Ja, es ist möglich, Armut und Ungerechtigkeit zu überwinden!

Vortrag vor einer Sondersitzung der Vollversammlung der Vereinten Nationen zum Stand der Milleniums-Ziele New York, 15. September 2010

I. Die Millenium-Entwicklungsziele werden trotz ihrer übertriebenen Bescheidenheit verfehlt. Der Rückgang des Anteils der Menschen, die weltweit mit weniger als 1,25 Dollars pro Tag auskommen müssen, ist einzig und allein der Entwicklung in China und in Indien zuzuschreiben |2|, beides Länder, in denen der Washington Consensus nicht umgesetzt wird. Die Menschheit hat weit über die anspruchslosen Milleniumsziele hinaus die materiellen Möglichkeiten, die Grundrechte aller Menschen zu gewährleisten. Es liegt auf der Hand, dass das Problem nicht ein Mangel an Ressourcen ist.

II. In den von Institutionen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) herausgegebenen Stellungnahmen herrscht eine Erklärung vor, die nicht überzeugt. Sie dient vielmehr dazu, eine Politik zu verfestigen, die die Krise ausgelöst hat und die so genannten „Entwicklungsländer“, die sich diesen Zielen verschrieben haben, wirtschaftlich in die Knie zwingt.

Die Empfehlungen oder Vorgaben dieser Institutionen leiten sich aus mehreren Dogmen ab:

Das erste betrifft die Finanzierung der Entwicklung durch Verschuldung. Dieses Dogma bringt die große Mehrheit der „Entwicklungsländer“ dazu, ein absurdes Verhalten an den Tag zu legen. Denn obwohl die „Entwicklungsländer“ – hauptsächlich die Rohstoffe ausführenden Länder und China – bei weitem die Mehrheit an den weltweit verzeichneten internationalen Devisenreserven (vor allem in Dollar) halten, verschulden sie sich weiter. Was machen sie? Sie kaufen US-Staatsschuldscheine, oder anders gesagt, sie leihen der amerikanischen Regierung Geld. Sie hinterlegen diese Staatsschuldscheine in den Tresorräumen ihrer Zentralbank und geben anschließend öffentliche Anleihen an der Wall Street oder auf ihrem Inlandsmarkt aus. Was völlig widersinnig ist: die Staatsschuldscheine der USA werden nur sehr niedrig verzinst, während die Gläubiger der Entwicklungsländer für die Kredite die sie ihnen in Dollar geben, viel höhere Zinssätze beziehen. |3|. Die führenden Politiker dieser Länder täten besser daran, sich nicht zu verschulden und ihre Reserven für produktive Investitionen und soziale Ausgaben zu nutzen, um die Lebensbedingungen ihrer Bevölkerungen zu verbessern.

Das zweite Dogma ist das des grenzüberschreitenden Verkehrs von Kapital, Gütern und Dienstleistungen. In den hochindustrialisierten Ländern gilt diese Freizügigkeit nicht für die Arbeitnehmer und Menschen, was in vollständigem Widerspruch zur neoliberalen Theorie steht. Es muss darauf hingewiesen werden, dass Adam Smith, die Bezugsfigur der Neoliberalen, auch die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit der Arbeitnehmer befürwortete.

Das dritte Dogma - in völligem Widerspruch zur Wirklichkeit - ist der Gedanke, dass es ausreichen würde, den Armen einen besseren Zugang zum Markt zu geben, um der Armut ein Ende zu bereiten, Stattdessen ist die Überwindung der Armut eine Angelegenheit des Staates, der strukturelle Veränderungen zu veranlassen hat, die der sozialen Ungerechtigkeit ein Ende setzen.

Die üble Rolle der unter dem Namen „Washington Consensus“ geläufigen makro-ökonomischen Politik ist im Lauf der letzten 20 Jahre vielfach ins Kreuzfeuer der Kritik geraten.

Ein Beispiel: die Lebensmittelkrise 2007-2008

In den Jahren 2007-2008 ist die Zahl der an Hunger leidenden Menschen um 140 Millionen gestiegen. Dieser scharfe Anstieg ist die Folge der Explosion der Nahrungsmittelpreise |4|. In vielen sich wirtschaftlich entwickelnden Ländern hat sich der Ladenpreis für Nahrungsmittel um 50% erhöht. Woher dieser Anstieg?

Einerseits verstärkten die staatlichen Instanzen im Norden die Beihilfen und Fördermittel für Agrartreibstoffe (oft missverständlich als Biokraftstoffe bezeichnet, obwohl weder „bio“ noch „ökologisch“). Plötzlich hat es sich gelohnt, auf den Feldern vom Nahrungsmittelanbau auf Futter- und Ölpflanzen umzusteigen oder einen Teil der Getreideproduktion (Mais, Weizen usw.) durch solche Pflanzen zu ersetzen, die als Agrarkraftstoffe dienen sollten (u. a. Raps). Diese Umstellung hat zu einem geringeren Nahrungsmittelangebot auf dem Weltmarkt und in Folge dessen weltweit zu einer Preiserhöhung geführt.

Andererseits platzte 2007 in USA die Immobilienblase. Die verheerenden Folgen waren auf der ganzen Welt spürbar. Die großen Investoren (Rentenfonds, Investitionsbanken, Hedgefonds u. dgl.) verlegten daraufhin den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten an die Börsen, wo mit Termingeschäften auf Grundnahrungsmittel spekuliert wird – insbesondere auf drei amerikanische, auf Getreide-Termingeschäfte spezialisierte Börsen: Chicago, Kansas City und Minneapolis.

Aufgrund der seit den Schuldenkrisen von IWF und Weltbank aufgezwungenen politischen Weichenstellungen hatten die „Entwicklungsländer“ jegliche Schutzmechanismen verloren und waren insofern besonders verwundbar. In der Tat verleiteten diese Institutionen die Regierungen des (globalen) Südens, die Anbauflächen für Eigenbedarfskulturen zu verringern und sich stattdessen auf den Anbau von Exportpflanzen zu spezialisieren, Preiskontrollen aufzugeben, keinen den Eigenbedarf deckenden Getreideanbau mehr zu betreiben und keine Getreidesilos für den heimischen Markt mehr anzulegen, die sozialen Haushaltspläne massiv zu kürzen, Fördermittel für Grundnahrungsmittel abzubauen und die Grenzen für Lebensmittelimporte zu öffnen – was einen ungleichen Wettbewerb zwischen den Kleinbauern vor Ort und den transnationalen Konzernen entfachte, die Wirtschaft vieler Staaten in extreme Abhängigkeit von den Weltmärkten brachte und ihre Autonomie infolgedessen schwächte…

Als Meister in der Kunst des Plünderns gestehen die kritisierten Institutionen zwar gewisse Fehler ein, aber nur, um die Fäden des internationalen Spiels besser in der Hand halten zu können. Während sie das Verbrechen begangen haben, ein Wirtschaftsmodell durchzusetzen, das armen Menschen absichtlich die Lebensgrundlage entzieht und sie auf Gedeih und Verderb den wüstesten Spekulanten ausliefert, kann ein schüchternes mea culpa ihrerseits in einem halbvertraulichen Schriftstück natürlich nicht ausreichen.

Laut der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) hat sich die Lage im Jahr 2010 gebessert |5|, aber es ist klar, dass das Entwicklungsziel Nr. 1 der Milleniumsziele bis 2015 nicht erreicht wird.

Dieser kurzen Analyse der Ursachen für die Lebensmittelkrise von 2007-2008 sollte eine Feststellung hinzugefügt werden. Fantu Cherus, eines unabhängigen Fachmanns der UN-Menschenrechtskommission, schrieb bereits 1999: „Die Strukturanpassung geht über die einfache Durchsetzung einer Reihe makroökonomischer Maßnahmen auf inländischer Ebene hinaus. Sie ist der Ausdruck eines politischen Vorhabens, einer absichtlichen Strategie des sozialen Wandels auf weltweiter Ebene mit dem hauptsächlichen Ziel, den Planeten in ein Aktionsfeld zu verwandeln, auf dem die transnationalen Konzerne in aller Ruhe ihre Geschäfte durchführen können. Kurz, die Strukturanpassungsprogranmme (SAP) spielen die Rolle von ,Treibriemen‘, durch die sich der Globalisierungsprozess mittels Privatisierung, Deregulierung und Verringerung der Rolle des Staats bei der nationalen Entwicklung leichter abwickeln lässt.“ |6|

 

III. Es wäre ein Irrtum, zu meinen, diese politischen Ziele seien fallen gelassen worden. Auch wenn Weltbank und IWF beteuern, die Rezepte des Washington Consensus seien durch eine neue Politik ersetzt worden, strafen die Tatsachen diese Beteuerungen Lügen. Diese Institutionen geben genauso wie die OECD weiterhin dieselben Empfehlungen ab, bei denen es sich oft genug um auf erpresserische Weise durchgesetzte Verpflichtungen handelt. Dies war der Fall in Haiti |7| oder in Pakistan |8|, Länder, deren Bürger sehr hart von Naturkatastrophen getroffen wurden. Der IWF unterstützt auch weiterhin diktatorische Regime: Im September 2010 hat er beschlossen, der Militärdiktatur von Honduras einen Kredit von 192 Millionen Dollar zu bewilligen.

 

IV. Haben wir die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007 hinter uns?
Zurzeit lindern drei Faktoren die krisenbedingte Belastung der „Entwicklungsländer“, aber die Lage kann sich rapide verschlechtern:

1. Die hohen Rohstoffpreise, auf sie der hohe Stand an internationalen Reserven zurückzuführen ist;

2. Der niedrige Zinssatz und die ebenfalls niedrigen „Länderrisiko“-Prämien;

3. Kapitalflüsse zu den Börsen der Schwellenländer hin.
Wenn die Zentralbanken der wichtigsten Industrieländer (amerikanische Notenbank, europäische Zentralbank, Bank von England, japanische Zentralbank) beschließen, ihre Leitzinsen zu erhöhen, wird dieser Entschluss die Refinanzierungskosten der Außenschuld der „Entwicklungsländer“ drastisch erhöhen, und die Rohstoffpreise könnten fallen, denn der Preis ist heute von der riesigen internationalen Geldmasse und der Spekulation abhängig. Würde auch die chinesische Wirtschaft in eine Krise geraten, könnte dies gleichfalls zu einem Absacken der Rohstoffpreise führen.

 

V. Es ist notwendig, auf die in der „Erklärung über das Recht auf Entwicklung“ enthaltenen Empfehlungen zurückzukommen, die die UN-Generalversammlung am 4. Dezember 1986 in ihrer Resolution 41/128 verabschiedet hat |9|. Es ist erforderlich, nicht nur auf der Ebene der internationalen Gemeinschaft, sondern auch auf der Ebene eines jeden souveränen Staates zu handeln, der übrigens auch unilaterale Maßnahmen ergreifen kann, die auf internationalem Recht basieren.

Artikel 1 der Erklärung der Vereinten Nationen über das Recht auf Entwicklung verkündet: „Das Menschenrecht auf Entwicklung bedingt auch die volle Verwirklichung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung, wozu vorbehaltlich der entsprechenden Bestimmungen der beiden Internationalen Menschenrechtspakte auch die Ausübung ihres unveräußerlichen Rechts auf uneingeschränkte Souveränität über alle ihre natürlichen Reichtümer und Bodenschätze gehört.“
Artikel 8 führt aus: „Es sollten geeignete wirtschaftliche und soziale Reformen mit dem Ziel vorgenommen werden, alle sozialen Ungerechtigkeiten auszuräumen.“

VI. Empfehlungen oder konkrete Alternativen, die sowohl von der internationalen Gemeinschaft als auch den souveränen Staaten umgesetzt werden können.

  • Globale Steuer: Ein Beispiel für eine solche Steuer wäre die Tobin-Steuer (auf Geldgeschäfte).
  • Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,7% des Bruttoinlandsprodukts der hochindustrialisierten Länder, und zwar dies ausschließlich in Form von Spenden (2010 haben die OECD-Länder nur 0,35% aufgewendet – die Hälfte ihrer Zusagen von 1970, wobei es sich zudem um eine sehr hoch geschätzte Zahl handelt); Umwandlung der Hilfe in einen Reparationsfonds für die Schäden, die den Völkern des Südens im Lauf der letzten fünf Jahrhunderte durch Plünderung und Beherrschung seitens der Mächte des Nordens zugefügt wurden.
  • Aufbau einer neuen Finanzdisziplin, die Geschäfte mit Steuerparadiesen untersagt.
  • Umsetzung einer Steuerreform zur Umverteilung des Reichtums in jedem Land.
  • Rückgabe an die Völker des Südens der Reichtümer, die von den herrschenden Eliten dieser Länder auf ungerechtfertigte Weise erworben und in den Ländern des Nordens und in den Steuerparadiesen angelegt wurden.
  • Drastische Kürzung von Rüstungsausgaben und Investition der eingesparten Beträge in sozialpolitische Programme.
  • Audits zu Staatsverschuldungen, um unrechtmäßige Anteile festzustellen und diese aufzuheben oder zu widerrufen. 2006 hat Norwegen einseitig die Schuld von fünf Ländern des Südens aufgehoben (Ecuador, Peru, Jamaika, Ägypten und Sierra Leone). Norwegen war der Auffassung, dass die bewilligten Kredite nicht der Entwicklung dieser Staaten gedient hatten und gestand ein, dass sie in Wirklichkeit gebilligt worden waren, um den Bau und die Ausfuhr von Schiffen durch die norwegische Industrie zu stützen. 2007 hat Ecuador eine Kommission zur Gesamtrechnungsprüfung der staatlichen Inlands- und Auslandsschuld eingerichtet (der ich angehörte) und die von Juli 2007 bis September 2008 tätig war. Aufgrund der Schlussfolgerungen der Rechnungsprüfung hat Ecuador beschlossen, die Zahlung von 3,2 Milliarden Dollar Schulden in Form von Staatsanleihen einseitig auszusetzen und hat so mehr als 2 Milliarden Dollar einsparen können.
  • Aufbau neuer Institutionen auf regionaler Ebene. Ein Beispiel ist die „Bank des Südens“.
  • Einrichtungen wie Weltbank IWF sind durch wirklich demokratische Einrichtungen zu ersetzen, die die Charta der Vereinten Nationen und alle internationalen Menschenrechtspakte und -abkommen einhalten.
  • Wiedererlangung der Kontrolle über die Naturvorkommen und Bodenschätze.
  • Durchführung einer Agrarreform, bei der das fruchtbare Land an diejenigen verteilt wird, die es bewirtschaften, und die die Nahrungsmittelsouveränität gewährleistet.

 

Die sich abzeichnende Klimakrise trifft – heute wie morgen – alle Völker, besonders aber die des globalen Südens. Es ist daher wichtig, die Schlussfolgerungen des Völkergipfels zum Klimawandel zu beachten, der in April 2010 in Cochabamba auf Initiative der bolivianischen Regierung stattgefunden hat.

Ja, es ist möglich, Armut und Ungerechtigkeit zu überwinden, aber nur durch die Einsetzung einer neuen, grundlegend umgestalteten internationalen Ordnung, im Rahmen eines anderen, die Menschen und die Natur zugleich berücksichtigenden Entwicklungsmodells.

Anmerkungen:

|1| Siehe http://www.un.org/webcast/2010.html, 15. September 2010, Special Event: Interactive debate on Democracy and the Millennium Development Goals.

|2| China und Indien sind keine Modelle. Siehe Eric Toussaint „L’envers des miracles chinois et indien“: http://www.cadtm.org/L-envers-des-miracles-chinois-et; Damien Millet et Eric Toussaint „La Banque mondiale découvre d’un coup 400 millions de pauvres en plus, http://www.cadtm.org/La-Banque-mondiale-decouvre-d-un

|3| Siehe Eric Toussaint „Banque du Sud, contexte international et alternatives“, insbesondere Punkt 2.C: http://www.cadtm.org/Banque-du-Sud-contexte,1998 Siehe auch „Il faut une Banque du Sud http://www.cadtm.org/Il-faut-une-Banque-du-Sud

|4| Siehe Damien Millet und Eric Toussaint „Retour sur les causes de la crise alimentaire“: http://www.cadtm.org/Retour-sur-les-causes-de-la-crise und Eric Toussaint „Une fois encore sur les causes de la crise alimentaire“: http://www.cadtm.org/Une-fois-encore-sur-les-causes-de
S. dazu SiG 74, http://sandimgetriebe.attac.at/8149.html

|5| http://www.fao.org/docrep/012/al390f/al390f00.pdf

|6| Auszug aus den von dem unabhängigen Sachverständigen Fantu Cheru vorgelegten Bericht, entsprechend den Beschlüssen 1198/102 und 1997/103 der Genfer UN-Menschenrechtskommission von 1999 : http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G99/110/10/PDF/G9911010.pdf?OpenElement

|7|nachzulesen in: „Le CADTM dénonce le prêt du FMI et exige que les créanciers versent des réparations pour Haïti“, 30. Januar 2010: http://www.cadtm.org/Le-CADTM-denonce-le-pret-du-FMI-et

|8| Damien Millet, Sophie Perchellet, Eric Toussaint „Inondations et dette, la double peine pour le Pakistan“, 26. August 2010: http://www.cadtm.org/Inondations-et-dette-la-double
S. dazu SiG 85 http://sandimgetriebe.attac.at/9132.html

|9| http://www2.ohchr.org/french/law/developpement.htm

 

(Aus SiG 86 , dem Internationalen deutschsprachigen Rundbrief der ATTAC-Bewegung (12.11.2010),

http://sandimgetriebe.attac.at/8930.html

http://www.cadtm.org/Intervention-d-Eric-Toussaint-aux
Übersetzt von Angelika Gross, korrigiert von Bernhard Sallegger, coorditrad.