Rothemden auf den Bühnen und in ihrem Kampagnenmaterial vorgetragen wird, erscheint die Revolte nicht als Klassenkampf: Die Rothemden operieren mit Begriffen, die der thailändischen Feudalzeit entlehnt sind und bezeichneten sich als Unfreie (Phrai), die den Aristokraten (Amat) gegenüberstehen. Sie beklagen, dass die konservativ-royalistische Elite ein System der Aristokratie (Amatayathippatai) errichtet habe, das sich in doppelten Standards vor Gericht oder in der Einmischung des Militärs und des Thronrats in die Politik zeigt. Forderungen nach Umverteilung oder ähnliches werden jedoch nicht erhoben. Im Gegenteil: In der Kurzfassung der politischen Ziele der Roten, die als Handbücher verteilt und auf den Mitgliedsausweisen abgedruckt sind, ist das Bekenntnis zum kapitalistischen Wirtschaftssystem enthalten. Das Rot der Rothemden verweist also nicht auf sozialistische oder kommunistische Programmatik, die in der Tradition des thailändischen Anti-Kommunismus eine so heftige Gegenreaktion gerechtfertigt hätte.

Handelt es sich also um eine republikanische, bürgerliche Bewegung, die die Monarchie abschaffen will? In ihren Presseerklärungen und im Kampagnenmaterial fordert die UDD die Rückkehr zur Verfassung von 1997, die im Zuge des Militärputsches gegen Thaksin außer Kraft gesetzt wurde. Bezüglich der Monarchie betont sie, dass es lediglich um die Beschränkung der politischen Macht des Palastumfelds, namentlich des Thronrats und seinem Vorsitzenden Prem Tinsulanont geht. Zwar mischen sich unter die Rothemden auch Gruppen wie Rotes Siam (Daeng Siam), die offen republikanisch agieren. Von Seiten der UDD wird jedoch keine Forderung nach Abschaffung der Monarchie gestellt.

Anders als bei den maoistischen Aufständen in Kathmandu (Routledge 2010) können weder Sozialstruktur noch vorgetragene Forderungen der Rothemden die Dauer oder die Eskalation der Revolte in naheliegender Weise erklären. Unter Rückgriff auf Forschungen, die ausgehend von konstruktivistischen Raumtheorien Protestgeschehen anhand der gewählten Orte und die dort ausgetragenen politischen, sozioökonomischen und identitären Aushandlungsprozesse interpretieren (Nas/ Sluis 2000; Missingham 2002; Gupta/Ferguson 1997; Pile 1997; Thongchai 2010), möchte ich eine andere Argumentation verfolgen. Auf der Ebene der Worte gab die UDD m.E. keinen Anlass, als revolutionär – im Sinne einer Forderung nach Umsturz der bestehenden sozialen und politischen Ordnung – eingestuft zu werden. Das ist nicht verwunderlich, da eine Forderung nach der Abschaffung der Monarchie in Thailand nicht geäußert werden kann. Das Strafgesetzbuch stellt Majestätsbeleidigung unter Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren. Der entsprechende Paragraph wird seit Beginn der Unruhen im Jahr 2006 zur Einschüchterung der politischen Gegner und zu einer umfassenden Zensur des Internets und der Medien weidlich eingesetzt. Auf einer symbolischen Ebene artikulierten sich die Rothemden allerdings als klassenkämpferische monarchiekritische Bewegung, die von den royalistischen Eliten als maximale Provokation verstanden werden musste.

Orte des Aufruhrs: Bangkok vs. Provinz

Um die Symbolik der jüngsten Proteste zu verstehen, ist es hilfreich, sie von anderen gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen, die in Thailand nicht unbekannt sind, abzugrenzen. In den südlichen Provinzen an der Grenze zu Malaysia schwelt seit vielen Jahrzehnten ein ethnisch-religiöser Konflikt, der 2004 eskaliert ist und mittlerweile den Zustand eines Bürgerkriegs mit über etwa 4000 Toten erreicht hat. Anlass sind separatistische Forderungen, die von radikalisierten Teilen der muslimischen malaiischen Bewohner, die in den drei südlichsten Provinzen die Mehrheit stellen, gegenüber dem thailändischen Nationalstaat erhoben wurden. Sie beziehen sich auf das historische malaiische Sultanat Pattani, das 1902 Bestandteil des thailändischen Staates wurde und seither dem ökonomischen und kulturellen Assimilationsdruck der thailändischen Zentralregierung ausgesetzt ist. Auch wenn die Identität und die Organisationen der Aufständischen weitgehend im Dunkeln bleiben, trägt die Handschrift der Gewaltakte eine klare separatistische Sprache, da mit Schulen sowie Polizei- und Militärposten nur Orte angegriffen werden, die den thailändischen Nationalstaat repräsentieren. V.a. aber stehen religiöse Kultstätten im Zentrum der Auseinandersetzungen: Die Armee stürmte mit massiver Gewalt Moscheen, in denen sich Aufständische verschanzt hatten; die Separatisten wiederum greifen vereinzelt buddhistische Tempel an. Da die thailändische Staatsideologie in der Formel »Nation – Religion – König« zusammengefasst wird, lassen sich auch diese Gewaltakte als Angriff auf den Zentralstaat deuten. Dass es sich nicht um einen generellen Religionsstreit zwischen Buddhisten und Muslimen handelt, erkennt man am Ort der Anschläge: Die größte Anzahl von Muslimen lebt in Bangkok und dort wurde der Konflikt bisher nicht ausgetragen.

Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich die Bedeutung der Tatsache, dass die Rothemden Bangkok als ihren zentralen Protestort gewählt haben. Anders als die Mainstream-Medien suggerieren, handelt es sich nicht um einen Regionalkon- flikt, bei dem Arme aus dem Norden und Nordosten gegen die Zentralregierung mobilisieren. Der Norden war zwar einst ein eigenständiges Königreich (Lanna) und wurde ähnlich der südlichen Provinzen erst mit der Nationalstaatsbildung Ende des 19. Jahrhunderts in den thailändischen Zentralstaat integriert. Eine ähnliche Eigenständigkeit zeigt auch das nordöstliche Gebiet (Isan), das im 17. Jahrhundert dem Einflussbereich Laos’ abgetrotzt und später durch interne Kolonialisierung dem Staat einverleibt wurde. Bis heute ist die Sprache des Isan, die dem Laotischen ähnlicher ist als dem Zentralthailändischen, Umgangssprache der ländlichen Bevölkerung und viele Bewohner aus dem Nordosten haben Schwierigkeiten, Zentralthai zu verstehen. Infolge der internen Kolonialisierung und der Armut kam es seit jeher im diesem Landesteil zu Aufständen und Revolten: Historisch bedeutsam sind die Revolte der Heiligen Männer 1902, die den gesamten Isan erfasste und nur mit äußerster Gewalt niedergeschlagen werden konnte (Chattip 1984). Der Isan wurde später zum Rückzugsort der kommunistischen Partei Thailands, und war auch nach deren Auflösung in den 1980er Jahren Schauplatz verschiedener radikaler Bauernbewegungen. Laut Somchai (2006) und Pasuk/Baker (1995) hielt sich die Idee eines unabhängigen Isan bis in die 1940er Jahre. Trotzdem auch heute viele Nordost-Thailänder von sich scherzhaft behaupten, sie seien hundertprozentige Lao, sind jedoch keine sezessionistischen Tendenzen zu beobachten. Anstatt frühere Forderungen nach regionaler Selbstständigkeit aufzugreifen, praktizieren die Rothemden eine Protestform, die auf die radikalen Bauernbewegungen im Norden und Nordosten zurückgeht und ganz bewusst Bangkok als Zentrum der Macht adressiert. Ethnische Zuschreibungen der Rothemden als Lao und Lanna oder der Bangkoker als chinesisch spielen keine Rolle.

Das Forum der Armen und die symbolische Belagerung Bangkoks

Die Protestform, die arme Bevölkerung aus den nördlichen und nordöstlichen Provinzen für Demonstrationen nach Bangkok zu mobilisieren, geht auf das Forum der Armen zurück – einer Bewegung von Kleinbauern und Kleinfischern, die von großen Infrastrukturprojekten der Zentralregierung betroffen waren. Kleinbauern wurden z.B. durch die Ausweitung von Nationalparks oder Eukalyptus-Plantagen von ihrem Land vertrieben und Fischer durch den Pak Mun-Staudamm an der Grenze zu Laos ihrer Lebensgrundlage beraubt (Pye 2005; 2009). Die Mobilisierungsstrategie des Forums entstand vor dem Hintergrund der gescheiterten kommunistischen Aufstände in den 1970er und 1980er Jahren, die viele ländliche Bewegungen von Parteistrukturen und Flügelkämpfen ernüchtert zurückgelassen hatte. In ihrer Not griffen die Bauern zu radikalen Protestformen, lehnten eine parteiförmige Organisierung und eine umfassende Gesellschaftsanalyse im Sinne der früheren kommunistischen Partei jedoch ab und setzten auf konkrete Problemlösungen, die sie u.a. durch Blockaden an ihren jeweiligen Wohnorten einforderten. Die Mobilisierung nach Bangkok erfolgte laut Somchai (2006) eher zufällig: Die Versammlung der Kleinbauern im Isan (Small Scale Farmers’ Assembly of Isan) hatte die Erfahrung gemacht, dass Demonstrationen vor dem Sitz der jeweiligen Provinzregierung wenig Erfolge bringen, da die Befugnisse eines Provinzbeamten zu begrenzt waren, um ihre Probleme mit den staatlichen Großprojekten zu lösen. Daher begannen sie 1992 Märsche in Richtung der Hauptstadt zu organisieren, worauf die Regierung geradezu panisch reagierte und hochrangige Beamte per Hubschrauber zu den Demonstrationen fliegen ließ, um durch Verhandlungen ihr weiteres Vorrücken zu verhindern. Baker (2000) erklärt diese heftige Reaktion aus der symbolischen Bedeutung der Märsche: Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen der Unruheprovinz Isan – immer wieder gingen von hier Rebellionen aus, bei denen die Aufständischen drohten, Bangkok zu überrennen – interpretierte die Zentralregierung den Marsch auf die Hauptstadt als existenzielle Bedrohung. In den »Sturm auf Bangkok« waren jedoch explizit friedliche Symbole eingebettet, um ein militärisches Eingreifen abzuwenden: An der Spitze der Umzüge wurden Bilder des Königs und der Königin getragen und Frauen tanzten wie bei einer Prozession vorweg. Als sich jedoch herausstellte, dass auch die Zusagen der eilig angereisten Regierungsbeamten nicht eingehalten wurden, beschloss das Forum der Armen, das Protestniveau zu steigern, Bangkok symbolisch zu stürmen und den Regierungssitz zu belagern.

Durch diese Aktionen in den Jahren 1996 und 1997 wurde ein neues Paradigma von Protest etabliert: Bei seinem zweiten Anlauf gelang es dem Forum der Armen, 20 000 Menschen auf Lastwagen und Pick-Ups nach Bangkok zu bringen, wo sie auf einem freien Gelände gegenüber des Regierungssitzes ein Dorf der Armen aufbauten und 99 Tage lang aushielten (Prapart 1998). Die Anführer der in einer bewusst flachen Hierarchie organisierten Protestler bestanden darauf, nur mit dem Premier direkt zu verhandeln und die Ergebnisse in einem Vertrag schriftlich festzuhalten. Die Symbolik erschließt sich im Kontrast zu früheren Demonstrationen: Einschneidende Protestereignisse in Bangkok fanden gewöhnlich auf dem Königsfeld (Sanam Luang), dem symbolischen Machtzentrum im Herzen der Altstadt, am Großen Palast und am Tempel des Smaragd-Buddhas (Wat Phra Kaeo) oder, unweit davon entfernt, am Demokratiedenkmal auf der Ratchadamnoen-Allee statt. Diese Orte verweisen aufgrund ihrer zugeschriebenen oder historisch erlangten Bedeutung auf einzelne Facetten politischer Macht und wurden als Protestorte gewählt, um die Staatsmacht mit spezifischen politischen Forderungen zu konfrontieren. Die Demonstranten – Studenten von 1973, 1976 und die Demokratiebewegung von 1992 – verlangten hier eine Öffnung und Demokratisierung des politischen Systems.

Bei den Protesten des Forums der Armen stand jedoch ein ganz pragmatischer Appell an den Premier als Chef der Exekutive im Vordergrund. Einerseits stellten die Demonstranten die üblichen Partizipationsmöglichkeiten, die strukturell diskriminierend gegenüber der ländlichen Bevölkerung waren, radikal in Frage. Ihr Protest drückte aus, dass nur die räumliche Aufwartung am Regierungssitz Zugang zur Macht bietet. Gleichzeitig bestätigten sie jedoch den Premier, dessen Macht auf Wählerstimmen aus dem Nordosten beruhte. Und sie unterstrichen durch ihre Referenz an die Zentralgewalt implizit die Integrität des thailändischen Staates. Zwar wendete sich das Forum der Armen gegen Projekte, für die die Zentralregierung verantwortlich war. Im Unterschied zu den Aufständischen aus dem Süden taten sie das jedoch nicht in einem sezessionistischen Gestus, sondern appellierten an die Regierung als relevante und zuständige Stelle.

Missingham (2002) weist auf eine weitere Dimension der Proteste hin, die die Verquickung der räumlichen Kategorien Provinz und Stadt mit einer Kritik an sozialer Ungleichheit offenlegt. Seinen wirtschaftlichen Erfolg verdankt Thailand einem System, das lange Zeit auf interner kolonialer Ausbeutung basierte. Die Stadt Bangkok entwickelte sich aufgrund der Ausbeutung der Landbevölkerung und profitierte von ihren Erzeugnissen (Plantagenfrüchte, Zellstoff, Reis). Große Infrastrukturmaßnahmen schufen die Voraussetzungen für den Anbau und den Export dieser Produkte aus den ländlichen Gebieten. Vor diesem Hintergrund ist in Thailand die Klassenfrage in der Disparität zwischen Stadt und Land räumlich artikuliert. Die Errichtung eines Dorfes der Armen in der Stadt bedeutet daher eine Klassen-Konfrontation: Das Dorf, das durch die von der Stadt vorangetriebene Entwicklung in existenzielle Not geraten ist, konfrontiert die Städter mit der durch ihren Lebensstil hervorgerufenen Armut. Die Armen, die in den Provinzen räumlich, ökonomisch und sozial Marginalisierten, erheben Anspruch auf einen neuen Platz in der Gesellschaft. Sie bestehen auf einer Re-Konfiguration der Verhältnisse.

Die Revolte der Rothemden

Seit Beginn der Unruhen in Thailand 2006 wurden die Protestformen des Forums der Armen von verschiedenen Gruppierungen aufgegriffen, erfuhren jedoch in der Revolte der Rothemden eine spezifische Zuspitzung. Die Demonstrationen der UDD lesen sich in den ersten Wochen noch wie gewöhnliche Proteste für Demokratie: Ein Meer von Rothemden sollte an der Phan Fa-Brücke, dem Angelpunkt zwischen der Ratchadamnoen-Allee und dem Regierungssitz, aufmarschieren und die Souveränität zurückfordern. Dass die Proteste sich verstetigten, wurde als Zeichen gewertet, dass nicht nur die ländliche Bevölkerung das Anliegen der Roten unterstützte, sondern dass es sich bei den Roten um eine Bewegung handelte, die Stadt- und Landbevölkerung gleichermaßen umfasste, friedlich demonstrierte und feierte und den Alltag der Stadt aussetzte. Ähnlich wie seinerzeit das Dorf der Armen erschienen die überall in der Stadt campierenden Rothemden wie ein ausgedehntes Dorf der Phrai (Unfreien), das die Hauptstadt unterwanderte. Hier war jedoch kein neues Klassenbündnis zwischen Mittelstand und Armen entstanden, sondern es zeigte sich lediglich, dass die Wahrnehmung der Eliten, bei den Rothemden handele es sich um von Thaksin gekaufte Arme vom Lande, falsch war (Schaffar 2010). Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich die Rothemden und die antagonistischen Gelbhemden kaum in ihrer sozialen Zusammensetzung. Allein die Selbstbezeichnung der Roten als Phrai (Unfreien), die in den ersten Wochen der Proteste popularisiert wurde, deutet auf die Formierung einer kollektiven Identität hin.

Die Ausbreitung und Verstetigung des Protests war gleichwohl eine Provokation, denn die Forderung nach Wahlen und einer Neuordnung des Systems drohte allgemein zu werden. Die Regierung glaubte daher den Spuk beenden zu müssen, löste aber durch ihre militärische Aktion eine Gegenbewegung und Radikalisierung aus. Auch wenn der genaue Ablauf um die Vorfälle im Dunkeln liegen, spricht die Bilanz der Toten und Verletzten eine klare Sprache: Neben fünf Soldaten wurden über 20 Demonstranten getötet und die Soldaten – die erste Division der Armee, die als besonders gut ausgebildet und loyal gilt – mussten sich zeitweise zurückziehen. Die Tatsache, dass ausgerechnet am Demokratiemonument erneut Demonstranten durch die Armee starben, wie schon 1973, 1976 und 1992, wurde zum politischen Fanal.

Infolge der Eskalation verschanzten sich die Demonstranten hinter Barrikaden aus Bambus und Autoreifen und sperrten Rote Zonen in der Stadt ab, die sie durch selbstorganisierte Ordnungs- und Sicherheitsdienste kontrollierten. Die Radikalisierung der Bewegung drückt sich jedoch nicht allein in der Herausforderung des staatlichen Gewaltmonopols aus, sondern erschließt sich in vollem Umfang erst durch die Symbolik des Ortes, an dem die Rote Zone errichtet wurde: die Ratchaprasong-Kreuzung. Sie wurde zum ersten Mal zentraler Schauplatz des Protests. In der Presse wurde die Kreuzung als Geschäftszentrum Bangkoks dargestellt, doch gibt es mehrere Geschäftsviertel: etwa das »Chinesenviertel« am Rande der Altstadt, das seine Bedeutung weitgehend eingebüßt und an den Süden der Stadt abgetreten hat, wo sich um die Straßen Silom und Sathorn die meisten Vertretungen internationaler Konzerne und Banken befinden.

Die Ratchaprasong-Kreuzung ist weniger ein Geschäftszentrum als vielmehr das Zentrum des High-End-Konsums. Malls wie Siam Paragon oder Central World zählen zu den luxuriösesten Einkaufszentren der Welt, in denen sich nationale und internationale Stars der Mode- und Medienwelt bewegen und Heidi Klum Passagen ihrer Casting-Show drehen lässt. Die Brisanz in der Wahl dieses Protestortes liegt darin, dass das Luxuszentrum auf Land gebaut wurde, das in Besitz des königlichen Schatzamtes liegt, also quasi eine wirtschaftliche Einnahmequelle des Königshauses darstellt.

Das Schatzamt ist eine Institution, die Anfang des 19. Jahrhunderts geschaffen wurde, um durch Handel Geld für die Hofhaltung zu erwirtschaften. Es überstand zahlreiche politische Turbulenzen, wie etwa die Abschaffung der absoluten Monarchie im Jahr 1932, und gelangte seit den 1950er Jahren zu neuer Stärke. Bis heute hat es einen Zwitterstatus zwischen staatlicher Institution und privatwirtschaftlicher Korporation: Das Amt wirtschaftet wie ein Unternehmen, zahlt jedoch keine Steuern und ist nicht rechenschaftspflichtig. Gegenwärtig ist es als Holding organisiert, die das Vermögen des Königshauses in verschiedenen Unternehmungen verwaltet. Wichtige Säulen sind Siam Cement und die Siam Commercial Bank. Den größten Teil des königlichen Vermögens bildet jedoch der Landbesitz in Bangkok. Wegen der fehlenden Rechenschaftspflicht ist das Vermögen schwer abzuschätzen. Forbes kürte den König jedoch wiederholt zum reichsten Monarchen der Welt (Porphand 2008). Die Bedeutung des Schatzamts nahm infolge der Asienkrise 1997/1998 und der dadurch ausgelösten Umverteilung des thailändischen Kapitals noch zu. Vor der Krise war die thailändische Wirtschaft geprägt von einer Gruppe aus ungefähr sechs Konglomeraten, die nach der Art japanischer Zaibatsu oder koreanischer Chaebol um ein Handelshaus in Familienbesitz gruppiert waren. Durch die Asienkrise wurden die meisten dieser Konglomerate weit abgeschlagen und viele konnten sich bis heute nicht erholen. Das Schatzamt dagegen, das damals nur eines dieser Konglomerate darstellte, wurde ebenfalls hart getroffen, ging jedoch letztlich gestärkt aus der Krise hervor. Dass das Schatzamt heute eine zentrale Stellung in der thailändischen Wirtschaft einnimmt, liegt einerseits daran, dass es seinen Status als halbstaatliche Institution nutzen konnte, um von staatlichen Rettungsprogrammen maximalen Nutzen zu ziehen. Zum anderen nahm es die Krise zum Anlass, seine Geschäftsfelder neu zu strukturieren, wobei die Bewirtschaftung des Bodenbesitzes in Bangkok eine zentrale Rolle spielte: Konnten chinesisch-stämmige mittelständische Händler zuvor auf der Grundlage alter Pachtverträge für einen symbolischen Betrag ihr Geschäft auf königlichem Grund und Boden betreiben, so verlangte das Schatzamt nach der Krise höhere, der innerstädtischen Lage angemessene Mieten (Porphand 2008). Mitunter mussten Geschäftsleute ihre Häuser räumen, weil vom Schatzamt ein neues Investitionsprojekt für das jeweilige Viertel geplant war und oft handelte es sich hierbei um die Errichtung von großen Einkaufszentren.

Wegen des Paragraphen der Majestätsbeleidigung ist es unmöglich, das Geschäftsgebaren des Schatzamtes offen zu kritisieren. Aus Anlass der Bauprojekte am Suan Lum-Nachtbasar und im Zusammenhang mit den Planungen zum Central World Tower, einem riesigen Hotel- und Einkaufskomplex, der direkt an der Ratchaprasong- Kreuzung entstehen sollte, wurde jedoch erstmalig in der thailändischen Presse Kritik laut (Asia Sentinal, 1.3.2007). Sie entzündet sich auch deshalb an dem seit der Asienkrise aggressiveren Geschäftsgebaren, weil der König die »selbstgenügsame Wirtschaft« (sufficiency economy) als Ausweg aus der Krise propagiert hat. In seiner Geburtstagsrede im Dezember 1997 empfahl er der Bevölkerung, insbesondere der Landbevölkerung, sich vom konsumorientierten Lebenswandel abzuwenden und auf der Grundlage von Subsistenzwirtschaft einen genügsamen, vom Weltmarkt unabhängigeren Lebensstil zu pflegen. Dieses Paradigma mag in Punkten, an denen es sich mit Ideen der De-Globalisierung trifft, durchaus emanzipatorischen Gehalt im Sinne eines heterodoxen Entwicklungsparadigma haben und es wurde entsprechend von Akteuren der globalisierungskritischen Bewegung diskutiert (Chanida/Bamford 2009). Brisanterweise wurde es jedoch nach dem Putsch 2006 als wirtschaftliche Leitidee der royalistischen Regierung gegen Thaksin in Stellung gebracht und wurde so Teil der Ideologie der Gelbhemden bzw. der royalistischen konservativen Politik: Thaksin, der sich während seiner Amtszeit als CEO Thailands gerierte und mit einer aggressiven Wirtschaftspolitik die globalisierten Märkte erobern wollte, wurde nach dem Putsch als Kapitalist apostrophiert, der die ländliche Bevölkerung durch seine Konsumkredite und populistischen Programme auf einen falschen Entwicklungspfad geführt und damit u.a. für Stimmenkauf und Korruption anfällig gemacht habe. Diese Fehlentwicklung sollte die genügsame Wirtschaft korrigieren. Es handelte sich jedoch nicht nur um ein von städtischen Eliten entworfenes Paradigma, das an den ökonomischen Realitäten des ländlichen Raums vorbei ging (Walker 2008), sondern drückte einen doppelten Standard aus: Den Armen auf dem Lande wurde Bescheidenheit und Subsistenz gepredigt, während die Stadt selbstverständlich weiterhin einen vom Konsum internationaler Waren geprägten Lebensstil für sich in Anspruch nahm. Vor dem Hintergrund des Genügsamkeits-Paradigmas erschien das Geschäftsgebaren des Schatzamts vollends widersprüchlich, denn es waren ja gerade Investitionen in Luxusimmobilien und Einkaufs-Eldorados, mit denen es seine Gewinne steigern konnte.

Die Besetzung der Ratchaprasong-Kreuzung und das Ausrufen einer Roten Zone vermittelten auf symbolischem Weg eine klare Botschaft, deren Sprengkraft und Radikalität weit über die Einlassungen der Wortführer auf den Bühnen hinausreichte: Man besetzte Land, das vom königlichen Schatzamt zur Errichtung gigantischer Luxusgeschäfte genutzt wird, während die konservativ-royalistischen Eliten auf dem Land Bescheidenheit und Abkehr von Konsumismus predigen. Ähnlich wie beim Forum der Armen entfaltete sich hier eine radikale Symbolik und unterfütterte die Rede von Amat (Aristokraten) und Phrai (Unfreie) mit einer ökonomischen Kritik, die in Worten nicht artikulierbar gewesen wäre. Dadurch bekommt die Identität Phrai eine ökonomische und klassenkämpferische Dimension.[1] Zwar gehören die Demonstranten nicht unbedingt qua Herkunft zu den Armen vom Lande. Durch die Selbstbezeichnung als Phrai artikulieren sie jedoch an dem gewählten Protestort eine Kritik an den ökonomischen Verhältnissen, in denen das Schatzamt durch seine Verflechtung mit dem Staat eine zentrale Stellung im thailändischen Kapitalismus einnimmt. Im Zuge der Räumung der besetzten Zone haben die Rothemden diese Kritik noch einmal unmissverständlich klar gemacht: Bei den Brandstiftungen, durch die während und nach der Räumung über 30 Gebäude in Flammen aufgingen, handelte es sich nicht um wahllos in Brand gesteckte Gebäude, vielmehr ergaben sie ein Bild: Mit der Luxus-Mall Central World wurde ein zentrales Symbol der ökonomischen Macht des Schatzamts angegriffen, andere Gebäude an der Ratchaprasong-Kreuzung, wie die Luxus-Hotels am südlichen Rand, blieben hingegen verschont.

Fazit

Versucht man die Revolte in Bangkok im Frühjahr 2010 zu analysieren, ist man konfrontiert mit einer Reihe schwer interpretierbarer Kategorien: Die Träger der Revolte werden fast unisono als arme Landbevölkerung aus dem Norden und Nordosten bezeichnet, ohne dass sich diese regionale und soziale Zuschreibung in Umfragen aufrechterhalten lässt. Sich selbst bezeichnen die Demonstranten mit einer aus der Feudalzeit entlehnten sozialen Kategorie als Phrai (Unfreie), ohne damit Forderungen nach materieller Umverteilung zu verbinden. Durch die Symbolik des Protestorts erschließt sich jedoch die Kritik an ökonomischen Verhältnissen, die hier artikuliert wurde. Die konservativ-royalistische Regierung hat die Sprengkraft dieser Kritik verstanden und hat daher die Revolte kompromisslos niedergeschlagen. Die Zahl der Toten, die sie dabei in Kauf genommen hat, hat die symbolische Bedeutung der Revolte weiter aufgeladen. Die Ruhe, die seit der Niederschlagung herrscht und die nur durch den Ausnahmezustand und eine strikte Medienzensur aufrechterhalten werden kann, ist daher nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm.

Literatur

Asia Sentinal, »Thailand’s Royal Wealth«, 1.3.2007

Chanida Chanyapate, u. Alec Bamford, »On Recent Projects and Experiences of the Sufficiency Economy: A Critique«, in: Development Dialogue, 51. Jg., 2009, 143-56

Glassman, Jim, »›The Provinces Elect Governments, Bangkok Overthrows Them‹: Urbanity, Class and Post-democracy in Thailand«, in: Urban Studies, 47. Jg., 2010, H. 6, 1301–23

Gupta, Akhil, u. James Ferguson, Culture, Power, Place. Explorations in Critical Anthropology, Durham-London 1997

Hewison, Kevin, »Introduction: Power, Opposition and Democratization«, in: ders., Political Change in Thailand: Democracy and Participation, New York 1997, 1-20

Missingham, Bruce, »The Village of the Poor Confronts the State: A Geography of Protest in the Assembly of the Poor«, in: Urban Studies, 39. Jg., 2002, H. 9, 1647-63

Chattip Nartsupa, »The Ideology of Holy Men Revolts in North-East Thailand«, in: A.Turton u. S.Tanabe (Hg.), History and Peasant Consciousness in Southeast Asia, Osaka 1984, 111-34

Nas, Peter J.M., u. Reynt Jan Sluis, »Contained Student Protest. The Symbolic Meaning of Urban Space During the 1998 Crisis in Jakarta«, in: Journal of Social Sciences, 4. Jg., 2000, H. 2-3, 153-63

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Pasuk Phongpaichit u. Chris Baker, Thailand: Economy and Politics, Oxford 1995

Pile, Steve, »Introduction«, in: ders. u. M.Keith (Hg.), Geographies of Resistance, London-New York 1997, 1-32

Prapart Pintobtang, Kanmuang bon thong thanon 99 wan samacha khoncon le prawatisat kanduenkhabuan chumchon prathuang sangkhom thai [Politik der Straße: Die 99 Tage des Forums der Armen und die Geschichte von Demonstrationen und Protestversammlungen in der thailändischen Gesellschaft], Krik University 1998

Pye, Oliver, »Die Assembly of the Poor – thailändische Zapatistas?«, in: U.Hoering u.a. (Hg.), Globalisierung bringt Bewegung. Lokale Kämpfe und transnationale Vernetzungen in Asien, Münster 2009, 36-51

ders., Khor Jor Kor. Forest Politics in Thailand, Bangkok 2005

Routledge, Paul, »Nineteen Days in April: Urban Protest and Democracy in Nepal«, in: Urban Studies, 47. Jg., 2010, H. 6, 1279–99

Schaffar, Wolfram, »Bürgerkrieg in Bangkok«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 55. Jg., 2010, H. 6, 29-33

Somchai Phatharathananunth, Civil Society and Democratization. Social Movements in Northeast Thailand, Kopenhagen 2006

Somsak Kosaisuk, Labour against Dictatorship, Bangkok 1993

Walker, Andew, »Royal Sufficiency and Elite Misrepresentation of Rural Livelihoods«, Paper presented at the 10th International Conference on Thai Studies, 9-11 January, Thammasat University, Bangkok 2008

Thongchai Winichakul, »The ›Germs‹: The Reds’ Infection of the Thai Political Body«, http:// asiapacific.anu.edu.au/newmandala/2010/05/03/thongchai-winichakul-on-the-red-germs/, 30.6.2010

Die Printversion ist erschienen in:
Das Argument 289 (6/2010), »Die Stadt in der Revolte«



[1] Zur raum-theoretischen Diskussion von Identitätsbildungsprozessen im Zuge von sozialen Protesten vgl. Gupta/Ferguson (1997) und Pile (1997).