Kollaps eines Asylsystems

Die humanitäre Krise in Griechenland und die notwendigen europäischen Antworten

Die aktuellen Entwicklungen in Griechenland sind dramatisch. Karl Kopp, Europareferent von Pro Asyl, erläutert für die LeserInnen der Graswurzelrevolution die aktuelle Entwicklung in Griechenland und berichtet über Reaktionen in Europa auf die fortdauernde humanitäre Krise und das kollabierende griechische Asylsystem. (GWR-Red.)

Griechenland ist für viele Flüchtlinge das zentrale Tor nach Europa.

Menschen aus Afghanistan, dem Irak, Iran und Somalia, die Schutz in Europa suchen, müssen die Fluchtroute über die Türkei nach Griechenland nehmen.

Das kleine EU-Mitgliedsland steht seit Jahren in der Kritik wegen der Verletzung von Flüchtlings- und Menschenrechten. Reisen Flüchtlinge weiter in ein anderes europäische Land, um dort Schutz und eine menschenwürdige Aufnahme zu finden, droht ihnen auf Grund der europäischen Asylzuständigkeitsregelung - der sogenannten Dublin II-Verordnung - die Rücküberstel­lung nach Griechenland.

Die dramatische Zuspitzung der Situation in Griechenland ist nicht nur hausgemacht, sondern vor allem auch ein Resultat fehlender Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme innerhalb der Europäischen Union. Es ist zynisch, die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz den EU-Staaten an den Außengrenzen zuzuschieben. Die Krise in Griechenland ist der dramatische Ausdruck eines ungerechten und dysfunktionalen Dublin-II-Systems.

Gerichte stoppen europaweit Abschiebungen nach Griechenland

In allen wichtigen europäischen Asylländern werden aktuell Abschiebungen nach Griechenland durch nationalstaat­liche Gerichte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und im Zuge sogenannter Vorlageverfahren beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg gestoppt.

Die Niederlande haben am 6. Oktober 2010, Belgien am 10. Oktober 2010, Norwegen am 12. Oktober 2010, England bereits am 17. September 2010 Abschiebungen nach Griechenland auf der Grundlage der Dub­lin II-Verordnung eingestellt.

In Dänemark wurden seit Sommer 2010 über 200 Abschiebungen nach Interventionen des Menschenrechtsgerichtshofes gestoppt.

In einem Schreiben vom 30. September 2010 forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte u.a. Belgien, Finnland, die Niederlande und Norwegen auf, bis auf Weiteres von Überstellungen Asylsuchender nach Griechenland abzusehen. Der Gerichtshof informierte, dass er bis zu einer Entscheidung in einem anhängigen Verfahren (M.S.S. gegen Belgien und Griechenland) auch bei allen zukünftigen Verfahren Überstellungen nach Griechenland stoppen werde.

Karlsruhe vor der Grundsatzentscheidung

In Deutschland verhinderten die Verwaltungsgerichte in über 300 Fällen Überstellungen nach Griechenland. Das Bundesverfassungsgericht hat seit dem 8. September 2009 mittler­weile 13 Abschiebungen nach Athen im Eilverfahren gestoppt.

Am 28. Oktober 2010 findet die „Mündliche Verhandlung in Sa­chen ‚Dublin II Verordnung‘" vor dem Bundesverfassungsgericht statt. Erwartet wird eine Grundsatzentscheidung u. a. zur Frage des effektiven Rechtsschutzes bei drohenden Dublin-Überstellungen in andere EU-Staaten.

Lässt Europarecht den vollständigen Ausschluss des Eilrechtsschutzes gegen Überstellungen von Asylsuchenden an andere Mitgliedstaaten zu, wie es die aktuelle deutsche Ge­setzeslage vorsieht? Darf Deutschland blindlings abschieben, ohne zu prüfen, ohne eine Klagemöglichkeit mit aufschiebender Wirkung? Darf man Schutzsuchende überstellen, wenn das Asylsystem in dem betreffenden Mitgliedsstaat zusammengebrochen ist?

Deutschland und die EU-Mitgliedsstaaten wollen nach Griechenland überstellen und an Dublin II festhalten

2009 stellten die anderen Dub­lin-Staaten 10.083 Rücküber­nahmegesuche an Griechenland - 1.211 Asylsuchende wurden tatsächlich überstellt.

Über acht Prozent aller Asylsuchenden in Deutschland sollen nach Auffassung des Bundesinnenministeriums ihr Verfahren in Griechenland absolvieren. Die Übernahmeersuchen an Griechenland stiegen von 512 im Jahr 2007 (2008: 800) auf 2.288 im Jahr 2009.

Auch im 1. Halbjahr 2010 ist diese Quote unverändert hoch. Bei 15.579 Asylerstanträgen in Deutschland gab es insgesamt 4.541 Übernahmeersuchen an andere europäische Länder, da­von 1.252 an Griechenland. Diese Zahlen zeigen, dass das Dublin II-Verfahren unsolidarisch ist.

Zwar hat das zuständige Bundesamt in über 1.500 Fällen seit Januar 2009 von Überstellun­gen aus humanitären Gründen abgesehen und die Asylverfah­ren in Deutschland durchgeführt - 2009 gab es 871 Selbsteintritte, im 1. Halbjahr 2010 664 - dennoch wird nach den Vorgaben des Bundesinnenminis­teriums weiterhin an den Abschiebungen nach Griechenland festgehalten.

Zur Situation in Griechenland: Null Prozent Asylanerkennun­gen, keine Unterkünfte, die Haftanstalten sind voll

Nach jahrelangen Auseinandersetzungen über die dramatische Situation von Schutzsuchen­den in Griechenland, fortlaufenden, umfangreichen und detaillierten Dokumentationen zu den Menschenrechtsverlet­zungen dort ist der Befund eindeutig: Das rudimentäre Asylsystem in Griechenland ist mittlerweile völlig kollabiert.

Das EU-Mitgliedsland verletzt die verbindlichen europäischen Mindeststandards für ein Asylverfahren, für die soziale Aufnahme von Schutzsuchenden und die internationalen Standards der Flüchtlingsschutzge­währung.

Selbst die Rechte von Asylsuchenden, die in griechischen Präsidialerlassen und Gesetzen normiert sind, sind in der Realität nicht gewährleistet.

Die Defizite oder das Fehlen von rechtsstaatlichen Garantien sind in Griechenland nicht nur auf den Asylbereich begrenzt, aber in diesem haben sie existenzielle Folgen. Griechenland gewährt kein faires Asylverfahren, bereits der Zugang zu diesem ist nicht sichergestellt. Schutzsuchenden droht die erneute Inhaftierung und möglicherweise die Abschiebung, ohne dass ihr Schutzgesuch gehört würde.

Die Asylanerkennungsquote in der ersten Instanz liegt in Griechenland seit Jahren nur wenig über null Prozent, ein Aufnah­mesystem für Asylsuchende ist nicht vorhanden. Die zweite In­stanz wurde im Sommer 2009 abgeschafft. Aktuell existiert ein Rückstand von fast 50.000 anhängigen Asylverfahren. Die Folgen für die in Griechenland gestrandeten Schutzsuchen­den: Rechtlosigkeit, Gefahr der willkürlichen Inhaftierung, Ob­dachlosigkeit und Hunger.

Die Regierung verbessert die Problembeschreibung, aber nicht die Asylpraxis

Trotz zahlreicher Willensbekun­dungen und der Einrichtung von Kommissionen mit Beteiligung der Zivilgesellschaft hat die Regierung von Andreas Pa­pandreou es bis jetzt versäumt, die notwendigen Asylreformen umzusetzen.

Die PASOK-Regierung ist seit dem 4. Oktober 2009 - mittler­weile über ein Jahr - im Amt.

In Statements des Ministeriums für Bürgerschutz wurde verkündet, dass sich die Situation schnell spürbar verbessern werde. Zum heutigen Zeitpunkt kann nur festgestellt werden, dass sich bisher einzig die Zustandsbeschreibungen der griechischen Regierung bezüglich der real existierenden Defizite im Asylbereich und der Men­schenrechtsverletzungen deutlich verbessert haben.

Griechenland steht vor einer Herkulesaufgabe: Es geht darum, ein völlig neues Asylsys­tem aufzubauen und zwar in Zeiten der größten Wirtschafts- und Finanzkrise in der jüngeren Geschichte des Landes.

Nicht akzeptabel ist, dass sich in den letzten zwölf Monaten die Situation für Asylsuchende in Griechenland sogar noch verschlechtert hat.
UNHCR spricht von einer humanitären Krisensituation

Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat mehrfach in jüngster Zeit die Europäische Union aufgefordert, unverzüglich zu handeln und Griechenland zu helfen, die wachsende Zahl potenzieller Flüchtlinge, die sich in den Straßen des Landes aufhalten, in den Griff zu kriegen - dies auch angesichts wachsender Feindlichkeit in der griechischen Bevölkerung. „Dies ist eine humanitäre Krisensituation, wie sie in der Europäischen Union nicht vorkommen darf", teilte der Pressesprecher des UN­HCR, Adrian Edwards, Journalisten am 21. September 2010 in Genf mit.

Zugang zur Athener Asylbehörde völlig willkürlich

Am 21. April 2010 informierte ein Verantwortlicher der Asylabteilung Demonstrierende vor den Toren der Behörde über die „Störung der Asylverfahren". Während der letzten sechs Mo­nate hätten pro Woche nur 20 Personen die Möglichkeit gehabt, Asyl zu beantragen.

Zuvor waren es über 300 Personen gewesen (ANA-MPA vom 21. April 2010).

Am 17. Juni 2010 stellte der griechische Flüchtlingsrat in einem Bericht fest, dass es weiterhin faktisch keinen Zugang zum Asylverfahren gebe. Lediglich zehn Asylanträge pro Woche würden noch angenommen.

Die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Gruppen wie schwangerer Frauen und unbe­gleiteter Flüchtlingskinder würden ignoriert. Asylanhörun­gen fänden weiterhin ohne Dolmetscher statt.

Dublin-Überstellte sind verpflichtet, sich innerhalb von drei Tagen in der zentralen Ausländerbehörde in der Petrou Ralli-Straße zu melden und registrieren zu lassen. In einer Stellungnahme vor dem Europäischen Menschenrechtsge­richtshof in Straßburg vom 1. September 2010 betonte UN­HCR, dass Dublin-Fälle wie alle anderen Asylsuchenden der „willkürlichen Auswahl durch Sicherheitsleute am Grund­stückseingang der Behörde ausgesetzt" sind.

Asylbehörde stellt Arbeit ein

Die Athener Anwaltskammer teilte am 14. Oktober 2010 mit, dass der Zugang für Asylan­tragssteller gar nicht mehr gewährleistet sei. Die Asylbe­hörde habe die Arbeit eingestellt und warte nunmehr auf die neuen Reformen des Asylsys­tems. Tausende Schutzsuchen­de warten in Athen vergeblich, einen Asylantrag stellen zu können. Sie müssen unter erbärmlichen Bedingungen leben, ohne Hilfe vom Staat. Diese Praxis steht nach Auffassung der Rechtsanwaltskammer „im direkten Widerspruch zur Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit".

Keine Informationen, keine Dolmetscherdienste

Informationen über ihre Rechte und zum Asylverfahren sind Asylsuchenden nicht verfügbar. Derzeit werden ihnen keine schriftlichen Informationen über das Verfahren ausgehändigt. Die offizielle Broschüre, die wenigen Asylsuchenden in der Vergangenheit zur Verfügung gestellt wurde, ist seit Juli 2009 aufgrund zahlreicher Ge­setzesänderungen veraltet. Sie enthält keine wesentlichen Informationen, auch nicht zu den Mitwirkungspflich­ten von Dublin II-Fällen. Dol­metscher­dienste für rücküberstellte As­ylsuchende sind am Athener Flughafen nicht verfügbar.

Keine Chance auf eine Asylanerkennung

Zur Qualität der Asylanhörun­gen stellt UNHCR fest, dass die Art und der Umfang der Interviews sowie die anschließende Protokollierung nicht mit den internationalen Standards eines fairen Asylverfahrens vereinbar sind. Dies ist u.a. auf ungelerntes und unqualifiziertes Personal zurückzuführen. Hinzu kommt der Mangel an Verfah­rensgarantien. Dolmetscherdienste bei der Anhörung sind meist überhaupt nicht vorhanden.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass nahezu alle Asylanträge in Griechenland in erster Instanz abgewiesen werden.

2007 wurden von 20.692 Asylentscheidungen in der ersten Instanz 8 positiv beschieden - das entspricht einer Anerken­nungsquote von 0,04%.

2008 wurden bei 29.573 Anträgen 14 (0,05%) Personen Schutz gewährt.

2009 wurden 15.928 Asylanträge verzeichnet und insgesamt 29.501 Entscheidungen getroffen. 0,04 Prozent der Asylan­tragstellerInnen (30 Flüchtlingen) wurde 2009 eine Form von Schutz in der ersten Instanz ge­währt. In den ersten acht Monaten dieses Jahres wurden nur 9.195 Entscheidungen in der ersten Instanz gefällt - die Schutzquote liegt bei 0,58 Prozent (54 Personen).

Kein wirksamer Rechtsschutz

Im Rahmen des Asylverfahrens haben Asylsuchende keinen Zugang zu einem wirksamen Rechtsschutz, um gegen eine Ablehnungsentscheidung in erster Instanz vorzugehen.

Im Juli 2009 wurde durch einen Präsidialerlass die Beschwerdeinstanz abgeschafft. Infolgedessen bleibt als einziges Rechtsmittel gegen eine negative erstinstanzliche Entscheidung die Klage vor dem Staatsrat. Ein solches Rechtsmittel hat jedoch keine automatisch aufschiebende Wirkung.

Drohende Zurückweisung von Dublin-Fällen

Dublin-Abgeschobene sind mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert, wenn sie eine Beschwerde gegen eine negative Entscheidung einlegen wollen, die vor oder während ihrer Abreise aus Griechenland zugestellt worden war.

Im Zusammenhang mit dem Abschiebungsverfahren ist die Klage, obwohl gesetzlich vorgesehen, ohne rechtlichen Beistand de facto nicht möglich.

Das Klageverfahren besteht ausschließlich aus einem schriftlichen Verfahren mit strikten Fristen und ohne automatisch aufschiebende Wirkung. Damit kann der Schutzsuchende zu jedem Zeitpunkt abgeschoben werden. Aufgrund dieser strukturellen Defizite vertritt UNHCR weiterhin die Ansicht, dass das griechische System nicht ausreichend vor Zurückweisungen schützt.

UN- Sonderberichterstatter warnt vor Kettenabschiebungen

Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Hans Nowak, veröffentlichte am 20. Oktober 2010 die vorläufigen Ergebnisse seiner Fact Finding Mission in Griechenland. Die Haftbedin­gungen beschreibt er als „unmenschlich und erniedrigend".

Das Rückübernahmeprotokoll zwischen Griechenland und der Türkei ermögliche die Weiterabschiebung von Schutzsu­chenden bis in die Nachbarländer Iran, Irak und Syrien - ohne dass ihr Schutzgesuch gehört würde. Nowak sieht die Gefahr der Verletzung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gemäß der UN-Antifolterkonven­tion.

Kein Schutz- und Aufnahmesystem für unbegleitete Flüchtlingskinder

In Griechenland fehlen aktuell Tausende Aufnahmeplätze für Asylsuchende. Für allein flüchtende Kinder und Jugendliche existieren momentan 405 Schlafplätze. In den letzten zwei Jahren strandeten jedoch über 10.000 unbegleitete Minderjährige - der größte Teil aus Afghanistan - in dem kleinen EU-Mitgliedsland.

Die wenigen Einrichtungen, die noch funktionieren, sind auf­grund der Finanznot ebenfalls gefährdet. Seit dem 10. Juli 2010 ist eine Unterkunft für Minderjährige auf der Insel Lesbos - sie bot Platz für 96 unbegleitete Flüchtlingskinder - offiziell geschlossen. Die Verträge der MitarbeiterInnen wurden vom zuständigen Gesundheitsmi­nisterium nicht verlängert. Das Personal arbeitet seitdem unentgeltlich weiter, damit ihre Schützlinge nicht zurück auf die Straße müssen.

Keine Unterkünfte für Asylsuchende

Es sind lediglich 865 Aufnah­meplätze für Asylsuchende in Griechenland vorhanden. Nimmt man nur die 16.000 Asylanträge, die im Jahr 2009 (2008 19.884 Asylanträge), und die 4.701, die im ersten Halbjahr 2010 gestellt wurden, so wird deutlich, dass diese Aufnah­mekapazitäten nicht ausreichend sind.

Die rund 800-1.000 Asylsuchenden, die jährlich von anderen europäischen Ländern im Rahmen der Dublin II-Verordnung zurückgeschoben werden, erleiden das gleiche Schicksal wie alle anderen Schutzsuchenden in Griechenland.

Europäische Abschiebungen in die Obdachlosigkeit

Nach Angaben der griechischen Menschenrechtsorgani­sation Aitima, die ein siebenwöchiges Projekt zur rechtlichen und sozialen Unterstützung Asylsuchender auf dem Athener Flughafen durchführte, waren über die Hälfte der im Zeitraum 22. Februar bis 14. April 2010 zurückgeschobenen 173 Personen Schutzsuchende aus Bürgerkriegsgebieten. 79 stammten aus Afghanistan und 13 aus dem Irak. Schätzungsweise 30 bis 50 Prozent waren Frauen, Kinder, Fol­teropfer und kranke Menschen. 31 Personen der Dublin-Überstellten befanden sich in einem gesundheitlich kritischen Zustand. Im Bericht von Aitima heißt es: „Trotz der großen Bemühung unsererseits und vonSeiten des Gesundheitsministe­riums war es während unseres zweimonatigen Projekts nicht möglich, alle besonders gefährdeten Personen mit einer Unterkunft zu versorgen."

Aitima erwähnt zwei Fälle, in denen Schutzsuchende mit schweren gesundheitlichen Problemen - eine Person, die kurz zuvor operiert worden war und noch unter Schmerzen litt, und eine zweite Person mit einer schweren Herzerkrankung - auch am Ende des Projekts obdachlos blieben.

Haftanstalten sind berstend voll

Seit Jahren sind die Haftlager für Flüchtlinge und Migran­tInnen überfüllt und die Lebensbedingungen dort unerträglich.

Nach Angaben des Bürgerschutzministeriums vom 9. Juni 2010 wurden allein in den ersten vier Monaten des Jahres 32.411 Flüchtlinge und Migran­tInnen von der Polizei und den Hafenbehörden aufgegriffen und inhaftiert.

Bemerkenswert sei die geographische Verschiebung im Vergleich zum Vorjahr: Die Zahl der Bootsflüchtlinge ist um 50 % in der Nord-Ägäis und um 65 % in der südlichen Ägäis zurückgegangen.

Gleichzeitig hat sich die Zahl der Einreisen an der Landgrenze zur Türkei drastisch erhöht. 25.000 Menschen wurden im Evros-Gebiet von Januar bis August 2010 aufgegriffen.

„Es ist eine tragische Situation", sagte der Chef der örtlichen Polizeigewerkschaft laut Eleftherotypia vom 20. August 2010. Die Haftbedingungen im Haftlager Fylakio seien inakzeptabel. Bis zu 650 Flüchtlinge seien inhaftiert in einem Lager, das nur für 374 Personen ausgelegt sei. Darüber hinaus entstünden aufgrund der schlechten Hy­gienebedingun­gen und des Mangels an Ärzten und an Medikamenten schwerwiegende gesundheitliche Probleme.

Katastrophale Lebensbedingungen - Schutzgesuch unmöglich

Die Rechtsanwältinnen Mari­anna Tzeferakou (Athen) und Natassa Strachini (Chios) haben im Auftrag von PRO ASYL im Evros-Gebiet recherchiert und am 6. September 2010 eine Dokumentation vorgelegt. Die Ergebnisse: Alle Neuankömmlinge, die von der Polizei aufgegriffen werden, werden in einem der zahlreichen Haftlager inhaftiert.

Die Lebensbedingungen in diesen sind katastrophal, die Haftzellen überfüllt, Hofgang wird kaum gewährt, die sanitären Bedingungen sind gesundheitsgefährdend und eine medizinische Versorgung ist nicht gewährleistet. Die Flüchtlinge werden nicht einmal über die Gründe der Inhaftierung in einer ihnen verständlichen Sprache informiert. So wissen viele nicht, dass sie unmittelbar von einer Zurückschiebung in die Türkei bedroht sind. Die einzigen DolmetscherInnen, die in diesen Lagern vorhanden sind, arbeiten für die europäische Grenzagentur Frontex.

Die beiden Rechtsanwältinnen haben Fälle dokumentiert, in denen durch falsche Altersangaben von Frontex Minderjährige zu Erwachsenen gemacht werden. Des weiteren wurden Flüchtlingen falsche Her­kunftsländer zugeordnet. Asylanträge sind unter diesen Bedingungen unmöglich. Zudem werden Schutzsuchende durch Einschüchterung und bewusste Fehlinformationen davon ab­gehalten, Asylanträge zu stellen.

UNHCR spricht von Notsituation im Evros-Gebiet

UNHCR Griechenland appellierte am 15. Oktober 2010 an die Regierung, Ärzte, Dolmetscher und Sozialarbeiter in die Haftlager an die türkische Landgrenze zu schicken. Männer, Frauen und Kinder seien unter schlimmen hygienischen Bedingungen zusammengepfercht auf engstem Raum, Hofgang werde nicht gewährt. „Wir sind zutiefst besorgt über die Haftbedingungen ... es ist eine echte Notsituation und erfordert schnelles Handeln", so UNHCR-Sprecherin Ketty Kehayioylou.

Der Tonfall wird martialischer

In einer gemeinsamen Sitzung von Polizei und Armee wurde am 30. September 2010 festgestellt, dass die verstärkte Einwanderung das Sicherheitsrisiko Nummer Eins für Griechenland darstelle. Die Zahl der Einreisen im Evros-Gebiet habe sich um 584 Prozent erhöht. Als Gegenmaßnahme wurde die Ausweitung der entlang der ge­samten griechisch-türkischen Landgrenze verlaufenden Anti-Panzer-Gräben im Evros-Gebiet diskutiert. Diese sollen als „natürliche Barriere" irreguläre Einreisen verhindern (Pontiki vom 7. Oktober 2010).

Rassistische Gewalt nimmt zu

In den vergangenen Wochen ist es im Athener Stadtteil Ag­ios Panteleimon zu zahlreichen Übergriffen auf Flüchtlinge und MigrantInnen gekommen. Da­bei wurde ein Dolmetscher der Organisation Ärzte ohne Grenzen schwer verletzt.

Die Si­tuation sei „aufrührerisch und außer Kontrolle", heißt es in einer Erklärung des griechischen Büros des UNHCR vom 17. Oktober 2010.

Die Nationale Kommission für Menschenrechte (NCHR) hat am 12. Oktober 2010 ihre Besorgnis über die wachsende rassistische Gewalt bekundet.

Sie verurteilte die rassistischen Vorfälle und forderte die Regierung auf, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz der körperlichen Unver­sehrtheit aller Personen mit Wohnsitz in Griechenland unabhängig von ihrer Nationalität zu gewährleisten.

Razzien in den Elendsquartieren von Flüchtlingen

In zahlreichen Razzien werden Orte, die von obdachlosen Flüchtlingen besetzt wurden, mit der Begründung geräumt, diese Orte seien ein Gesund­heitsrisiko für die Bevölkerung. Es wurden jedoch keine Vorkehrungen getroffen, menschenwürdige Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Diejenigen, die dort gelebt hatten, wurden vertrieben und der Obdachlosigkeit überlassen. Unter ihnen befanden sich Asylsuchende, auch Familien mit kleinen Kindern. Nach Be­hördenangaben, die in einem Zeitungsbericht von Rizospas­tis vom 21. August 2010 zitiert wurden, sind innerhalb eines Monats allein in der Region At­tika 1.478 Flüchtlinge und Mi­grantInnen verhaftet worden.

Die EU-Kommission droht mit Sanktionen

Seit Oktober 2009 läuft ein umfassendes Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland - laut EU-Kommission weitgehend ausgelöst durch Berichte von PRO ASYL. Das Land steht mittlerweile auch im Flüchtlingsbereich unter Dauerbeobachtung durch Brüssel.

Die EU-Kommissarin Cecilia Malmström stellte am 28. September 2010 während eines Aufenthaltes in Athen fest:

„Die Aufnahme von Asylbewerbern funktioniert nicht, Menschen werden unter schrecklichen Bedingungen gehalten, und es gibt fast 50.000 Menschen, die seit Jahren darauf warten, dass ihre Asylanträge bearbeitet werden."

Malmström betonte, dass die Europäische Kommission mehrere so genannter Vertragsver­let­zungsverfahren gegen Griechenland eingeleitet habe, da das Land EU-Recht verletze.

PRO ASYL fordert:

Abschiebungen nach Griechenland stoppen: Die Dublin-Überstellungen nach Griechenland müssen in Deutschland und Europa eingestellt werden.

Um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten ihrer men­schen- und europarechtlichen Verpflichtung nachkommen, bietet die sogenannte Souverä­nitätsklausel der Dublin II-Verordnung die Möglichkeit, die Verantwortung für die Bearbeitung von Asylanträgen zu übernehmen. Angesichts der dramatischen Situation für Schutzsuchende in Griechenland besteht in dieser Frage kein Ermessen mehr.

Besonders Schutzbedürftige aufnehmen: Um die besonders Schutzbedürftigen aus dem Elend, der Obdachlosigkeit und Schutzlosigkeit in Griechenland zu holen, bedarf es jetzt gemeinsamer Anstrengungen der EU. Insbesondere für die unbe­gleiteten Flüchtlingskinder in Griechenland muss schnell und unbürokratisch eine humanitäre und kindgerechte Lösung gefunden werden.

Im Rahmen eines EU-Aktionsplanes sollten diese alleinflüch­tenden Minderjährigen kurzfristig, orientiert am Kindeswohl, in andere EU-Staaten verteilt werden.

Hilfe beim Aufbau eines Auf­nahmesystems: Griechenland muss ein Asyl- und Aufnahmesystem aufbauen. Dies wird oh­ne umfassende Unterstützung durch zusätzliche EU-Fonds und solidarische Maßnahmen der EU-Mitgliedstaaten nicht gelingen.

Dublin II abschaffen!

PRO ASYL setzt sich mit vielen anderen Organisationen und Institutionen in Europa für eine Abschaffung der Dublin II-Verordnung ein. Europa braucht eine Verantwortungsteilung bei der Flüchtlingsaufnahme und ein gemeinsames Asylsystem. Ein künftiger europäischer Soli­darmechanismus sollte sich an den Bedürfnissen der Schutzbedürftigen orientieren. Humanitäre, familiäre, sprachliche und kulturelle Verbindungen zu einem EU-Aufnahmestaat sollten zwingend beachtet werden.

Karl Kopp

Weitere Infos: www.proasyl.de

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, Nr. 353, 39. Jahrgang, November 2010, www.graswurzel.net