Die Hartz-IV-Abrechnung

Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Regelsatz schien am 9. Februar 2010 ein neues Kapitel der Sozialpolitik aufgeschlagen worden zu sein: Erstmalig stellte das Gericht fest, dass dem Staat aus Artikel 1 GG die Verpflichtung erwächst, die Mittel für ein menschenwürdiges Dasein zur Verfügung zu stellen.[1] Es erklärte die bisherigen Regelsätze für verfassungswidrig und erteilte dem Gesetzgeber den Auftrag, bis zum 31. Dezember 2010 das Existenzminimum neu zu ermitteln. Im Dritten Leitsatz heißt es dazu: „Zur Ermittlung des Anspruchsumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.“ Des Weiteren dürfen die Bedarfe bzw. Regelsätze von Kindern und Jugendlichen nicht mehr als Prozentanteile eines Erwachsenenregelsatzes ausgewiesen, sondern müssen eigenständig ermittelt werden.

Die anfängliche Euphorie über das Urteil verflog schnell, als der FDP-Parteivorsitzende, Guido Westerwelle, eine Kampagne über angebliche „spätrömische Dekadenz“ eröffnete mit dem erkennbaren Ziel, eine mögliche Anhebung der Regelsätze zu diskreditieren. Seine Kampagne blieb, wie die nachfolgende Debatte über „Bildungsgutscheine“ und „Bildungschipkarten“ zeigte, nicht ohne Wirkung.[2]

Diese unwirkliche Debatte ist nun vorüber, doch das Ziel der Bundesregierung ist das gleiche geblieben: Die Verhinderung einer die Kaufkraft steigernden und Armut vermeidenden Anhebung der Regelsätze.[3] Nach den Berechnungen der Bundesregierung soll der Regelsatz zum 1. Januar 2011 um lediglich 5 Euro auf 364 Euro steigen.

Manche Zeitgenossen wollen in der Zahl 364 Euro ein „statistisches Wunder“ erkennen. Denn bereits im Jahre 2008 enthielt der Siebte Existenzminimumbericht der Bundesregierung eine Vorausberechnung des Regelsatzes für das Jahr 2010 in Höhe von 364 Euro.[4] Dies verstärkt den Verdacht, dass es sich hier nicht primär um die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Sinne des Bundesverfassungsgerichts handelt, sondern um eine politisch willkürliche Berechnung.

Die Bundesregierung stützt sich bei ihrer Berechnung des Regelsatzes auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes. Die Logik dahinter ist einfach: Indem man die Leistungen nach den tatsächlichen, statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten bemisst, soll dem Bedarfsdeckungsprinzip genügt werden.

Und in der Tat: Die EVS ist die maßgebende amtliche Statistik über die Lebensverhältnisse privater Haushalte in Deutschland. Für sie werden im fünfjährigen Turnus (zuletzt 2008) rund 60 000 Haushalte auf freiwilliger Basis befragt. Erfasst werden dabei soziodemographische und sozioökonomische Grunddaten, Wohnsituation und Ausstattung mit Gebrauchsgütern. Darüber hinaus geben die Haushalte alle Einnahmen und Ausgaben ihres privaten Verbrauchs an.

Statistische Tricks und Kniffe

Allerdings ist die EVS nicht dafür konzipiert worden, Regelsätze zu berechnen. Dies ist nur möglich in Sonderauswertungen, die das Statistische Bundesamt im Auftrag der Bundesregierung durchgeführt hat.

Und hier liegt der Hase im Pfeffer: Denn die Art der Berechnung und die Motive der Bundesregierung erschließen sich, wenn man die aktuelle Regelsatzberechnung (EVS 2008) mit denen aus den Jahren 2004 (EVS 1998) und 2006 (EVS 2003) vergleicht. Grundlage für die Berechnung des Erwachsenen-Regelsatzes waren jeweils Ein-Personen-Haushalte. Aus der Gesamtzahl wurden dann die Hartz-IV-Empfänger, die Empfänger von Sozialhilfe und Grundsicherungsleistungen im Alter sowie die Leistungsempfänger bei dauerhafter Erwerbsminderung ausgeschlossen.

Allerdings – und darin besteht der erste Trick im Umgang mit den statistischen Daten – hat die Bundesregierung nicht alle Leistungsempfänger ausgeschlossen, sondern nur solche, die ausschließlich Grundsicherungsleistungen erhalten. Damit verblieben die sogenannten Aufstocker, die so wenig verdienen, dass ihr Einkommen mit Hartz-IV-Leistungen „aufgestockt“ werden muss, in der Bezugsgruppe. Ebenfalls nicht herausgenommen wurden Haushalte mit einem vergleichbar niedrigen oder gar niedrigeren Einkommen, das heißt Anspruchsberechtigte, die keinen Leistungsantrag gestellt haben.

Als Bezugsgruppe hat die Bundesregierung dann (nach Abzug der ausgeschlossenen Haushalte) die unteren 15 Prozent der Haushalte genutzt. Hier findet sich der zweite Trick, wurden doch in den Regelsatzverordnungen 2004 und 2006 jeweils die unteren 20 Prozent der Ein-Personen-Haushalte als Bezugsgruppe herangezogen. Durch diese Zuschneidung der Bezugsgruppe hat die Regierung eine entscheidende Änderung des Verfahrens vorgenommen. Eine sachliche Begründung für diese Verfahrensänderung – bei der das obere Viertel aus der Gruppe herausgenommen wird – lässt sich dem Referentenentwurf zum Regelsatz nicht entnehmen. Allein diese Verkleinerung der Bezugsgruppe führt zu einer Absenkung des von der Bundesregierung gewählten Regelsatzniveaus um mehr als 17 Euro gegenüber dem vorherigen Verfahren (minus 4,9 Prozent).

Der dritte statistische Trick besteht darin, dass Hartz-IV-Bezieher künftig auf Alkohol und Tabakwaren verzichten müssen: „Alkohol stellt [...] ein gesundheitsgefährdendes Genussgift dar und gehört als legale Droge nicht zu dem das Existenzminimum abdeckenden Grundbedarf. Daher wird Alkoholkonsum nicht mehr als regelbedarfsrelevant berücksichtigt.“ So lautet die Begründung im Referentenentwurf. Diese Manipulation erbringt noch einmal über 16 Euro weniger Regelsatz (minus 4,5 Prozent).[5]

Der vierte statistische Trick betrifft den Gaststättenbesuch. Die Motive eines Gaststättenbesuchs haben sich seit Jahrhunderten kaum verändert: die gleichzeitige Befriedigung sozialer und physischer Bedürfnisse.[6] Laut dem Referentenentwurf handelt es sich bei Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen jedoch „nicht um regelbedarfsrelevante Ausgaben, da die auswärtige Verpflegung – also in Restaurants, Cafés und Imbissständen sowie in Kantinen und Mensen – nicht zum physischen Existenzminimum“ zählt. Und nur dieses „physische Existenzminimum“ wird seitens der Bundesregierung befriedigt. Insofern ist lediglich der bloße „Warenwert der beim Besuch von Restaurants, Gaststätten etc. konsumierten Nahrungsmittel und Getränke“ laut Bundesregierung „als regelbedarfsrelevant zu berücksichtigen“; er wird mit gerundet 7 Euro im Regelsatz eingestellt. Diese ausdrückliche Verneinung des soziokulturellen Existenzminimums beim Gaststättenbesuch erbringt eine Ersparnis von etwa 18 Euro (minus 5 Prozent).

Alleine durch die drei letztgenannten, willkürlichen statistischen Tricks werden 53 Euro – fast 15 Prozent – aus dem Existenzminimum herausgerechnet. Hinzu kommen noch die Absenkungen, die sich daraus ergeben, dass Aufstocker und andere Gruppen nicht aus der Bezugsgruppe herausgenommen wurden.

Sind die Kürzungen verfassungskonform?

Zu den Auswertungen der EVS hat sich das Bundesverfassungsgericht eindeutig geäußert und dem Gesetzgeber wichtige Beschränkungen auferlegt: So bedürfen Kürzungen von Ausgabepositionen einer empirischen Grundlage, entweder aus der EVS selbst oder aus einer zuverlässigen Erhebung außerhalb der EVS. Eine Schätzung auf fundierter empirischer Grundlage ist dabei nicht ausgeschlossen; Schätzungen „ins Blaue hinein“ laufen jedoch einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber muss die getroffenen Wertungen und Entscheidungen also nachvollziehbar begründen, und zwar insbesondere dann, wenn er von seiner selbst gewählten Methode abweicht. Nur so kann – dem Bundesverfassungsgericht zufolge – überprüft werden, ob das Verfahren der Ermittlung eines menschenwürdigen Existenzminimums gerecht wird.

Anhand der bisher bekannt gewordenen Datenunterlagen lässt sich erkennen, dass die Bundesregierung verschiedene Varianten durchgerechnet hat, um sich dann für die „preiswerteste“ Variante zu entscheiden.[7] Die beschriebenen Beispiele sind dabei nur die offensichtlichsten Verstöße der Bundesregierung bei der Bestimmung des Regelsatzes für Erwachsene: Mit Geist und Wortlaut des Urteils des Bundesverfassungsgerichts sind die willkürlichen Änderungen der Bezugsgruppe von 20 auf 15 Prozent und bei der Herausnahme der Position „Alkoholische Getränke und Tabakwaren“ nicht zu vereinbaren. Gleiches gilt für die Reduktion des Bedarfs auf das „physische Existenzminimum“ beim Gaststättenbesuch.

Ein besonderer Fall ist die Neuberechnung der Kinderregelsätze. In den Unterlagen sind viele der einzelnen Verbrauchspositionen nicht mit Zahlen unterlegt, sondern mit Leerstellen gekennzeichnet. In der Tat ist es so, dass das Statistische Bundesamt Einzelergebnisse nicht veröffentlicht, wenn zur Berechnung weniger als 25 Haushalte vorhanden sind, weil die ermittelten Ergebnisse dann statistisch zu unsicher sind. Im Falle der Bundesregierung liegen die Verhältnisse indes anders, geht doch aus den Unterlagen eindeutig hervor, dass sie die nicht angegebenen Daten kennt. Mit anderen Worten: Sie hat aus solchen fragwürdigen Angaben Kinderregelsätze berechnet.

Durch die vielen der Öffentlichkeit nicht bekannten Daten ist es aber unmöglich, die Regelsatzrechnungen der Bundesregierung zu bewerten oder Vergleichs- und Alternativrechnungen wie im Falle der Ein-Personen-Haushalte anzustellen. Obwohl Daten auf Hunderten von Seiten vorliegen, bleibt das Rechenverfahren im Falle der Kinderregelsätze somit völlig intransparent. Es fällt daher schwer, im Falle der Kinderregelsätze keine grobe Verletzung des Transparenzgebotes zu sehen.

Noch ist der Referentenentwurf kein Gesetz, und die Bundesregierung verfügt nicht mehr über die Mehrheit in der Länderkammer. So bleibt noch die Möglichkeit, durch Verhandlungen die Regelsätze zu erhöhen. Maßstab muss dabei sein, das Regelsatzverfahren verfassungsgemäß zu gestalten – und nicht das vom Kabinett vorgegebene Sparziel umzusetzen.

Das Zeitfenster bis Dezember 2010 ist allerdings sehr kurz. Bisher hat die Bundesregierung keinen Spielraum für ein Vermittlungsverfahren im Bundesrat vorgesehen. Offensichtlich pokert sie und hofft auf Zustimmung von Teilen der Opposition. Falls die Regelsätze nicht zum 1. Januar 2011 verabschiedet werden, wird die Bundesregierung vermutlich versuchen, die Opposition für die dann verfassungswidrigen Regelsätze (mit dem damit verbundenen juristischen und verwaltungstechnischen Chaos) verantwortlich zu machen.

Schließlich: Die Bundesregierung beziffert die zusätzlichen Ausgaben für ihre Regelsatzerhöhung und das Bildungspaket für die Kinder auf 1,1 Mrd. Euro für das Jahr 2011.[8] Hierbei darf jedoch das Haushaltsbegleitgesetz nicht vergessen werde: Es enthält ein Sparpaket im Sozialbereich von rund 30 Mrd. Euro für die Jahre 2011 bis 2014. Im Bereich Hartz IV sind darin jahresdurchschnittliche Kürzungen von 4,9 Mrd. Euro vorgesehen.

Das bedeutet: Der Bundesfinanzminister spart im Haushaltsposten Hartz IV allein im kommenden Jahr einen satten Betrag von netto 3,8 Mrd. Euro ein – und zusätzlich finanziert die Armutsbevölkerung die „Erhöhung“ ihres Existenzminimums gleich selbst.

 


[1] Martin Staiger, Menschenwürde nach Kassenlage, in: „Blätter“, 9/2010, S. 13-16; Anne Lenze, Regelleistung und gesellschaftliche Teilhabe, in: „WSI-Mitteilungen“, 10/2010, S. 523-530.

[2] Vgl. Rudolf Martens, Lohnabstand und Hartz IV: Nachruf auf eine Kampagne, in: „Soziale Sicherheit“, 3/2010, S. 103-109.

[3] Vgl. ders., Existenzminimum: Wachstumsfaktor und Wagnisversicherung, in: „Zeitschrift für Sozialpolitik“,1/2009, S. 82-92. 

[4] BT-Drs. 16/11065 vom 21.11.2008, S. 3.

[5] Die Bundesregierung hat den „Flüssigkeitsverlust“ durch 2,99 Euro für Mineralwasser zusätzlich im Bereich „Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke“ ergänzt. Außerdem hat sie hier die Bezugsgruppe grob verfälscht, weil sie für diesen Fall die „enthaltsamen“ Haushalte als Vergleichsgruppe hätte heranziehen müssen, die ein anders Ausgabenprofil aufweisen.

[6] Sabine Pfeiffer, Hunger in der Überflussgesellschaft, in: Stefan Selke (Hg.), Kritik der Tafeln in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 91-107.

[7] So in den Bereichen „Verkehr“, „Freizeit, Unterhaltung und Kultur“ und bei kleineren Beträgen in den anderen Verbrauchsabteilungen.

[8] 450 Mio. Euro für die Regelsatzerhöhung im SGB II, 130 Mio. Euro im SGB XII und 500 Mio. Euro für das Bildungspaket für Kinder im SGB II.

 

(aus: »Blätter« 11/2010, Seite 5-8)
Themen: Sozialpolitik und Armut und Reichtum