Bilder

Manche Bilder wecken Assoziationen, auch wenn diese eher ein Gefühl ausdrücken, denn Ausdruck von Analyse sind. Zumindest bei unmittelbaren, nicht retuschierten ober bei nicht künstlerisch gestalteten Bildern ist das so. Sie überlagern sich mit anderen Bildern, wecken Erinnerungen an frühere, die mit den jetzigen nichts zu tun haben.

So interessiere ich mich zwar für Politik, interessehalber und aus Profession, aber den Wachwechsel in Baden-Württemberg von Günther Oettinger zu Stefan Mappus hatte ich nur am Rande verfolgt, jedenfalls verband sich für mich damit kein Gesicht. Nach den Gewalteinsätzen der Polizei gegen die Demonstranten, darunter Bilder von Minderjährigen und Rentnern mit blutenden und tränenden Augen, die gegen Stuttgart 21 friedlich und eigentlich genehmigt demonstriert hatten, verfolgte ich besonders aufmerksam die Abendnachrichten im Fernsehen. Dieser Mappus also ist der jetzige Ministerpräsident im Südwesten Deutschlands, dachte ich? Mit seinem zeitlosem Kurzhaarschnitt, dem feisten, glattrasierten Gesicht, dem altmodischen, etwas eng sitzenden Anzug und dem vor dem Mikrofon hochgereckten, glattrasierten Kinn wirkte er eher wie ein sowjetischer Kreissekretär, der sich 1989 schwitzend gegen die Anmutungen der Perestroika zu rechtfertigen versucht. Und der Innenminister, mit scheitellosem, grauem Bürstenschnitt, der in die Kamera schielte und log, der Polizeieinsatz sei „angemessen" gewesen, sah der nicht ebenfalls aus wie aus einer anderen Welt, eher wie ein Campingplatzvermieter von früher, dem man kaum so lange traute, wie man ihn sah? Und der war für diesen Polizeieinsatz verantwortlich, wobei er diese Verantwortung eigentlich von sich zu schieben trachtete? Am Abend dann die Demonstration der Stuttgarter Bürger, von Einhunderttausend war die Rede; wie sie im Laternenschein sich dicht an dicht zusammenfanden, um gegen das einzutreten, was sie für Unrecht hielten, nicht nur den Bahnhofsabriss und das ganze Bauprojekt, sondern auch den Polizeieinsatz. Wirkte das nicht wie Leipzig '89?

Das sollen wir nicht denken. Dazu all das Reden von Unrechtsstaat und Rechtsstaat, von dem grundsätzlichen Unterschied und so weiter. Aber wenn man die Bilder nebeneinanderlegt, ähneln sie sich nicht doch irgendwie? Vielleicht ist ja die systemische Differenz nur die obere Schicht, die analytisch herzustellende, während darunter die des menschlichen Lebens liegt. Vielleicht produzieren ja Staatsparteien, die über Jahrzehnte regieren, in der dritten oder vierten Politikergeneration Gestalten, die aussehen wie Mappus und sein Polizeiminister. Dann wären etliche der unangenehmen Figuren vor zwanzig Jahren, derer sich viele im Osten noch gut erinnern, nicht in erster Linie Ergebnis kommunistischer Ideologie gewesen, sondern der Verzwergung durch jahrzehntelange Machtausübung, bei der die Nachfolger durch Kooptation rekrutiert und machtpolitische Auseinandersetzungen durch Palastintrigen entschieden werden. Wenn die dann plötzlich vor der Kamera stehen und sich rechtfertigen müssen, kommt schließlich ein unangenehmes Gestammel heraus. Wie bei Mappus.

Gewiss, die Bundesrepublik Deutschland heute befindet sich nicht in einer systemischen Krise, in der sich ihr Schicksal entscheidet. Zu entscheiden aber ist die weitere Entwicklung dieses Landes. Wahrscheinlich hat keine Bundesregierung seit 1949 so unverschämt bürgerliche Interessenpolitik betrieben, wie die jetzige: Steuersenkungen für Hoteliers, Brosamen und weitere Kürzungen für die Armen, Milliardengeschenke für die Energiemonopolisten, Deckelung der Krankenkassenbeiträge für Unternehmen und Abwälzung steigender Kosten in diesem Bereich auf die Arbeitenden, wobei die Pharmakonzerne weiter sicher absahnen.

Das merken die Menschen, und sie wollen es nicht. Im sogenannten „Deutschland-Trend" der ARD für Oktober wurde ermittelt - und am 7. Oktober in den „Tagesthemen" mitgeteilt: 57 Prozent der Befragten deutschlandweit sind der Meinung, dass es in diesem Lande eher ungerecht zugeht, 98 Prozent - also fast alle - wollen, dass die Politik wieder stärker den Kontakt zur Bevölkerung sucht. In diesem Sinne sagen 94 Prozent, es ist wichtig, dass die Menschen auf die Straße gehen und demonstrieren, damit die Politik ihre Meinung zur Kenntnis nimmt. Das heißt im Umkehrschluss: die Politik, die derzeit gemacht wird, hat mit dem, was die Menschen wollen, nichts zu tun. 80 Prozent halten es beispielsweise für falsch, dass allein die Arbeitnehmer die avisierten Zusatzbeiträge der Krankenkassen bezahlen sollen.

Und in diesem Sinne sind denn auch deutschlandweit 77 Prozent der Menschen für einen sofortigen Baustopp am Stuttgarter Bahnhof, wenn es denn ernsthafte Gespräche zwischen Befürwortern und Gegnern des Projektes geben soll. Mappus und seine Landesregierung haben der Einsetzung einer Schlichtung in Gestalt von Heiner Geißler - CDU- und Attac-Mitglied - zugestimmt. Es wurde zwar zugleich verlautbart, es werde am Bauen nicht gerüttelt, es ginge nur um das „Wie". Am Wochenende (9. Oktober) haben jedoch wiederum 150.000 Menschen in Stuttgart demonstriert. Sie sehen das nicht so.

Als die Kanzlerin mit den Herren der vier Energiekonzerne von gleich zu gleich über die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke verhandelte, um einen - nach ihrer Ansicht - zivilrechtlichen Vertrag zu schließen, der späterer parlamentarischer Entscheidung nicht mehr zugänglich sein soll, wurde von vielen aufmerksamen Beobachtern darauf verwiesen, dass sich damit die institutionalisierte Politik und das staatliche Handeln selbst aufgeben. Zugleich wurde angemerkt, dass die hochorganisierten Interessen des großen Kapitals offenbar in der Lage sind, die politischen Verhältnisse nach ihrer Pfeife zum Tanzen zu bringen.

Die Proteste gegen Stuttgart 21 zeigen, dass auch die Bevölkerung in der Lage sein kann, ihre Interessen gegen die Regierenden zu artikulieren. Und Geißlers Schlichtungsauftrag ist so etwas ähnliches wie ein Runder Tisch, der friedlich Entscheidungen kanalisieren soll unter der Voraussetzung, dass die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Womit wir wieder bei '89 und der Ähnlichkeit der Bilder wären.