Über Hegemonie und Gewalt in der DDR

in: Das Argument 288 (4-5/2010), Gewalt und Hegemonie

Zwanzig Jahre nach dem Beitritt der DDR zur BRD ist die Geschichte der DDR noch immer heiß umstrittenes Territorium. Mit einer Vehemenz, die größer statt kleiner wird, kämpft der Mainstream des vereinten Deutschland gegen das, was er zum Popanz ›Verherrlichung der DDR‹ aufgebaut hat. Wann immer er einen ›Mangel an Kenntnissen‹ über die DDR beklagt, geht es ihm nicht um den vor allem im Westen des vereinten Landes weit verbreiteten Mangel an differenziertem Wissen über den 41 Jahre lang im Herzen Europas bestehenden, weltweit anerkannten und wirtschaftlich kooperierenden, keine Kriege führenden und in der UNO und ihren Spezialorganisationen tätigen Staat DDR, sondern einzig um Stasi und Mauer, Repression und Reisebeschränkungen, gipfelnd im Kampfbegriff des ›Unrechtsstaates‹. Hierin, meint der Mainstream, müssten vor allem jene belehrt werden, die das alles selbst erfahren haben - also jene, die in der DDR lebten und in so überraschender wie zu verurteilender Weise ihren Kindern und Enkeln davon erzählen. Aber der Mainstream bleibt mit seinen Anstrengungen erstaunlich erfolglos. »Die Hälfte der Ostdeutschen findet die DDR gut« titelte Welt online am 26. Juni 2009, worauf der Ost-Beauftragte der damaligen Bundesregierung Wolfgang Tiefensee (SPD) stereotyp konterte, »dass wir in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte nicht nachlassen dürfen«.[1]

Für das Begreifen des Urteils der Ostdeutschen wie auch für eine umfassende Untersuchung der DDR-Geschichte bieten die Überlegungen, die Wolfgang Fritz Haug im vorliegenden Heft zu Gewalt und Hegemonie anstellt, eine Fülle von Anregungen. »Als politisch befreiende oder gesellschaftliche Entwicklungschancen freisetzende generiert Waffengewalt massenhafte Zustimmung«, stellt Haug mit Bezug auf den Befreiungskrieg der Athener gegen die persische Despotie fest (47).[2] Gilt das auch für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) 1945-49 und den Beginn der DDR? »Gewalt und um Zustimmung werbende politisch-ideologische Projekte« seien »hegemonietheoretisch als komplementär-gegensätzliche Brennpunkte der Ellipse politischer Machtfundierung« zu fassen, und »ein Primat der Gewalt in diesem Begründungsverhältnis politischer Macht« deute »auf hegemoniale Schwäche eines Machtblocks« hin (48). Liegt hier ein Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung der DDR? Es gebe in der Frage nach der Hegemonie »nicht bloß den ›herrschenden Block‹ auf der einen und alle anderen auf der anderen Seite« (55). Schärft solche Einsicht den Blick für die Vielfalt der in der DDR im Widerstreit miteinander liegenden Interessengruppen - und zwar der inneren wie auch der westdeutschen, die formal gesehen äußere, in ihrer Wirkung aus vielerlei Gründen jedoch zugleich auch innere waren? Gramsci - so Haug - unterscheide »das hegemoniale Gruppensubjekt von seiner Klassenbasis und seinen näheren und ferneren Verbündeten oder zumindest Einbindbaren« und vertrete die Auffassung, dass »die herrschende Kerngruppe« den beiden letztgenannten Gruppen das »hegemoniale Opfer« schulde (56). Wird von hier aus der Umgang der Herrschenden der DDR mit der Arbeiterklasse nach dem 17. Juni 1953 begreiflich?

1. Die ›einfache‹ Erzählung

Die ›einfache‹ - nicht: simple, eher: stringente - Erzählung der DDR ist die von einem Machtblock, der stets nur die Interessen einer Minderheit vertrat und nur zu existieren vermochte auf den Pfeilern diktatorischer, willkürlich eingesetzter Gewalt, die zudem im Äußeren wurzelte: in der Macht der Sowjetunion. Die Dominanz des Machtblocks Sowjetunion-SED bzw. KPdSU-SED als Hegemonie zu bezeichnen hieße, Hegemonie im traditionellen Sinne als »Vorherrschaft« (Haug 2004, 3) oder treffender noch als »Hegemonismus« (Bergmann 2004, 30) zu setzen. Günter Schabowski, einst zum engsten Zirkel der SED-Führung zählend und sich heute als »unerbittlichen Antimarxisten« begreifend, hält die SED-Macht lediglich für eine »Leihmacht« (2009).[3] Helmut Bock, einer jener marxistischen DDR-Historiker, die nach 1989 selbstkritisch Bilanz ihrer Arbeit und ihrer Ansichten zogen und damit einen wichtigen, wenngleich wenig beachteten Beitrag zur Erarbeitung eines umfassenden DDR-Bildes leisten, sieht die Dinge ungleich differenzierter, lässt aber keinen Zweifel an den Mehrheits-Minderheits-Verhältnissen: Die Rote Armee »zerschlug die politische Macht des Hitlerfaschismus, zudem die ökonomische Macht des Großkapitals und der Großgrundbesitzer«, und »mit Hilfe ihrer Panzer, Stalinorgeln und Politkommissare begann objektiv eine Umwälzung, die subjektiv von einer Minderheit der Deutschen gewollt und ausgeführt wurde: von Männern und Frauen des antifaschistischen Widerstands in Deutschland, an den Weltkriegsfronten, im Exil. Und auch von Angehörigen jener Generationen, die in der Katastrophe ihres Landes und Volkes wie Phönix brennen mussten, um mit der dadurch gewonnenen Bewusstheit an der Wiedergeburt teilnehmen zu können.« (1992/2002, 219) Es begann 1945 eine Entwicklung, die »keine deutsche Volksrevolution, sondern eine ›Revolution von oben‹ war« und auf Menschen traf, die »stets diktatorisch regiert worden waren«: eine »Mehrheit von Gehorsamen, Anpassern und Marschierern, die [...] aus der zutiefst reaktionären Diktatur Hitlers unter die völlig entgegengesetzte Diktatur des revolutionären Antifaschismus und bald auch des sozialistischen Aufbaus gerieten. Sie haben gelebt und gearbeitet, den Riemen eng geschnallt und später merklich weiter«, aber »zum selbstbewussten Schöpfer ihres ›Arbeiter-und-Bauern-Staats‹, zu couragierten Einforderern der sozialistischen Demokratie wuchs ihre große Masse nie.« (Ebd.) Peter Weiss hatte Mitte der 1970er Jahre zum Verhältnis von Führenden und Geführten in diesem Prozess notiert: »Sie« - die aus dem antifaschistischen Widerstand gekommenen Führenden - »waren selbst im patriarchal[ischen] autor[itären] Geist erzogen worden und aufgewachsen, ihre politischen Begriffe waren von strengster Disziplin geformt, und sie hatten es jetzt mit Menschen zu tun, die UNTERTANEN waren. Jetzt frei, großzügig, offen, souverän aufzutreten, wäre unmöglich gewesen. So übertrugen sie alles Starre, Enge, Hierarchische, Phantasielose, Puritanische auf den Sozialismus, den aufzubauen sie nun endlich die Möglichkeit hatten - was ihnen ihr Werk von Anfang an trüben musste.« (1981, 643)

Was - so wieder Bock - nicht zu trennen ist von der »Last der gegebenen und überlieferten Umstände, die der sozialen Erneuerung Deutschlands nach dem Wendejahr 1945 auferlegt war«, und zwar »nicht nur durch das Erbe beider Weltkriege und das Fortleben ihrer ökonomisch-sozialen Triebkräfte, sondern auch durch eine ›realsozialistische‹ Tatsache: Die siegreiche Sowjetunion trug nicht den ›klassischen‹ Marxismus und nicht einmal den originären Leninismus - vielmehr den stalinschen Verschnitt derselben nach Deutschland.« (1992/2002, 220) Damit wurde »das stalinistische Partei- und Staatsmodell« im Entstehungsprozess der DDR »verbindlich«, und in ihm lebten die »genetischen Schäden« fort, die »vor und nach der russischen Oktoberrevolution von 1917 aus Theorie und Praxis der sozialistischkommunistischen Bewegungen wuchsen« (ebd.).

Bock greift auf und präzisiert für die DDR, was mit Trotzkis marxistischer Kritik am sowjetischen System einen ersten Höhepunkt erreicht hatte und über Djilas, Kuroń/Modzelewski und andere fortgesetzt wurde. »Die Bürokratie«, schreibt Trotzki 1936, »hat nicht nur die linke Opposition besiegt. Sie besiegte die bolschewistische Partei. Sie siegte über das Programm Lenins, der die Hauptgefahr in der Umwandlung der Staatsorgane ›aus Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft‹ erblickte«, und sie tat dies »nicht mit Ideen und Argumenten, sondern durch ihr eigenes soziales Schwergewicht. Das bleierne Hinterteil der Bürokratie wog schwerer als der Kopf der Revolution.« (1958, 94) Unter Stalin »versank [...] die Demokratie der Sowjets, Gewerkschaften, Genossenschaften, Kultur- und Sportorganisationen in die Vergangenheit. Über alles und alle herrscht uneingeschränkt die Hierarchie der Parteisekretäre. [...] Die G.P.U. wurde der ausschlaggebende Faktor im innern Leben der Partei.« (100) Und so, in frappierend deckungsgleicher Wiederholung, versanken unter der Hegemonie der sowjetischen Besatzungsmacht und der von ihr 1946 ins Leben gesetzten SED seit 1948 die politische und kulturelle Vielfalt des antifaschistisch-demokratischen Neuanfangs, die sozialdemokratische Säule und Tradition der Arbeiterbewegung, und nach sowjetischem Vorbild etablierte sich die Hierarchie der Parteisekretäre und das Ministerium für Staatssicherheit wurde zum »Staat im Staate«.

Milovan Djilas, dessen Diktum von der »neuen Klasse« - einer Klasse, formiert aus der »politischen Bürokratie«, deren Bewusstsein als Klasse »sich erst richtig nach ihrer wirtschaftlichen und physischen Machtentfaltung entwickeln« konnte, weil sie »im Leben der Nation noch nicht Wurzeln geschlagen« hatte, und deren Organisation, um diesen Prozess zu meistern, sich »durch besondere Disziplin [...] auf der Grundlage der gleichartigen philosophischen und ideologischen Ansichten, die für alle ihre Mitglieder bindend waren«, auszeichnen musste (1957/1976, 44f) - sich auch in der Entwicklung der DDR bestätigte, erinnert sich einer Aussage Stalins im Frühjahr 1945 »in intimer Gesellschaft«, wonach »im modernen Krieg« anders als in früheren Kriegen »der Sieger den Besiegten sein System aufzwingen« werde, und einer weiteren vom Februar 1948, wonach »die Westmächte [...] aus Westdeutschland eins ihrer eigenen Länder machen [werden] und wir« - die Sowjetunion - »aus Ostdeutschland eins der unsrigen«. Das sei »unvermeidlich« (190). »Unvermeidlich« war in dieser Logik, dass der von Jacek Kuroń und Karol Modzelewski 1965 für Polen getroffene Befund, »die herrschende Partei« habe »das Monopol der Macht in Händen« und »die Arbeiterklasse« sei im Zuge der Lenkung der Gewerkschaften durch die Partei »ihrer Organisation, ihres Programms und ihrer Mittel zur Selbstverteidigung beraubt« worden (1967, 35f), zu einem den gesamten sowjetischen Einflussbereich betreffenden werden musste. In der DDR wurde das Machtmonopol der herrschenden Partei - der SED - in einem spezifischen Mehrparteiensystem mit CDU, DBD (Demokratische Bauernpartei Deutschlands), LDPD (Liberal-demokratische Partei Deutschlands) und NDPD (National-demokratische Partei Deutschlands) realisiert, das man mit Oskar Niedermayer als »nichtkompetitives Hegemonialsystem« bezeichnen kann, das mit der Verankerung der »Hegemonie der SED« in der Verfassung von 1968 zementiert wurde und in dem durch die Erstellung von Einheitslisten zu den Volkskammer- und Kommunalwahlen »eine Gefährdung der führenden Rolle der SED ausgeschlossen« war (2001, 78).

Als Mitte der 1970er Jahre die italienischen Kommunisten in der Gramsci- Debatte ihren kritischen Blick auf die Länder des Staatssozialismus schärften, stellte Pietro Ingrao fest, dass die dort geübte Praxis, »dem Klassenantagonisten von vornherein die politische Ausdrucksmöglichkeit abzusprechen, ihn prinzipiell von den repräsentativen Organen, in denen sich der allgemeine politische Wille bildet, auszuschließen«, zur »Zerstörung von Freiheitsrechten« führte, »die später schwer auch auf der Beteiligung der Arbeiterklasse und anderer Volksschichten an der politischen Willensbildung gelastet hat«. Er sah einen Zusammenhang zwischen dieser Last und der Repression durch die Inhaber des Machtmonopols: »Je schwächer [...] diese Beteiligung war, umso mehr tendierte man dahin, zur Despotie zu greifen, um der Widersprüche und der Krise [...] Herr zu werden.« (1978, 136)

Soweit die ›einfache‹ Erzählung. Sie ist schlüssig und so mannigfach untermauert, dass sie nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden kann. Aber sie lässt dennoch viele Problemstellungen aus. Die Frage nach der Hegemonie im Sinne Gramscis als »Führung in der Kultur, Moral und Weltanschauung«, in der »der Widerspruch zwischen der Praxis und der Theorie überwunden« wird (Gruppi 1977, 97), als »konsensuale, intellektuelle und moralisch-ethische Führung, die in der ›Zivilgesellschaft‹ immer wieder durch partielle aktive Einbindung der Subalternen als Grundlage der Kompromissbildungen verteidigt und errungen, aber auch verhandelt und in Frage gestellt wird« (Adolphs/Karakayali 2007, 123; vgl. Gef, H. 1, §44, 101ff), findet in ihr keinen angemessenen Platz.

Das Ende der ›einfachen‹ Erzählung, das ein abruptes war, weil es im Zusammenbruch des Machtmonopols der SED und damit der DDR bei gleichzeitigem Zusammenbruch des Machtmonopols der Sowjetunion bestand, sagt etwas über den Machtverlust bei den einen und den Hegemoniegewinn bei den anderen. Es legt nahe, die Hegemonieproblematik in der DDR zeitlich gegliedert und - die ›neue Klasse‹ als Hegemon gesetzt - mit dem von Gramsci »durchgängig« gewählten »Blick auf sozial-emanzipatorische Handlungsfähigkeit, also vom Standpunkt der subaltern Gehaltenen« zu untersuchen (Haug 2004, 1). Was die Art des Endes betrifft, so hatten Kuroń und Modzelewski schon 1965 die These aufgestellt, dass erstens eine Revolution gegen die Bürokratie bzw. ›neue Klasse‹ unvermeidlich kommen, zweitens diese Revolution die einer »erdrückenden Mehrheit gegen eine Minderheit« sein und drittens »nicht unbedingt die Form des bewaffneten Kampfes annehmen« werde, denn sie werde »begleitet« sein »von der Krise der politischen Macht und dem Zerfall des Zwangsapparates« (1967, 38). So ist es gekommen. Und was ging dem an Hegemoniegewinn der Subalternen voraus?

2. Die ›verschlungene‹ Erzählung

Die ›verschlungene‹ Erzählung fragt nach jenen Momenten in der Geschichte von SBZ und DDR, in denen der Machtblock Hegemonie im Sinne von »konsensualer, intellektueller und moralisch-ethischer Führung« besaß. Als erster dieser Momente verdient die Zeit von Mitte 1945 bis 1947/48 Beachtung. Auch wenn Bocks Darstellung, wonach sich nur eine Minderheit der Bevölkerung in der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung engagierte, nicht in Frage steht, ist unübersehbar, dass die in der SBZ 1945 sich wieder oder neu konstituierenden Parteien KPD, SPD, CDU und LDPD mit ihrer jeweiligen Programmatik erstens einen Konsens mit den Grundsätzen und Direktiven der Alliierten herstellten und zweitens in ihren Grundsätzen und Zielen darüber hinaus zu einem ›Block‹-Konsens fanden. Übereinstimmende Anerkennung fand der zwischen den Alliierten bestehende Konsens darüber, dass Deutschland für immer als möglicher Kriegsgegner auszuschalten sei, die NS-Führer vor ein Kriegsverbrechergericht gestellt werden müssten, öffentliche Ämter und verantwortliche Posten in der Wirtschaft von Nazis zu säubern und alle faschistischen Gesetze aufzuheben seien, faschistische Propaganda unter Strafe gestellt gehöre und das Gerichtswesen umgestaltet werden müsse. ›Block‹-Gemeinsamkeiten erwuchsen aus den »Erfahrungen und Lehren aus der Zersplitterung und dem Niedergang der Parteien in der Weimarer Republik«, den »Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus dem antifaschistischen Widerstandskampf « sowie aus der »Erkenntnis [...] der Nachkriegszeit, dass keine Partei oder Organisation allein in der Lage war, einen Ausweg aus der Katastrophe zu finden« (Bednareck 1994, 225). Die Forderung nach »vollständiger Überwindung aller Überreste des Hitlerregimes« bei der KPD, nach »völliger Beseitigung aller Reste faschistischer Gewaltherrschaft« bei der SPD, nach »Austilgung« von allem, »was die Millionen Blutopfer und das ungeheure Elend verschuldet hat«, bei der CDU, nach »Beseitigung von Faschismus und Militarismus« bei der LDPD; weiter das Eintreten für die »Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes« bei der KPD, die programmatische These »Demokratie in Staat und Gemeinde, Sozialismus in Wirtschaft und Gesellschaft« bei der SPD, die Bereitschaft der CDU zur »Verstaatlichung der Bodenschätze und Schlüsselindustrien« bargen »Ansätze eines parlamentarischen Parteienstaates«, in dem der antifaschistisch-demokratische Block als ein »im Konsens handelndes Mehrparteiensystem wirken sollte« (226ff).[4] Entnazifizierung, Bodenreform und der Aufbau neuer Staatsorgane waren Eckpfeiler dieses - freilich ohne die Besatzungsmacht Sowjetunion nicht denkbaren - Zusammenwirkens.

Die Diskussion um die Hegemonie in der Anfangsphase der SBZ hat in jüngster Zeit der Christ und bürgerlich-humanistische DDR-Philosoph Günter Wirth mit einer Arbeit »Über die intellektuelle Vorgeschichte der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik« bereichert. Er verdichtet darin eigenes Erleben und umfassendes Quellenstudium zur Auffassung, dass »in der Atmosphäre der ersten Monate nach der Zäsur« des Mai 1945 »allgemein anerkannt« gewesen sei, »dass die Arbeiterparteien (und gleichzeitig ihr theoretisches Gerüst in Gestalt der Lehren von Marx und Engels) wie selbstverständlich eine hohe Anerkennung fanden (nicht zuletzt angesichts der von ihnen gebrachten Opfer)« (2010, 313). Wirth zitiert den damaligen Rektor der leipziger Universität Hans-Georg Gadamer, der 1947 nach Frankfurt/Main wechselte, aus der Leipziger Zeitung vom 12. Dezember 1946 mit den Worten: »Dass wir in ein Zeitalter eingetreten sind, in dem die Arbeiterklasse ihren politischen Führungsanspruch durchgesetzt hat, ist eine Erkenntnis, die heute von niemandem mehr geleugnet werden kann«. Er verweist auf Jakob Kaisers Überlegungen zu einem »Sozialismus aus christlicher Verantwortung«, stellt diese in einen Kontext zu den Anfang 1946 »auch von führenden Politikern von KPD und SPD im Hinblick auf den damals noch diskutierten [sic!] Vereinigungsprozess [zur SED; W.A.]« erörterten »Modellierungen von Sozialismus und Demokratie«, die »insofern als brisant erschienen, als sie unter der Fragestellung liefen: ›Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?‹« Dies verbindet er mit den am 9. September 1947 ebenfalls in der Leipziger Zeitung erschienenen Überlegungen des Kulturbund-Protagonisten Ernst Richert zur Notwendigkeit der Sicherung der »45er Bastionen«, d.h. eines »Verständnisses des Sozialismus, das von einem dogmatischen weit entfernt war: ›Es ist der Sozialismus der letzten Chance [...], dem auch aus dem bürgerlichen Lager im klaren Bewusstsein der Unwiederbringlichkeit verlorener Wirtschafts- und Sozialformen immer mehr Menschen [...] zustimmen. Es ist ein unpathetischer, ein uneschatologischer Sozialismus, der immer noch auf seine literarische und selbst seine ideologische Ausprägung wartet.‹« (313ff)[5]

Die Liste der von Wirth zu Zeugen der Hegemonie der Idee eines sozialistischen Neuanfangs herbeigerufenen Intellektuellen ist lang. Sie beginnt mit Heft 1 der kulturpolitischen Monatsschrift Aufbau im September 1945, das er als »das Dokument des intellektuellen Gründungsprozesses einer (noch virtuellen und jedenfalls gesamtnationalen) Deutschen Demokratischen Republik« herausstellt (310). Versammelt sind dort Johannes R. Becher mit »Deutsches Bekenntnis«, der berliner Philosophieprofessor jüdischer Abstammung Paul Hofmann mit »Mitverantwortung «, Thomas Mann mit Auszügen aus seinem Vortrag »Über den kommenden Sieg der Demokratie«, Ferdinand Friedensburg - »der Intellektuelle und Verwaltungsmann aus dem Umfeld der alten Deutschen Demokratischen Partei und 1945 Mitbegründer von CDU und Kulturbund« - mit einer Entmythologisierung der ›Hindenburglegende‹, Ernst Fischer mit einem Porträt des »Siegers von Leipzig« Georgi Dimitroff und - zeigend, »dass hier Ost und West im Blickfeld sind, wenn es um neue Öffnung zur Welt geht« - Alfred Kurella mit »Dobroljubow als Kritiker«, der berliner Anglist Walter F. Schirmer über James Joyce und den englischen Roman sowie ein Text von Paul Valéry über die »Politik des Geistes« (310f). Darüber hinaus erinnert Wirth an Ernst Niekisch mit Deutsche Daseinsverfehlung (1946), Alexander Abusch mit Irrweg einer Nation (1945), Heinrich Mann mit Ein Zeitalter wird besichtigt (1946), an Wolfgang Harich, Paul Rilla, Victor Klemperer mit LTI (Lingua Tertii Imperii), dessen Erscheinen 1947 »ein literarisches und kulturpolitisches Ereignis« darstellte, Ricarda Huch und Günther Weisenborn (317f).

Genug. »1948 war [...] - nach der Kominform-Gründung - klar, dass es für die von den Sowjetarmeen befreiten bzw. okkupierten Länder nur den ›gesetzmäßigen‹ Weg zum Sozialismus geben würde.« (316) Damit war »nach der Zäsur von 1945« ein »neuerlicher Einschnitt« erfolgt, mit der die oben genannten »Aspekte der Wandlung und Neuordnung [...] in eine Klemme« gerieten, »vor der eben nicht allein 1945 stand, sondern vor allem auch 1948« (316f). Mit anderen Worten: Die Hegemonie im Sinne von »konsensualer, intellektueller und moralisch-ethischer Führung« versank im Hegemonismus des Machtblocks. Die SED - »im Gründungsjahr 1946 noch keine stalinistische Partei«, wohl aber »durch das Anknüpfen an nichtdemokratische Traditionen der KPD und auch der SPD« in den »Chancen zur Entfaltung der innerparteilichen Demokratie bereits von Anfang an stark eingeschränkt« (Malycha 1994, 201) - wurde 1947/48 zu einer »Partei neuen Typus« mit absolutem Machtanspruch umgewandelt. Ein Vorgang, der freilich untrennbar mit der in Ost und West hegemoniale Wucht erlangenden Politik und Ideologie des ›Kalten Krieges‹ verbunden ist und dessen Bewertung ohne Berücksichtigung dieses Zusammenhangs einseitig bleibt.

Nicht grundlos verweist Wirth allerdings darauf, dass die »Aspekte der Wandlung und Neuordnung« 1945-47 ab 1948 nicht »ungültig und uneffektiv« wurden (2010, 316). Elemente davon lebten fort, wurden später phasen- und themenweise von der SED-Führung aufgegriffen und wiederbelebt und gehörten zum großen, widerspruchsvollen und zerklüfteten Gefüge, aus dem heraus Zustimmung zur DDR und ihrem Weg hegemoniale Kraft erlangte.

Hat sie das je? Hat es, mit Haug gesprochen, in der »Ellipse politischer Machtfundierung « je ein Primat der »um Zustimmung werbenden politisch-ideologischen Projekte« gegenüber der Gewalt gegeben? Eine Antwort fällt auch deshalb schwer, weil es bis in die 1960er Jahre hinein keine Umfragen gab. Seitdem jedoch fanden solche statt, und mit Helmut Meier hat sich 1994 ein intimer Kenner dieser Umfragepraxis mit bemerkenswerten Daten zu Wort gemeldet.[6] Meier zufolge müsse bei der Auswertung der Umfrageergebnisse »selbstverständlich« berücksichtigt werden, »dass Anliegen, Fragestellung und Methodik dem Ziel unterworfen waren«, die SED-Parteiführung »mit Material zu bedienen, das geeignet war, die bestehenden Verhältnisse zu festigen und auszubauen«, und dass daher »insbesondere« nach »Indizien« gesucht wurde, »die für eine Akzeptanz der bestehenden Verhältnisse und der betriebenen Politik sprachen« (1994, 275). Damit sei »ohne Frage das Spektrum der Antwortmöglichkeiten hinsichtlich kritischer, geschweige ablehnender oder gar oppositioneller Haltungen beschnitten« worden. »Dennoch«, so Meier weiter, »fehlten solche Indikatoren in keiner Untersuchung«, und es könne als sicher gelten, »dass die Mehrheit der Befragten sich in der Regel nicht nach dem Motto verhielt, ein den Forschern oder der Obrigkeit genehmes Bild entstehen zu lassen« (ebd.). 1969 ergab eine Umfrage, dass etwa 60 % der Befragten die DDR als ihr Vaterland bezeichneten und sich auch für die »Begründung« entschieden, dass die DDR »aus dem Kampf der Arbeiterbewegung erwachsen sei und sich im Einklang mit dem geschichtlichen Fortschritt befinde« (277). Auch 1983 stimmten etwa 60 % diesem Grundverständnis zu (280). Ein Zusammenhang mit spür- und absehbaren Verbesserungen im alltäglichen Leben ist unverkennbar. Meier weist mit Recht darauf hin, dass auch die Tatsache, dass der tiefe Einschnitt Mauerbau keine »generelle Destabilisierung der DDR« nach sich zog, mit diesen alltäglichen Lebensbedingungen zu tun hatte. Nicht überall in der DDR gab es jenen »schmerzlichen Eingriff in familiäre Bindungen und gewohnte Lebensumstände« wie v.a. in Berlin und seinem Umland, und weil die Fluchtwelle, die Schmälerung des ohnehin knappen Warenangebots durch die höhere Kaufkraft der zehntausenden ›Grenzgänger‹ und die schwunghafte illegale Ausfuhr hochwertiger Versorgungsgüter und Nahrungsmittel nach Westberlin für viele Nachteile hatte, wurde die »Unterbindung« dieser Erscheinungen »durchaus begrüßt« - diese Haltung verstärkte sich noch, als nach 1961 die Wirtschaftslage schrittweise verbessert wurde und eine »spürbare Entkrampfung der politischen Atmosphäre« einsetzte (273).

Freilich muss bei der Bewertung der 60-Prozent-Zustimmungsrate bedacht werden, dass bis 1961 etwa zweieinhalb Millionen Menschen ihre Nichtakzeptanz der Hegemonie des DDR-Machtblocks durch Abwanderung in die BRD zum Ausdruck gebracht hatten, dass zu ihnen »die konsequentesten Gegner« gehörten, die damit als »Unruhepotenzial« (272) wegfielen, dass diese Entwicklung - wenn auch in ungleich geringerem Umfang - sich auch nach dem Mauerbau fortsetzte und der Machtblock durch Abschiebung derjenigen, die sich seinem Druck nicht beugen wollten, ein zusätzliches Ventil zum Abfluss der seine Hegemonie beschneidenden Kräfte öffnete.

Andererseits wurde die hegemoniale Wucht des ›Kalten Krieges‹ und die in diesen eingebetteten tatsächlichen Kriege (Korea, Suez-Krise, Vietnam, die Nahost- Kriege 1967 und 1973) wie auch die Niederschlagung von Befreiungsbewegungen in Lateinamerika und Afrika durch die imperialistischen Staaten zu einer Quelle von Zustimmung zur Hegemonie des DDR-Machtblocks. Angst vor einer Zuspitzung der Lage wie in Polen und Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 und ein sich daraus ergebendes ›Dreinfinden‹ beträchtlicher Mehrheiten waren die eine Seite, eine weit verbreitete Solidarität mit dem als ›Bruderland‹ apostrophierten und oft auch empfundenen Vietnam, mit Kuba und mit dem Sozialismusversuch in Chile 1970-73, dessen Beendigung durch einen brutalen Putsch die zuweilen schon nicht mehr geglaubte Aggressivität ›des Imperialismus‹ bestätigte, die andere.

Schließlich - und vielleicht vor allem - gab es viele Alltagserfahrungen, die als gut und angenehm empfunden wurden und - ohne dass sie stets mit einem umfassenden Ja zum Sozialismus verbunden gewesen wären - in der Summe Zustimmung zum hegemonialen Projekt »Realsozialismus« sicherten. Diese Erfahrungen leben noch heute fort und veranlassen die Hälfte der ostdeutschen Bevölkerung wohl zu jener erstaunlich positiven Erinnerung, die viel mit dem Vergleich mit den jetzigen Verhältnissen zu tun hat: Sicherheit des Arbeitsplatzes; billiger Wohnraum; einheitliches Bildungssystem mit einem flächendeckenden Angebot für die frühkindliche Betreuung und Bildung, langem gemeinsamem Lernen und landesweit gleichen Abschlüssen; einheitliche Kranken- und Rentenversicherung für alle; leicht zugängliche medizinische Betreuung in Polikliniken, gekoppelt mit einem System der ländlichen Betreuung durch Gemeindeschwestern; niedrigschwelliger Zugang zu Theatern, Konzerten, Bibliotheken, Kinos; soziale Betreuungsleistungen der Betriebe einschließlich der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) wie Kulturveranstaltungen, Kinderferienlager, Ferienheime; flache Lohn- und Einkommenshierarchien. Werden diese Dinge heute rückblickend ins Feld geführt, folgt ihnen sofort ein »Ja, aber ...«. Das hat natürlich immer seine Berechtigung. Allerdings besagt die Erfahrung der DDR-Bevölkerung zugleich, dass auch im wiedervereinigten Deutschland kein einziger sozialer Sachverhalt ohne ein solches »Ja, aber ...« zu beurteilen ist. Die innere Widersprüchlichkeit an sich ist für sie kein Grund für Abkehr und Verdammung.

Ein fundamentaler Umschwung in der Akzeptanz der Hegemonie des Machtblocks ist Meier zufolge erst ab Mitte der 1980er Jahre, vielleicht sogar erst ab 1987 nachzuweisen. Erst da - Meier beruft sich auf Befragungen und Interviews in der Industriestadt Riesa[7] - habe sich ein Rückgang der Überzeugtheit vom Sozialismus als einer erstrebenswerten Alternative zum Kapitalismus in relevanter Breite und Tiefe gezeigt, seien »unübersehbare Resignationserscheinungen gerade auch bei Mitgliedern und Funktionären der SED, Meistern und Ingenieuren« und ernsthafte »Zweifel an der Fähigkeit der DDR und der sozialistischen Länder, die Anforderungen der modernen wissenschaftlich-technischen Entwicklung zu meistern«, deutlich geworden (282).

Die ›verschlungene‹ Erzählung hat, soll sie vertieft werden, weitere Momente in Betracht zu ziehen. So konnte etwa der DDR-Machtblock angesichts der Entwicklungen in Polen 1980 darauf vertrauen, dass die Gewerkschaft Solidarność in der DDR-Arbeiterschaft keine ihn selbst bedrohende Nachahmung finden würde, weil fortbestehende antipolnische Grundstimmungen und die Sorge um den Verlust des im Vergleich zu Polen merklich höheren materiellen Lebensstandards den emanzipatorischen Impetus des Aufbegehrens und Einforderns überwogen.

3. Die Hegemonie des Klassenkompromisses

Das Schlüsselereignis »Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953« ist nach 1989 auch im Umfeld der PDS umfassend untersucht worden. Zwei Darstellungen seien hier genannt: Angelika Klein arbeitet in »Exempel 1953« (1997) die besonders heftigen Auseinandersetzungen in der Industrieregion Halle/Merseburg und ihre Langzeitfolgen heraus und Wilfriede Otto (2003) dokumentiert die Vorgänge in der SED-Führung. Otto stellt die »Überrumpelung« (17) der SED durch die nach Stalins Tod sich mehrfach widersprechenden sowjetischen Vorgaben und einen aus den Protokollen des Politbüros herauslesbaren »Offenbarungseid der Staatspartei« - »Abgerissenheit und Gefühllosigkeit gegenüber den Menschen, Arroganz, Administrieren und Befehlen als Arbeitsstil, die Entscheidungsgewalt Ulbrichts, selektive und fehlende Informationen über die militärische Aufrüstung, über die Reparationen und über die tatsächliche wirtschaftliche Situation« (20f) - in den Mittelpunkt. Klein hingegen konzentriert sich auf die Vorgänge auf der unteren Funktionärsebene und bei den einfachen SED-Mitgliedern: die Beteiligung »vieler SED-Mitglieder« an »den Streiks, Demonstrationen, den Protestkundgebungen und auch den Besetzungen von Kreisleitungen, Volkspolizeiämtern, den Gebäuden des MfS und beim Sturm auf Gefängnisse« (1997, 356) und die nachfolgende und bis 1989 nachwirkende Bestrafung und Disziplinierung - »fast alle SED-Funktionäre, die sich auf irgendeine Art und Weise mit den Streikenden und Demonstrierenden solidarisierten, wurden aus der SED ausgeschlossen« (358f) -, die von umso dramatischerer Wirkung war, als sich Anfang Juni 1953 die Beschlüsse der Parteiführung »direkt widersprachen« und daher »die große Mehrheit der Parteifunktionäre auf Bezirks- und Kreisebene« den Ereignissen »völlig hilflos« gegenüberstand (356f).

Der 17. Juni also als mehrfache Krise des KPdSU-SED-Machtblocks mit dramatischen inneren Zerreißproben und einer daraus resultierenden »hegemonialen Schwäche«, die mit dem »Primat der Gewalt« (Haug) kompensiert wird - und zwar der für zwei Tage offen als Drohpotenzial vorgeführten bewaffneten Gewalt der Sowjetunion und danach der Gewalt des gesamten Unterdrückungs- und Disziplinierungsapparates der SED, dessen Macht stets auch die Drohung mit dem sowjetischen Militär innewohnte.

Aber auch hier gibt es neben der ›einfachen‹ Erzählung eine ›verschlungene‹. Jörn Schütrumpf spricht in Anlehnung an die Juni-Insurrektion in Paris 1848 von der »Juni-Insurrektion 1953« und sieht diese als Schlüsselereignis, nicht nur weil in ihr die Auseinandersetzungen kulminierten, sondern auch weil sich mit ihr »die Bau- und Industriearbeiterschaft einen privilegierten Platz [erkämpfte], den zu verteidigen ihr bis hinein in den Untergang des ›real existierenden Sozialismus‹ gelang« (2010, 96). Damit nimmt er eine Langzeitwirkung in den Blick, die überraschend erscheint und nur im Rückblick erkannt werden kann. Die »Arbeiterschaft« habe im Rahmen eines »Tausches« ihre »politische Mündigkeit« hergegeben und dafür zweierlei errungen: »mehr als dreieinhalb Jahrzehnte soziale Sicherheit« und »eine ermäßigte, den ökonomischen Möglichkeiten wie Notwendigkeiten immer weniger entsprechende Arbeitsbelastung« (98).[8]

Der 17. Juni also als Ausgangspunkt eines hegemoniale Kraft entfaltenden, die gesamte weitere Geschichte der DDR bestimmenden Klassenkompromisses zwischen der ›neuen Klasse‹ und der Arbeiterklasse (vgl. Adolphi 2008, 882), wobei der Klassenkompromiss das »hegemoniale Opfer« beinhaltet, das die »herrschende Kerngruppe« den »näheren und ferneren Verbündeten oder zumindest Einbindbaren« schuldet (vgl. Haug, 56).

Die Wirkung dieses Klassenkompromisses war vielschichtig und widerspruchsvoll. Einerseits erlangte die DDR-Bevölkerung einen Lebens- und Sozialstandard, wie er nirgends sonst in den Ländern des Staatssozialismus einschließlich der Sowjetunion erreicht wurde. Andererseits erwies sich der Kompromiss als Blockade für die Steigerung der Arbeitsproduktivität, für die Erhöhung der Effizienz der Wirtschaft. Die Erhöhung von Normen war seit dem 17. Juni 1953 stets ein heißes Eisen. Entlassungen in die Arbeitslosigkeit waren - abgesehen von den in Einzelfällen aus politischen Gründen erfolgten, die jedoch volkswirtschaftlich ohne Bedeutung waren - ohnehin ausgeschlossen; nun hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter bei der Aushandlung ihrer Arbeitsbedingungen noch stärkere Einflussmöglichkeiten. Nicht in dem Sinne, wie emanzipierte Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen oder in Streiks auftreten. Wohl aber, indem sie durch ihr konkretes arbeitstägliches Verhalten Grenzen zu setzen oder Spielräume auszuweiten vermochten. Peter Hacks formuliert entsprechend in einem Interview mit Gottfried Fischborn 1974, dass »die eigentlich produzierende Schicht dieses Landes sich doch niemals eine Vorschrift [habe] machen lassen« (2007, 25).

Als Erich Honecker 1971 Walter Ulbricht an der SED-Spitze ablöste und das Programm der ›Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik‹ in Gang setzte, stand ohne Zweifel die Angst vor einer Wiederholung des 17. Juni Pate. Sein von ihm ins Aus gedrängter Vorgänger hatte im Rahmen des ›Neuen Ökonomischen Systems des Sozialismus‹ noch einmal versucht, industriellen und wissenschaftlich-technischen Großprojekten den Vorrang zu geben - z.B. war in Merseburg, im Zentrum des Chemiedreiecks der DDR, der Bau eines Großforschungszentrums für Spitzentechnologien in der Chemie begonnen worden, der dann abrupt gestoppt wurde -, aber dieser Kurs hätte Produktivitätssteigerungen und zeitweilige Einschränkungen im Lebensalltag erfordert, für die es - wie Honecker wohl richtig einschätzte - keine breite Zustimmung mehr gab. Honeckers sozialpolitische Programme aber genossen solche Zustimmung. So gewann ein Projekt hegemoniale Kraft, das unter den gegebenen Verhältnissen eine zu geringe Akkumulationsrate der Volkswirtschaft geradezu voraussetzte und folglich von Beginn an den Keim des wirtschaftlichen Scheiterns in sich trug.

4. Die Hegemonie ›in den Lüften‹

In seinem in der DDR bis 1989 verbotenen, in der BRD gefeierten Roman Fünf Tage im Juni (1974) zitiert Stefan Heym u.a. Dokumente und Radiosender. So kommt Jakob Kaiser, damals Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, mit einer Erklärung vom 24. März 1952 zu Wort, derzufolge es »im Bereich der Möglichkeit« liegt, »dass der Tag X rascher kommt, als Skeptiker zu hoffen wagen«, und »der Generalstabsplan« für diesen Tag »so gut wie fertig« sei (32). Am 23. September 1952 informiert das SPD-Organ Neuer Vorwärts über die Aufgabe des Ostbüros der SPD, »mit allen im illegalen Kampf geeignet erscheinenden Mitteln in der Sowjetzone eine entsprechende Aufklärung« zu betreiben und eine »aktive Unterstützung für die Widerstandsgruppen in den Hochburgen der deutschen Arbeiterbewegung in Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg und Brandenburg« zu leisten (128). Am Abend des 16. Juni 1953 berichtet der in Westberlin stationierte Rundfunk im Amerikanischen Sektor (RIAS) über eine Delegation ostberliner Bauarbeiter, die den RIAS gebeten habe, »ihre Forderungen zur Kenntnis zu bringen«: »Erstens: Auszahlung der Löhne nach den alten Normen [...]; zweitens: sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten; drittens: freie und geheime Wahlen; viertens: keine Maßregelung der Streikenden und ihrer Sprecher« (253). Am 17. Juni um 5 Uhr 36 meldet der RIAS: »Nach dem Marsch der Arbeiter durch Berlin, abends in den spontanen Kundgebungen in allen Bezirken Ost-Berlins, wurde eine Parole ausgegeben [...], die über den gestrigen Tag hinausging. Und die hieß: Morgen geht es weiter. Wir treffen uns morgen früh um sieben Uhr auf dem Strausberger Platz. In einigen Betrieben haben bereits in dieser Nacht die Arbeitsniederlegungen begonnen.« (285) Schütrumpf schreibt dazu: »Erstmals [trat] an die Stelle einer Führung durch ein ›Politbüro‹ oder ähnliches die Führung durch informationsverbreitende Medien«, in diesem Falle durch den Rundfunk. »Ein neuer Typus von Rebellion war geboren«. (2010, 98)

Der Vorgang verweist auf ein Phänomen, das jede Untersuchung zur Hegemonie in der DDR berücksichtigen muss: der weitgehend ungehinderte Zugang der DDRBevölkerung zu den Rundfunk- und Fernsehsendern der BRD.[9] Erhart Neubert, Verfasser der bisher umfangreichsten Darstellung der Geschichte der DDR-Opposition (1997), bezeichnet das Westfernsehen als eine »geduldete Form der Opposition« (zit.n. Fromm 2000, 219). Stefan Wolle (1998) geht noch sehr viel weiter. Für ihn gehörte »die ständige Präsenz westlicher Medien zu den mentalitätsgeschichtlich prägenden Grundlagen des Staates« und dies sei »kaum zu überschätzen«, denn »die bundesdeutschen Rundfunk- und Fernsehprogramme« hätten »über 45 Jahre der Trennung die kulturelle Einheit der deutschen Nation aufrechterhalten« (69). In Umfragen gaben 1979 56 % der Befragten an, sich »gleichermaßen über DDR- und BRD-Sender« über das politische Geschehen zu informieren, 24 % taten dies »überwiegend über DDR-Sender«, 7 % »überwiegend über BRD-Sender«; 1987 gaben sogar 85% der Befragten an, regelmäßig BRD-Medien zu empfangen (70). Für den BRD-Historiker Axel Schildt ist es »sinnlos«, darüber zu spekulieren, welchen Verlauf die Geschehnisse 1989 »ohne ihre permanente massenmediale Stilisierung« genommen hätten, denn »die nahezu vollständige Einbeziehung der Bevölkerung [...] in das Publikum der westlichen Fernsehstationen« sei »eine grundlegende Tatsache des DDR-Alltagslebens mindestens seit den sechziger Jahren« gewesen (1998, 58).

Verhältnisse wie in der DDR, in denen der Bevölkerung neben den Informationen, Argumentationen und anderen Sendungen des Machtblocks stets auch die in der gleichen Sprache verfassten, auf gleichen kulturgeschichtlichen Codes aufbauenden, den ersteren aber diametral entgegengesetzten Informationen, Argumentationen und anderen Sendungen des politischen Gegners zur Verfügung standen, dürften in der Geschichte einzigartig sein. Einen »interessanten Spezialfall der Bedeutung der massenmedialen Revolution im 20. Jahrhundert« macht Schildt in diesen Verhältnissen aus, die er mit dem Bild der »abendlichen virtuellen Republikfl ucht der DDR-Bürger nach dem Motto ›Der Sozialismus geht, Johnnie Walker kommt‹« illustriert (ebd.). »Die Formung des Bewusstseins der DDR-Bevölkerung« habe »durch die Fernsehprogramme von ARD und ZDF« seit den 1970er Jahren »eine neue Qualität« gewonnen, so dass diese »durchaus ihren hintergründigen Anteil am friedlichen Ablauf und an der raschen Verbreitung von Aktionsformen und Forderungen« im Jahre 1989 gehabt hätten (71).

Unter diesen Verhältnissen erstaunen die 60 % Zustimmung zum Kurs des Landes bis Mitte der 1980er Jahre und es ist - Schütrumpfs »Rebellion neuen Typs« am 17. Juni 1953 in Betracht gezogen - insbesondere erstaunlich, dass sich eine solche Rebellion bis 1989 weder am 13. August 1961 noch zu einem späteren kritischen Zeitpunkt wiederholte. Die immer präsente Gewalt erklärt dies nur zum Teil. Der andere Teil ist jenes Maß an grundsätzlicher Zustimmung zur DDR, das heute aufgrund der angestrebten kompletten Delegitimierung der DDR nicht zur Kenntnis genommen oder über das hinweggeredet wird.

5. Der Hegemonismus der ›Anschließer‹

Als Trotzki 1936 über die Kraft der Opposition in der Sowjetunion nachdenkt, fragt er, was »20 bis 30.000 Oppositionelle [...] bei einer Partei von zwei Millionen« bedeuten können, und kommt zu dem Schluss, dass »die nackte Gegenüberstellung der Zahlen« in dieser Frage »gar nichts« sage: »Ein Dutzend Revolutionäre in einem Regiment genügt, um es in einer heißen politischen Atmosphäre auf die Seite des Volkes zu ziehen. Nicht von ungefähr fürchten die Stäbe auf den Tod die kleinen illegalen Zirkel, ja selbst Einzelgänger.« (1958, 275) In der Tat sagte »die nackte Gegenüberstellung der Zahlen« im Herbst 1989 in der DDR »gar nichts«, und obwohl »die Stäbe« die »kleinen illegalen Zirkel« und »Einzelgänger« »auf den Tod« fürchteten und sie daher mit einem äußerst fein gesponnenen Netz der Überwachung, Bedrohung, Durchdringung und ›Zersetzung‹ überzogen hatten, gelang es diesen, Hegemonie zu gewinnen in einem Prozess, in dem die Hegemonie des Machtblocks rasend schnell erodierte.

Die Zuspitzung der Krise des Staatssozialismus, die in der Unfähigkeit bestand, den von den neuen Produktivkräften erzwungenen Wandel der Gesellschaft zu gestalten und sich dabei grundlegend demokratisch zu erneuern, spiegelte sich in einem »explosiven Gemisch von Unzufriedenheit, Resignation, Handlungswillen, Kritik und Aufkündigung von Loyalitäten« wider (Bollinger 2004, 12). Die dramatisch anschwellende Fluchtwelle wie auch die ab September 1989 sich entfaltenden Massendemonstrationen schufen eine Konstellation, in der der Machtblock zudem die Fähigkeit verlor, zur Erhaltung oder Wiedergewinnung seiner Hegemonie Gewalt einzusetzen. »Die Staatsorgane«, schreibt Neubert, »gerieten in ein für sie nicht lösbares Dilemma. Je mehr sie zur Gewalt griffen, desto schneller delegitimierten sie sich selbst. Sie mussten auf das Angebot für einen Minimalkonsens reagieren, der in der Forderung nach Gewaltlosigkeit bestand. Gingen sie aber auf dieses Verfahren ein, zog dies absehbar die Fortsetzung und Ausweitung der Demonstrationen nach sich. [...] Die in der Propaganda der SED immer schärfer werdenden Drohungen bremsten die Mobilisierung der Menschen möglicherweise ab, verunsicherten aber zugleich diejenigen, die eine Gewaltanwendung hätten mittragen müssen. Die in die Friedensgebete und die Demonstrationen eingeschleusten ›gesellschaftlichen Kräfte‹ zur Verhinderung der Politisierung - schließlich mehrere tausend Personen - wurden ungewollt selbst Teil der gewaltlosen Konfliktregulierung«. (1997, 832)

Der Hegemoniegewinn der Opposition war jedoch widerspruchsvoll, und nur für wenige Tage schien es möglich, dass aus der Hegemonialität des radikalen Veränderungsstrebens durch Sturz des SED-Machtblocks tatsächliche Führung der Gesellschaft werden könnte. Schon die Demonstrationen resultierten weniger aus dem Wirken der oppositionellen Gruppen als vielmehr aus der allgemeinen Unzufriedenheit. Aber sie brachten, so Neubert, für die Opposition »wesentliche politische Vorteile«: Zum einen »unterstützten die Demonstranten die zeitgleich in die Öffentlichkeit tretenden neuen Organisationen, die bis dahin allein politische Alternativen formuliert hatten: seit dem 25. September wurde in Leipzig ›Neues Forum zulassen‹ skandiert«, zum andern »wurde die in der gesamten DDR nach den Verhaftungen am 11. September anlaufende Solidaritätswelle für die Inhaftierten, die überall von Oppositionellen getragen wurde, zu einem seit 1987 erprobten und bewährten Medium der politischen Mobilisierung« (832f). Als sich aber die politische Krise der DDR weiter verschärfte und »alle Planungen und Überlegungen der Oppositionellen zur Neuformierung in großer Eile vorangetrieben werden« mussten (833), traten rasch andere politische Kräfte auf den Plan - und zwar in bis heute merkwürdig bleibender Wechselwirkung miteinander. Mit der Maueröffnung am 9. November - resümiert Bollinger - habe die »neu-alte« SED-Führung um Egon Krenz und Günter Schabowski nicht nur einen »Akt der Selbstentleibung« vollzogen, sondern zugleich »dem revolutionären Aufbruch in der DDR der Todesstoß versetzt«: die BRD habe von nun an »mit ihren Parteien, Printmedien und alsbald auch mit Wirtschaftsvertretern unmittelbar in die DDR einwirken und vor Ort arbeiten« können (2004, 47). In seinem letzten hegemonialen Akt legte der SED-Machtblock, sich nun plötzlich auf die Kraft der ›Straße‹ berufend und die Opposition nicht sofort, aber nachhaltig ausbootend, die Hegemonie in die Hände des BRD-Machtblocks.

Für die Entwicklung nach dem 9. November ist überaus bedeutsam, wie sich Vertreter beider Machtblöcke in der Bewertung der DDR-Opposition trafen. Erhard Crome zitiert in einer Untersuchung zu den politischen Konstellationen des Umbruchs ein Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Berlin an den Chef des Bundeskanzleramtes über die Veranstaltung in der Berliner Gethsemane-Kirche am Abend des 19. September, in dem es heißt, dass »die Arbeit neuer und alter Gruppen weit entfernt ist von effektiver Oppositionsarbeit « (2004, 135). Die »veröffentlichten Berichte über die ›Opposition‹ in der DDR« seien »übertrieben und aufgebauscht«, im »ausschließlich aus Intellektuellen« bestehenden Teilnehmerkreis seien »keine politischen Talente sichtbar« geworden, »die eine solche Versammlung zu einheitlicher Willensbildung führen könnten«. Das Neue Forum werde »durch derartige Veranstaltungen kaum zur Mobilisierung beitragen« (ebd.). Nach der Maueröffnung zeigte sich dann rasch, dass niemand im BRD-Machtblock Interesse an dem »mühsamen Prozess politischer Artikulation und Selbstorganisation meist zwar gebildeter, doch ›normaler‹, unorganisierter Menschen« hatte, »die sich darin einig waren, dass es nicht wie bisher weiter gehen konnte« (135f), die aber, weil es die »Kontextbedingungen der Gründungssituation« gar nicht zuließen, nicht über »ein übergreifendes Konzept zur weiteren Entwicklung der DDR« oder »zentrale, charismatische Identifikationsfiguren« verfügten (140).

Trotzdem seien die Bürgerbewegungen »in der Zeit etwa von November bis Mitte Dezember 1989« die »entscheidende Kraft« gewesen, »den Veränderungen in der DDR öffentlich Ausdruck zu geben« (ebd.). Als Helmut Kohl jedoch am 28. November mit einem Zehn-Punkte-Programm die Initiative an sich riss und am 19. Dezember in Dresden umjubelt wurde, kippte die Stimmung. Hegemonial waren jetzt nicht mehr Ideen und Konzepte zur Veränderung der DDR, die - so unterschiedlich und fragmentiert sie auch dachten und handelten - Bürgerbewegungen, SED-Reformer und Reformer in den Blockparteien sowie politisierte Bürgerinnen und Bürger ohne organisatorische Bindungen im Oktober und November entwickelt hatten, sondern »Idealvorstellungen eines Verschmelzens der Vorzüge von Sozialismus (soziale Sicherheit) und Kapitalismus (Warenangebot, hohe Löhne, konvertierbare Währung)« (Bollinger 2004, 47).

Kohl nutzte diese Stimmungslage entschlossen für seinen auf schnelle Herstellung der staatlichen Einheit gerichteten Vorstoß. Zu den beeindruckenden Leistungen auf diesem Weg gehörte die gegen alle Prognosen der Wahlforscher erfolgreiche Einbindung der Ost-CDU in diesen Prozess. Bei den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 hatte die SPD Plakate geklebt mit dem Motto, wer jahrelang Blockflöte gespielt habe, könne nicht die erste Geige spielen - errang damit aber keinerlei hegemoniale Kraft. Kohl hatte am 5. Februar 1990 eine »Allianz für Deutschland« aus DDR-CDU, dem zu den Bürgerbewegungen des Herbstes zählenden Demokratischem Aufbruch (DA) sowie der erst im Januar 1990 gegründeten Partei Deutsche Soziale Union (DSU) geschmiedet und sich damit nicht nur »eine funktionierende Parteistruktur« geschaffen, »die bis ins letzte Dorf reichte«, sondern diese auch »mit der Aura der oppositionellen Bürgerbewegung und Neugründung« versehen (Crome 2004, 154f). Seine Wahlreden mit größter Anziehungskraft - an seinen Kundgebungen sollen etwa eine Million Menschen teilgenommen haben - taten ein Übriges für den klaren Wahlsieg der »Allianz« (CDU 41 %, DSU 6 %, DA 1 % - zum Vergleich SPD 22 %, PDS 16 %, jeweils gerundet). Crome erklärt dieses Resultat auch mit dem festen Platz, den die CDU in der deutschen Parteienlandschaft nach 1945 eingenommen hat, woran auch ihre Einbindung als Blockpartei in der DDR nichts änderte. Die Blockparteien seien immer zweierlei gewesen: Mitregierende »auf allen Ebenen« und zugleich »eine Art Nische für das Gespräch Gleichgesinnter«. In beiden Rollen sei »die Anerkennung bzw. das faktische Hinnehmen der ›führenden Rolle‹« der SED »an einen ›starken Sozialismus‹« gebunden gewesen und so mit der Krise 1989 obsolet geworden (152f).

Unter diesen Bedingungen hatten Bürgerbewegungen, die auf Veränderungen in der DDR im Rahmen von Zweistaatlichkeit zielten, und Warnungen vor einer schnellen staatlichen Einheit keine Chance. Thomas Klein, 1989 einer der Mitbegründer der oppositionellen Vereinigten Linken (VL), zitiert eine Stellungnahme des Neuen Forum Berlin vom 18. Dezember 1989, in der nachdrücklich »für eine Neugestaltung der Beziehungen der beiden deutschen Staaten zueinander« geworben wird (2004, 218). »Vereinigung jetzt« bedeute »für einige schnellen Wohlstand, für viele aber Arbeitslosigkeit, Verzicht auf Mitbestimmung, Mietwucher und darüber hinaus Legalisierung rechtsextremer und neofaschistischer Parteien und Organisationen«. Als Voraussetzungen für eine »Vereinigung in der Zukunft« werden »totale Entmilitarisierung und Neutralität«, »Abschluss eines Friedensvertrages«, »Garantie der Oder-Neiße-Grenze«, »soziale Sicherheit für alle, Recht auf Arbeit, Recht auf Wohnraum«, »Demokratisierung, betriebliche und kommunale Mitbestimmung« sowie »gerechte Wirtschaftsbeziehungen zu den Ländern der dritten Welt« genannt (218f). Die VL selbst protestierte gegen das Programm »Deutschland, einig Vaterland «, das Ministerpräsident Hans Modrow am 1. Februar 1990 nach einem Besuch bei Michail Gorbatschow verkündet hatte und nur als »Kapitulation vor den Konsequenzen der selbst mitverschuldeten Entwicklung« gewertet werden könne (226). Das Programm, so die VL damals, überschreite »gleich dreifach Grenzen linker Politik«, denn erstens sei »eine Wirtschafts- und Währungsunion mit der BRD im Rahmen einer Vertragsgemeinschaft nicht machbar, ohne sofort zwei Drittel der Betriebe zu ruinieren«, zweitens nähre es »die Illusion von Millionen Bürgern, dass ein Direktanschluss an die BRD und die D-Mark als Binnenwährung bundesdeutschen Lebensstandard sichern könne«, und drittens habe die Regierung ihre Position »ohne Austausch, Beratung und Abstimmung mit den am Runden Tisch versammelten Kräften entwickelt« (zit. 227).[10]

Klein zufolge gefiel sich die VL einerseits in der »Abstinenz von national bewegten Hochstimmungen«, konnte diesen andererseits aber »nichts der neuen Situation Entsprechendes« entgegensetzen, so dass ihr die Initiative »in dem Maße« entglitt, »wie die politischen Sprachrohre der Entdecker von Vorzügen eines ›einigen deutschen Vaterlandes‹ sie gewannen« (213). Diese Einschätzung spiegelt die im Januar 1990 endgültig manifeste Hegemonie des Vereinigungswillens und die Hegemonie der diesem Willen am deutlichsten Rechnung tragenden etatistischen Top-Down-Lösungsansätze wider. Die Hegemonie ›in den Lüften‹ hatte an dieser Entwicklung einen direkten Anteil - Schildt verweist auf die Rolle des Fernsehens bei der »frappierenden Geschwindigkeit der Veränderung der Parole ›Wir sind das Volk‹ in ›Wir sind ein Volk‹« (1998, 71) - und sie hatte auch schon in der Vorgeschichte eine Wirkung gehabt, die von den Bürgerbewegungen, die auf Veränderungen im Innern der DDR bauten, kritisch bewertet wurde. Der »ständige Konsum westlicher Medien« habe dazu geführt, dass viele Menschen »gar nicht mehr ›in der DDR lebten‹« (Wolle 1998, 71). Das sei zwar für die SED »ideologisch bedenklich« gewesen, habe jedoch auch eine »stabilisierende Funktion« gehabt (ebd.). In der Jahreswende 1989/90 erwies sich diese Art der Stabilisierung für die Bürgerbewegungen als endgültig kontraproduktiv.

***

Auf die eingangs gestellte Frage, warum die DDR von der Hälfte der Ostdeutschen überwiegend positiv beurteilt wird, gibt es Antworten, die in den vierzig Jahren ihrer Existenz als vom SED-Machtblock geführter »realsozialistischer« Staat begründet liegen, und es gibt solche, die sich auf die unerfüllt gebliebenen Hoffnungen ihres 41. Jahres gründen. Vielleicht sind letztere, die freilich ohne Bezug auf erstere nicht denkbar sind, sogar die wichtigeren und nachhaltigeren. Dieter Segert ist in Das 41. Jahr (2008) überzeugt, dass das »Ende der alten DDR« im Herbst 1989 »auch einen anderen Anfang als den möglich gemacht hat, den die westdeutsche politische Klasse 1990 mithilfe ihrer überlegenen wirtschaftlichen Macht und ihrer größeren politischen Autorität innerhalb der DDR-Bevölkerung schließlich durchgesetzt hat« (23). »Im demokratischen Neuanfang des letzten Jahres der DDR« ließen sich »gesellschaftliche Alternativen sowohl zur alten DDR wie zur Art des Vollzugs der deutschen Einheit [...] aufspüren«, zumal jenes 41. Jahr schon »früh«, »schon im Widerhall der sowjetischen Perestroika in der DDR-Intelligenz« begonnen und »seine Schatten weit voraus« geworfen habe (ebd.).[11] Dass solchen Überlegungen gegenwärtig jede hegemoniale Kraft fehlt, liegt unter anderem daran, dass unter westdeutschen Linken - die Mitglieder der LINKEN eingeschlossen - eine Befassung mit der DDR, die sich deutlich vom Mainstream absetzt, kaum opportun ist. Das liegt auch daran, dass eine Befassung mit dem 41. Jahr zugleich eine Befassung mit einem bis heute kaum bearbeiteten Phänomen sein müsste: dem praktisch vollständigen Fehlen westdeutscher linker Alternativen zum Kurs der Regierung Kohl.

Kohls Projekt konnte auch deshalb binnen Tagen vollständige Hegemonie gewinnen, weil diejenigen in der Nach-November-DDR, die einen anderen Weg als den des raschen Beitritts wollten, in der BRD keine Verbündeten fanden. Indem die SPD in der DDR der Bildung einer großen Koalition aus CDU und SPD zustimmte, gab sie nicht nur jede Möglichkeit einer starken eigenen Oppositionsrolle im Vereinigungsprozess auf, sondern brach auch alle Brücken nach links ab - und zwar nicht nur zu den links von ihr in der BRD wirkenden kleinen politischen Parteien und Gruppierungen, die für sie als Partner ohnehin nie in Frage gekommen waren, sondern auch zu außerhalb von Parteien und Gruppierungen wirkenden linken Intellektuellen und schließlich zu den linken Bürgerbewegungen der DDR. Gelähmt von der hegemonialen Kraft erst der scheinbar unerschütterlichen Zweistaatlichkeit und dann des Projekts der schnellen Vereinigung, verfügte die westdeutsche Linke über keinen alternativen Entwurf. So starb selbst der von der DDR-Bürgerbewegung »Demokratie Jetzt« initiierte Entwurf einer gesamtdeutschen, in einer Volksabstimmung zu beschließenden Verfassung, deren Diskussion und Annahme doch lediglich die Beschreitung des durch Artikel 146 des Grundgesetzes ausdrücklich in diesem Sinne geöffneten Weges gewesen wäre.

Fragen nach der Schwäche heutiger gegenhegemonialer Kräfte sind immer auch Fragen nach ihrer Schwäche im Übergang von der Zwei- zur Einstaatlichkeit. Darüber hinaus sind sie selbstverständlich auch Fragen nach dem Umgang mit der DDR als unauslöschlichem Bestandteil sowohl der deutschen als auch der Geschichte des europäischen Staatssozialismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine deutsche Linke, die nicht den Alternativen zum Kapitalismus nachspürt, die es in der widerspruchsvollen Existenz der DDR in mannigfaltigen, teils hegemonialen, teils gegenhegemonialen Formen gegeben hat, kappt ohne Not einen wesentlichen Strang des Geflechts, in dem sie wurzelt und aus dem ihr heute - was ihre politischen Gegner mit ihrer Delegitimierungsstrategie klarer erkannt haben als sie selbst - neue, bisher brach gelegte Kräfte zufließen können.

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[1] Der Artikel unter www.welt.de/politik/article4003936/Die-Haelfte-der-Ostdeutschen geht auf eine Emnid-Umfrage zurück und steht stellvertretend für viele ähnlich lautende in den Folgemonaten.

[2] Wenn im Folgenden ohne Jahresangabe auf Haug verwiesen wird, beziehen sich die Seitenzahlen auf seinen Aufsatz in diesem Heft (»Über Gewalt und Hegemonie«, in: Das Argument 288, 4-5/2010, 44-68).

[3] Schabowski betont in Der Zerfall einer Leihmacht, das als Bd. 5 der von der Universität Rostock herausgegebenen Reihe »Diktaturen in Deutschland« erschien, ausdrücklich, »kein objektivierender Historiker, [...] kein aus vielen, auch gegensätzlichen Quellen schöpfender  und wägender Geist« zu sein, sondern einzig dem »Antrieb« zu folgen, »aufzudecken, wie im marxistischen Weltdeutungsanspruch und Welterlöserwahn die Entartung keimt«. Damit treibt er das, was ich ›einfache‹ Erzählung nenne, auf die grotesk vereinfachende Spitze. Wer ihm von denen, die er einst führte, auf seinem Weg zu »unerbittlichem Antimarxismus « nicht gefolgt ist, das sind für ihn - die westdeutschen Mitglieder von PDS und LINKE eingeschlossen - »Unverbesserliche und Unbekehrbare« (2009, 9f). Vom »unerbittlichen Antimarxismus« zum ›Ende der Geschichte‹ und zur Gleichsetzung der ›beiden deutschen Diktaturen‹ ist es bei ihm nur ein kleiner Schritt: »Der Mauerfall vom 9. November 1989 war mehr als nur ein deutscher Glücksfall. Mit ihm verbunden war das Geraderücken oder die Wiedergewinnung von Grundwerten als Quintessenz aus dem vieltausendjährigen Weg durch die Geschichte, gesäumt von allerlei Irrwegen. Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, soziale Marktwirtschaft - ungeachtet oder wegen ihrer Unvollkommenheit - sind nach den nicht nur unergiebigen, sondern auch unheilvollen Versuchen von Kommunismus und extremistischem, rassistischem Nationalismus wieder als sichernde Leitplanken menschlichen Zusammenlebens erkannt (und haben an Unbezweifelbarkeit gewonnen).« (10f)

[4] Auch Horst Bednareck gehört zu den DDR-Historikern, die sich nach 1989 in den Streit um die Deutung der DDR-Geschichte mit kritisch-selbstkritischen Arbeiten einmischten. Sein hier zitierter Aufsatz ist erschienen in Bd. 4 der elfbändigen Reihe »Ansichten zur Geschichte der DDR«, in der von 1992 bis 1998 erst die Politiker Dietmar Keller und Hans Modrow sowie der Ökonom Herbert Wolf, dann Dietmar Keller, der Philosoph Reinhard Mocek und der Historiker Ludwig Elm im Auftrag der PDS-Bundestagsgruppe vorrangig aus der DDR stammende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versammelten, um die Minderheitenvoten der PDS zu den Berichten der Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestages »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (1994, abgedruckt in Bd. 4, 9-86) und »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« (1998, abgedruckt in Bd. 11, 16-68) vorzubereiten. Die Bände, deren Autorinnen und Autoren in ihrer Mehrheit aus dem öffentlichen Wissenschaftsbetrieb ›abgewickelt‹ wurden, bleiben eine - viel zu selten in Anspruch genommene - bedeutsame Fundgrube von Forschungsergebnissen und in der Transformation gewonnenen Einsichten.

[5] Der hier zitierte Text ist Wirths (1929-2009) letzter und von ihm selbst als »Bilanz seines politischen und intellektuellen Lebens« bezeichnet worden. Wirth steht in der Verbindung von politischer Arbeit in der DDR-CDU und im Kulturbund mit wissenschaftlichem und publizistischem Wirken sowie in der unbestechlichen Fortführung des Letzteren nach 1989 einzig da. Abgedruckt ist der Text in der von Detlef Nakath herausgegebenen Festschrift zum 70. Geburtstag von Siegfried Prokop, einem weiteren selbstkritischen DDR-Historiker. Dieser Band mit dem Titel DDR-Geschichte: Bilder und Zerrbilder kann durchaus als eine Fortsetzung der »Ansichten«-Reihe gelesen werden.

[6] Die Umfrageergebnisse wurden in der DDR nicht öffentlich gemacht, sondern lediglich intern ausgewertet. Eine öffentliche Auswertung war erst nach 1989 möglich.

 

[7] Diese bildeten die Grundlage für eine unter Federführung von Frank Rupprecht und Karl- Heinz Thieme am Philosophie-Institut der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED erarbeitete Studie. Ähnliche Studien an anderen Orten kamen zu ähnlichen Ergebnissen.

[8] Schütrumpf gehört zu den produktivsten und anregendsten der in den 1950er Jahren geborenen DDR-Historiker, v.a. durch seine Veröffentlichungen zur Geschichte der DDR und der Arbeiterbewegung sowie durch seine Arbeit als Verleger (Karl Dietz Verlag) und Redakteur (UTOPIE kreativ). Sein Buch Freiheiten ohne Freiheit ist voller weiterer Denkanstöße, nimmt aber, was die Politik der SED betrifft, deren Gegenspieler in der DDR und in der BRD als macht- und zielbewusst handelnde Akteure sowie die internationalen Handlungsbedingungen zu wenig in den Blick. Die Selbstüberhöhung der SED-Führung wird in der ins Äußerste getriebenen Kritik an ihr modo negativo reproduziert.

[9] Diese generelle Einschätzung ist gerechtfertigt, auch wenn etwa im Raum Dresden - deshalb auch »Tal der Ahnungslosen« genannt - das BRD-Fernsehen nicht zu empfangen war und in den 1950er und beginnenden 1960er Jahren auf westliche Sender ausgerichtete Fernsehantennen zerstört und - wie Günter Fromm (2000) am Beispiel Eisenhüttenstadt berichtet - Störsender errichtet wurden.

[10] Runde Tische entstanden in der DDR im November/Dezember 1989 als meist von Kirchenvertretern moderierte, parallel zu den staatlichen Verwaltungen agierende gemeinsame Beratungs- und Entscheidungsgremien der Parteien und Massenorganisationen des alten Machtblocks und der neuen oppositionellen Bewegungen und Parteien. Der hier gemeinte Zentrale Runde Tisch, initiiert von der Bürgerbewegung »Demokratie Jetzt«, tagte zwischen dem 7. Dezember 1989 und dem 12. März 1990 insgesamt 16-mal. Mit den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 wurde er als nicht mehr notwendig abgeschafft. Das gleiche Schicksal ereilte im Zusammenhang mit den jeweiligen Wahlen die Runden Tische auf Bezirks-, Kreis- und kommunaler Ebene.

[11] Segert war Mitglied des Sozialismusprojekts an der Humboldt-Universität, in dem seit Anfang 1988 unterm Eindruck der Perestroika Ideen zur Reform des Sozialismus in der DDR entwickelt wurden - von der SED-Führung stillschweigend geduldet, aber in seiner Öffentlichkeitswirkung freilich stark eingeschränkt. Die Ergebnisse des Projekts, zu dem u.a. auch André und Michael Brie, Wilfried Ettl, Hans-Peter Krüger, Rainer Land und Rosemarie Will gehörten und das von Dieter Klein, seinerzeit Prorektor für Gesellschaftswissenschaften, gefördert und nach oben hin abgesichert wurde, erreichten im Herbst 1989 in zwei Broschüren in großer Auflage die Öffentlichkeit und spielten für den Reformdiskurs auf dem Weg von der SED zur PDS eine entscheidende Rolle.

[Der Aufsatz ist im Oktober 2010 erschienen, in: Das Argument 288 (4-5/2010), „Gewalt und Hegemonie"]