Elemente neuer Bürgerlichkeit

Bourgeois und Citoyen in der postdemokratischen Elitenherrschaft

in (06.10.2010)
Als CDU und FDP im Kontext der Bundestagswahlen des vergangenen Jahres erklärten, eine gemeinsame Regierung der bürgerlichen Parteien bilden zu wollen, lösten sie eine breite politische Diskussion aus: „Eine ‚bürgerliche' Koalition wollen sie sein, die neuen schwarz-gelben Regenten. Was dürfen denn dann, bitteschön die anderen sein, die Parteien der Opposition? Un-Bürger, Parias, Zaungäste der Republik?" fragt etwa Thomas Meyer, Chefredakteur der Neuen Gesellschaft - Frankfurter Hefte, 2009 im Editorial der Dezemberausgabe der Zeitschrift. Die Antwort formuliert er wie folgt: „Das Wort ‚bürgerlich' vereint ja im Deutschen irritierend zwei konträre Bedeutungen in sich, den Bourgeois als privilegierten Besitzbürger und den Citoyen als gleichberechtigten Staatsbürger. Bürgerlich können beide sein. Ihre hartnäckige Verwechslung hatte bei vielen 68ern lange Zeit schwere Orientierungskrisen verursacht, als sei die bürgerliche Demokratie nichts anderes als eine Herrschaftsform des Kapitals. Doch diesmal ist die Sache klar: Schwarz-Gelb ist eine bürgerliche Koalition, und zwar eine besitzbürgerliche. Soweit der Koalitionsvertrag zwischen diesen Repräsentanten des Besitzbürgertums echte Festlegungen enthält, interpretiert er seine exklusive Selbst-Etikettierung durchaus überzeugend: Es dominieren die Interessen Bourgeois. Was liegt da für Mitte-Links näher, als sich eben zur ‚staatsbürgerlichen' Opposition zu erklären. Mit dieser Ergänzung wäre der anmaßende Sprachgebrauch der Regierungsparteien zurecht gerückt, der auf nichts anderes zielte, als auf Ausgrenzung." (Meyer 2009: 1)

Für Meyer scheint der Staatsbürger, als den er den aus der französischen Revolution stammenden Begriff des Citoyen übersetzt, Gegenbild zum Bourgeois, der sich durch seinen Besitz (an Produktionsmitteln) bestimmt. Die Berufung auf den Bürger als Citoyen hat in der Tat in der deutschen Debatte und bezogen auf deutsche Zustände eine lange Tradition, wurde mit ihm doch stets die politische Selbstbefreiung des „dritten Stands" im Kontext der großen französischen Revolution verbunden, während in Deutschland die bürgerliche Revolution von 1848 gescheitert und die Nationalstaatsgründung 1871 als Vereinigung zu einem Hohenzollernreich vollzogen wurde. Ganz in diesem Sinne konnte Heinrich Mann noch 1918 in seinem Essay „Kaiserreich und Republik" schreiben: „Unter uns Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts lebt auf und handelt weiter die französische Revolution." (Mann 1960: 429) Der Mensch der bürgerlichen Revolution, der Citoyen, inkarniert im Emile Zola der Dreyfusaffäre, dient Mann als Antitypus zum deutschen „Junkerbourgeois", dem Amalgam aus feudalabsolutistischem Privileg und kapitalistischem Produktionsmittelbesitz.1 Die deutschen Ungleichzeitigkeiten, auf die Heinrich Mann reagierte, waren auch 1918 noch vergleichbar den anachronistischen Konstellationen, über die Marx über siebzig Jahre zuvor in der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" schrieb: „Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie stehn unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik, wie der Verbrecher, der unter dem Niveau der Humanität steht, ein Gegenstand des Scharfrichters bleibt." (MEW 1: 380) Doch was sich zur Polemik gegenüber Zuständen, die unter aller Kritik stehen eignet, ist hierdurch noch keineswegs selbst der Kritik enthoben. Den Problemen bürgerlicher Gesellschaft und bürgerlicher Herrschaft kommt nicht auf die Spur, wer - wie jüngst wieder Jürgen Habermas - aus Deutschland nach Westen blickt (Habermas 2010). Wer nach Elementen von alter und neuer Bürgerlichkeit fragt, muss vielmehr nach unten schauen, dorthin, wo nicht nur das Leben konkret ist, sondern sich auch die Grenzen bürgerlicher (Rechts)Gleichheit zeigten. Die Unzulänglichkeit des Staatsbürgerschaftsbegriffs wird nicht erst dort sichtbar, wo etwa mit rassistischen Begründungen, großen Teilen der Bevölkerung der Staatsbürgerstatus vorenthalten und ihre Arbeitskraft hierdurch besonders scharfen Ausbeutungsformen unterworfen wird (vgl. Hirsch 2005: 66, Dörre 2010: 125f.), sondern bereits dort, wo gesellschaftliche Partizipation durch materielle Ungleichheit und unterschiedliche Stellung im Produktionsprozess daran erinnern, dass bürgerliche Gesellschaft stets Klassengesellschaft ist. In bürgerlicher Gesellschaft und bürgerlichem Staat sind Citoyen und Bourgeois identifiziert - beide unterstehen dem Prinzip der Kapitalverwertung. Die Fiktion der Rechtsgleichheit als der Freiheit von immer schon individualisierten Rechtssubjekten Arbeits- und Gesellschaftsverträge zu schließen, ist die immer wieder erneuerte Lebenslüge des Liberalismus. Es ist daher keineswegs lediglich eine „hartnäckige Verwechslung" vieler 68er, den Zusammenhang von Citoyen und Bourgeois zu betonen: Als Staatsbürger ist der Citoyen zunächst nichts anderes als das Rechtsbewusstsein der Bourgeoisie, die immer wieder erneuerte Firnis über der notwendigen Ungleichheit bürgerlicher Verhältnisse.

Zugleich ist dieses Rechtsbewusstsein mit all seinen Mängeln und Abstraktionen ständiger Quell von schlechtem Gewissen. Die bürgerliche Revolution hatte nicht nur die Produktivkräfte entfesselt, sondern zugleich ein Emanzipationsversprechen formuliert, an dem bürgerliche Herrschaft, wenn sie sich ihrer eigenen Emanzipationsgeschichte nicht mit faschistischen Mitteln entledigt, gemessen werden kann. Diesen revolutionären Überschuss hatte Ernst Bloch vor Augen als er den Citoyen als das „am stärksten offene Leitbild [...] der französischen Revolution" bezeichnete, dem „als Zeichen seiner Leittafel die Trikolore Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit inhärent aufgegeben" sei: „Die von ihm fordert, stets so zu handeln, daß die Maxime seines Handelns das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden könnte. Dieser von Kant formulierte kategorische Imperativ ist allerdings konsequent erst möglich in einer klassenlosen Gesellschaft, auf sie hin ist daher das offene Leitbild des Citoyen gerichtet, bei Strafe des gekommenen Bourgeois." (Bloch 1977: 189) Folgt man Bloch, so wird der Citoyen nicht als Staatsbürger zum Gegenbild des Bourgeois, sondern dadurch, dass in ihm begrifflich die Überwindung des Bürgerlichen überhaupt angelegt ist. Wer den Zusammenhang von Bourgeois und Citoyen ignoriert, indem er vorschnell eine Klientelpolitik für Besitzbürger und staatsbürgerliches Gemeinwohl als Antithese behauptet, trägt dazu bei, bürgerliche Herrschaft als einzig rechtsförmige Herrschaftsform hegemoniefähig zu halten und ihre inhärenten systemischen Widersprüche zu nivellieren: „Erst in der klassenlos gewordenen Gesellschaft hätte der kategorische Imperativ seine ideologiefreie Wahrheit. Desgleichen muß das Ideal des Citoyen erst von den Hüllen des Bourgeois befreit werden, damit es als reifste Frucht antizipierter menschlicher Bebauung, nicht mehr zur Selbstverschönerung des Bourgeois brauchbar werden könnte. Was von der bürgerlichen Revolution her als sein Inhalt in ihm steckt, ist deshalb genau zu prüfen; wie so viele andere Wunschbilder kommt der Citoyen [...] aus sozialer Unzufriedenheit." (Bloch 1977: 190)

Es mag wirken als wolle man mit Kanonen auf Spatzen schießen, wenn die Annäherung an Elemente neuer Bürgerlichkeit mit einem so grundsätzlichen Exkurs beginnt: Allein, ohne diese grundsätzliche Begriffsklärung wird man die Sprachverwirrung, die um den Begriff des Bürgerlichen im vergangenen Jahr vorherrschte kaum verstehen. Die Vehemenz mit dem Sozialdemokraten und Grüne darauf bestanden, das Bürgerliche ebenso rechtmäßig zu vertreten wie CDU und FDP ist ein Indikator dafür, wie stabil bürgerliche Hegemonie auch in der aktuellen Krise geblieben ist. Tatsächlich war es in der Bundesrepublik spätestens seit den achtziger Jahren zunehmend gelungen, den Begriff des „Bürgers" zu entpolitisieren, indem der Klassencharakter bürgerlicher Gesellschaft hinter „mündigen Bürgern", „Bürgerinitiativen" und „Wahlbürgern" verschwand. Indem sie half dem fordistischen Kapitalismus den Schein einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (Schelsky) zu geben, das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit als Sozialpartnerschaft bezeichnete und die „Mitte der Gesellschaft" säuberlich von „den Extremen" trennte, hatte die Sozialwissenschaft in der BRD früh zur Ideologie einer Universalität des Bürgerlichen beigetragen und eine „Soziologie der Verdrängung" (Fritz Sternberg) ermöglicht, die vorhergehende Nivellierungen von Herrschaft in den Schatten stellte. Indem der bürgerliche Staat nur mehr als unabhängige Moderationsinstanz zwischen „der Wirtschaft" und „der Gesellschaft" erschien und nicht als Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und mit einem Gewaltmonopol ausgestatteter Garant bürgerlicher Eigentumsverhältnisse begriffen wurde, konnte die Illusion gedeihen, dass „Volksparteien" im Sinne des Gemeinwohls der „Staatsbürger" agierten und „soziale Marktwirtschaft" das Ende der Geschichte sei. Verdrängt wurde insbesondere, dass der Anstieg des Lebenshaltungsniveaus und die Stabilität, die den Nachkriegskapitalismus zum „Goldenen Zeitalter des Kapitalismus" machten, „teils die Folge des sozialen Kampfes" war, „den [... die Arbeitnehmerschichten] mittels ihrer Gewerkschaften geführt haben, teils ermöglicht durch das allgemeine Steigen des Produktivitätsniveaus, das ein relativ normales Funktionieren der modernen Gesellschaft ohne diesen Anstieg, der durch ihren eigenen Klassenkampf vermittelt wurde, nicht zulassen würde, weil die moderne Gesellschaft auf die Arbeitnehmer als Konsumenten nicht verzichten könnte" (Abendroth 1967a: 358). Die Stabilität dieser Verdrängungsprozesse zeigte sich nicht zuletzt in der postfordistischen Phase, für die sich inzwischen die Bezeichnung „Finanzmarktkapitalismus" durchsetzen konnte. Erst als im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts die Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Weltsystems offenbar wurde, betraten - unbeholfen und tapsig zumeist - auch „soziale Unruhen" erneut die Weltbühne. Mit ihnen trat auch die Kategorie des strukturellen gesellschaftlichen Konflikts wieder ins Möglichkeitsbewusstsein der Zeitgenossen.


Krisenbewusstein und Restauration: Karen Horn und der neue alte Neoliberalismus

Krisenzeiten sind zumeist Zeiten der Desillusionierung, wenn auch nicht immer Zeiten der Aufklärung: „[D]ie Struktur der Krise erscheint bei näherer Betrachtung als bloße Steigerung der Quantität und Intensität des Alltagslebens der bürgerlichen Gesellschaft. Daß der - in der Unmittelbarkeit des gedankenlosen Alltags - fest geschlossen scheinende Zusammenhalt der ‚Naturgesetzlichkeit' dieses Lebens plötzlich aus den Fugen geraten kann, ist nur darum möglich, weil das Aufeinanderbezogensein seiner Elemente, seiner Teilsysteme auch bei dem normalsten Funktionieren etwas zufälliges ist." (Lukács 1923: 112f.) In Zeiten der Krise schwindet das Selbstverständlichkeitsbewusstsein, Alternativlosigkeitspostulate werden hilfloser. Die ökonomischen Krisen, die stets auch Krisen der Politik sind, stoßen Türen auf, die zuvor verschlossen schienen. Dass auch die aktuelle Krise den Kapitalismus verändern wird, ist wahrscheinlich. Ob sie - etwa in Gestalt eines „grünen Kapitalismus" - zu einer Formation führen wird, die den Finanzmarktkapitalismus hinter sich lässt, ist umstritten.2 Doch auch gegenwärtig wird „Die Zukunft des Kapitalismus" - so der Name einer Artikelserie in der FAZ3 - diskutiert. Die „neue Bürgerlichkeit", die im Bundestagswahlkampf 2009 insbesondere von der FDP verkörpert wurde, ist Teil dieser Krisendebatte. Verbindet man die Frage nach dem, was im Wahlkampf insbesondere von Seiten der FDP bürgerliche Politik hieß, mit einigen Schlaglichtern auf das, was - neben der unmittelbaren Krisenbekämpfung - an bürgerlicher Politik seit September 2009 die Schlagzeilen bestimmte, so mag nur schwerlich der Eindruck entstehen, es handele sich beim Projekt einer neuen Bürgerlichkeit um eine politische Erfolgsgeschichte: Steuersenkungsversprechen, von denen gegenwärtig kaum jemand mehr redet, nur halb versteckte Klientelpolitik zugunsten einzelner Branchen wie dem Hotelgewerbe, die Diffamierung Langzeitarbeitsloser Hartz IV-Empfänger als Ausdruck „spätrömischer Dekadenz" - die FDP erlebte mit ihren Vorstößen bislang eine Bauchlandung nach der anderen: Die Zustimmungsrate ist Umfragen zu Folge im Tief, bei Sonntagsfragen ist sie vom Wahlergebnis der Bundestagswahlen weit entfernt.

Es wäre dennoch verfrüht das Thema einer neuen Bürgerlichkeit damit für erledigt zu halten. Interessanter - und auf lange Sicht hegemoniepolitisch bedeutsamer - als die Ebene unmittelbarer Tagespolitik sind die Debatten, die das politische Geschehen flankieren. So paradox es klingen mag, in ihnen wird eines deutlich: Gerade die Krise des Finanzmarktkapitalismus liefert das Material für ein neues Selbstbewusstsein der Bourgeoisie: „Der Kapitalismus ist das einzige System, das sich aufgrund der idealerweise von externen Eingriffen unverzerrten, die individuellen Interessen abbildenden und koordinierenden Rückkopplungsprozesse immer wieder selbst korrigieren kann", schreibt etwa Karen Horn, Leiterin des Berliner Hauptstadtbüros des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, in ihrem Beitrag zur FAZ-Debatte: „Er ist das einzige System, das einen Mangel an Moral oder an Regeln nach gewisser Zeit anzeigt und uns dazu bringt, Moral und Regeln neuerlich einzufordern. Nur in der Marktwirtschaft kann es solche Krisen überhaupt geben - und vor allem die damit verbundene Selbstreinigung und Innovation." (Horn 2010: 22) Die Krise erscheint hier als karthatischer Wendepunkt, allerdings nicht zu einer neuen Zähmung oder Einhegung des Kapitalismus durch die Abwendung von neoliberalen Regulierungsmodellen (denn in der Tat ist auch der „entfesselte" Kapitalismus auf Regulation und Staatlichkeit angewiesen, ohne die die notwendige Rechtssicherheit zur Verfügung über Eigentum gar nicht möglich wäre), sondern - im ursprünglichen Sinn von Katharsis - als moralische Läuterung, die auf den neoliberalen Pfad der Tugend zurückführen soll: „Die wahre neoliberale Schule aus den dreißiger Jahren versteigt sich gerade nicht zur Heiligsprechung der individuellen Gier und der kollektiven Regellosigkeit. Sie entwirft vielmehr einen Ordnungsrahmen, der die Grundwerte der Freiheit und Gerechtigkeit, der Verantwortung und Solidarität auch in der Wirtschaft harmonisch zu verbinden erlaubt. Neoliberalismus ist eben nicht einseitig - und deswegen auch nicht ideologisch." (Ebd.: 18) Der Neoliberalismus in seiner reinen und wahren Gestalt erscheint somit als die eigentliche Verheißung einer „harmonischen Gesellschaft" (auch außerhalb der Volksrepublik China).

Die Stärke von Horns Artikel liegt darin, dass die Autorin - auch dies typisch für Krisenzeiten - ihre normativen Prämissen nicht hinter Zahlen und technokratischem Pragmatismus versteckt. Kapitalismus ist ihr „eine Wirtschaftsform, die zukunftsgerichtet durch Kapitalbildung, also Sparen und Investieren auf Wohlstandsmehrung zielt - ein ökonomisches Miteinander, das sich in freiwilligen Austauschbeziehungen auf der Basis von Privateigentum an den Produktionsmitteln konkretisiert" (ebd.). Ganz in diesem Sinne betont sie: „Damit sich die deutsche Gesellschaft auch heute noch hinter der Sozialen Marktwirtschaft versammeln kann, braucht es folglich mehr als ein Nützlichkeitsargument. Es braucht eine philosophische Begründung. Entgegen dem kruden utilitaristischen Materialismus der Kapitalismuskritiker sind Märkte nämlich nicht nur Wohlstandsmaschinen. Sie sind als Plattform der Interaktion auch soziale Räume - Räume, in denen es wesentlich, wie in den anderen Sphären der Gesellschaft auch, um individuelle Würde, Selbstbestimmung und Freiheit geht, und darauf aufbauend um gegenseitig vorteilhafte Kooperation im Rahmen allgemeiner Regeln gerechten Verhaltens." (Ebd.: 19) Freie Märkte und kapitalistische Produktionsweise erscheinen somit als Höhepunkt einer moralphilosophischen Konstruktion, systemische Krisen als Zuchtmeister. Ihm entkommen zu wollen, bedeutet, auf den Hayekschen „Weg zur Knechtschaft" zu geraten. Horn holt weit aus, wenn sie Thomas Hobbes bemüht, dessen „Ausweg über einen Gesellschaftsvertrag" bedeute, dass „alle Bürger ihre natürlichen Rechte abtreten - an einen Staat mit unbegrenzter Herrschaftsgewalt"4: „In einem ähnlichen Schwanengesang der bürgerlichen Kapitulation stimmen nun exakt 358 Jahre später die Kapitalismuskritiker mit dem Ruf nach einem massiv aufgerüsteten Primat der Politik mit ein." (Ebd.: 20) Bezug nehmend auf einen Allgemeinplatz des Bloggers Thomas Strobl, demzufolge die „Politik eine Verantwortung für die Gesellschaft habe", der „sie nachkommen müsse" (Strobl 2010), holt sie zum großen Gegenschlag aus: „So adrett gewandet sich heute der Abschied von Eigenverantwortung und Privatsphäre, der Freibrief für staatliche Bevormundung, zu Ende gedacht letztlich die totalitäre Versuchung. Zwar wünscht sich niemand mehr einen absoluten Herrscher. An seine Stelle tritt deshalb eine zunehmend absolute Demokratie, die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Auf die Spitze getrieben, lässt uns diese Kollektivierung aber keine privaten Gärten mehr, die wir frei nach Voltaires Candide bebauen können." (Ebd.: 21)

Die Bürgerlichkeit von Horns Artikel besteht folglich keineswegs in einer offenen Klientelpolitik zugunsten des Bourgeois und auf Kosten des Citoyen. Eine sich bloß „staatsbürgerlich" formierende Opposition könnte der von Horn geforderten „philosophischen Begründung" nicht beikommen, besteht doch für Horn die zentrale Aufgabe des Staates, ja im Kern politisches Handeln selbst, gerade darin, die „Spielregeln zu definieren" (ebd.: 22), innerhalb derer private Initiative und individuelle Würde vermittelt durch Märkte allein gedeihen können. Der Citoyen ist hier präzise jener Vertragsbürger, der sich mit anderen Vertragsbürgern in jenem „ökonomischen Miteinander" befindet, „das sich in freiwilligen Austauschbeziehungen auf der Basis von Privateigentum an den Produktionsmitteln konkretisiert". Der Kapitalismus erscheint hier geradezu als jene Verkörperung der sittlichen Idee, als die Hegel in seiner Rechtsphilosophie den Staat begriff. Anders als der programmatische Citoyen Blochs ist der Vertragsbürger Horns mit einer Leittafel ausstaffiert, auf der die Marxsche Parodie der revolutionären Trias „Freiheit, Gleichheit, Bentham" offenlegt, wie man die uneingelösten Emanzipationsversprechen des Bürgertums dadurch entsorgt, dass sie im Sinne einer Soziologie der Verdrängung für eingelöst erklärt werden. Der Citoyen, als braver Gärtner im eigenen oder als aufstrebender Unternehmer seiner Arbeitskraft im fremden Garten, ist vielmehr darum bemüht seine Eigenverantwortung wahrzunehmen und seine Privatsphäre zu schützen - nicht zuletzt vor den Zumutungen absoluter Demokratie.

Ebenso wie auch der alte Neoliberalismus, der in jeder Sentenz hinter Horns Argumentation steht, ist ihr Artikel freilich durch und durch ideologisch - nicht bloß im Sinne einer deskriptiven, das politisch-reflexive selbst bezeichnenden Wortbedeutung, sondern auch im Sinne des pejorativen Ideologiebegriffs, den Horn zurecht als den Vorwurf von Einseitigkeit rekonstruiert. Denn von den Akteuren selbst und ihrer Lebenslage ist in Horns normativ aufgeladenem Lob der Vertragsfreiheit sowenig die Rede wie in ihrer Angstvision von einer absoluten Demokratie. Wo sich „Gesellschaften" hinter einer wie auch immer „sozialen" Marktwirtschaft versammeln können als seien sie opake Kollektive, kann noch so viel von individueller Würde die Rede sein: Konkrete Individuen kommen genaugenommen gar nicht vor.5 Die Auskunft darüber, von welcher Freiheit und welcher Gerechtigkeit hier die Rede ist bleibt Horn ebenso schuldig, wie eine Reflexion über jene, denen der durch die Spielregeln angestrebte „Wohlstand der Nationen" nicht zu gute kommt.6 Diesen Aspekten widmen sich freilich andere Beiträger der Debatte.


Kapitalismus und Demokratie oder „Probleme des Klassenkampfs"

„Die Stadt hat einen produktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit haben und gebraucht werden, ob es Verwaltungsbeamte sind oder Ministerialbeamte. Daneben hat sie einen Teil von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es nur acht bis zehn Prozent. Dieser Teil muß sich auswachsen. Eine großes [Fehler im Original! DS] Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich auch keine Perspektive entwickeln. Das gilt auch für einen Teil der deutschen Unterschicht, die einmal in den subventionierten Betrieben Spulen gedreht oder Zigarettenmaschinen bedient hat. Diese Jobs gibt es nicht mehr. Berlin hat wirtschaftlich ein Problem mit der Größe seiner Bevölkerung. [...] Meine Vorstellung wäre: generell kein Zuzug mehr und perspektivisch keine Transferleistungen mehr für Einwanderer. [...] Ich würde aus Berlin eine Stadt der Elite machen. [...] Dazu gehört, den Nichtleistungsträgern zu vermitteln, daß sie ebenso gerne woanders nichts leisten sollten." Die Thesen des ehemaligen Berliner Finanzsenators und heutigen Bundesbankers Thilo Sarrazin (2009) sind bekannt und wurden in den Medien vielfach diskutiert. Zu seinen Verteidigern gehörte der Philosoph Peter Sloterdijk, der in für ihn ungewöhnlicher Klarheit in der Zeitschrift „Cicero" Stellung bezog: „Weil er so unvorsichtig war, auf die unleugbar vorhandene Integrationsscheu gewisser türkischer und arabischer Milieus in Berlin hinzuweisen, ging die ganze Szene der deutschen Berufsempörer auf die Barrikaden, um ihm zu signalisieren: Solche Deutlichkeiten sind unerwünscht. Man möchte meinen, die deutsche Meinungs-Besitzer-Szene habe sich in einen Käfig voller Feiglinge verwandelt, die gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen und hetzen. Sobald einmal ein scharfes Wort aus einem anderen Narrenkäfig laut wird, bricht auf der Stelle eine abgekartete Gruppendynamik los. Dabei geht es zu, als gelte es, einen Wettbewerb in Empörungsdarstellung zu gewinnen: Wer schafft es, seine Konkurrenten an Würdelosigkeit beim Eifern und Geifern zu übertreffen? Einigermaßen fassungslos sieht man mit an, wie dann die Mechanismen der Trivialmoral in endlosen Schleifen abgespult werden - bis hinauf in die Spitzen der ‚Gesellschaft'." (Sloterdijk 2009). Die von Sloterdijk entworfene Choreographie - hie der einsame Wahrheiten kundtuende Unvorsichtige, da die wilde, trivialmoralistische Meute - ist instruktiv für seine Argumentation. Spätestens seit der Schrift „Zorn und Zeit" besteht Sloterdijks intellektuelles Projekt darin, das Verhältnis von „Elite" und „Masse" neu zu justieren und bürgerlicher Herrschaft neue Legitimationsquellen zu erschließen: In Anknüpfung an die klassische griechische Philosophie fordert Sloterdijk, die „Leistungsträger" der Gesellschaft müssten die Tugend des Stolzes (thymós) wiedergewinnen, den eine psychoanalytisch-„erotische" und strukturell sozialdemokratische Moderne ihnen ausgetrieben hätte: „Während die Erotik Wege zu den ‚Objekten' zeigt, die uns fehlen und durch deren Besitz oder Nähe wir uns ergänzt fühlen, erschließt die Thymotik den Menschen die Bahnen, auf denen sie geltend machen, was sie haben, können, sind und sein wollen." (Sloterdijk 2008: 30) Wie Horn nähert sich auch Sloterdijk den Zeitfragen normativ. Bei ihm freilich steht nicht die Setzung nur der Marktmechanismus garantiere menschliche Würde und Freiheit am Anfang, sondern die „psychopolitische" Diagnose unterdrückten Stolzes auf Seiten der Eliten. In Sloterdijks großer Erzählung zeichnet insbesondere der linke Flügel der Arbeiterbewegung verantwortlich für das strukturell schlechte Gewissen der Bourgeoisie: „Die strategischen Erfolge des Marxismus beruhten, wie man rückblickend feststellen kann, auf dessen Überlegenheit bei der Formulierung eines hinreichend präzisen Modells für das potentiell und aktuell geschichtsmächtige Zornkollektiv des damaligen Zeitalters. Die maßgebliche thymotische Wir-Gruppe sollte von da an das Proletariat, genauer das Industrieproletariat heißen."(Ebd.: 196) Dem thymotischen Projekt der Arbeiterbewegung entsprach Sloterdijk zufolge, eine chronische Defensivposition der „Leistungsträger".

Entscheidend für sein politisches Projekt ist letztendlich, dass er einen historischen Rollentausch propagiert, demzufolge nicht die Eigentümer von Produktionsmitteln, sondern die Bezieher von Transfereinkommen als eigentliche Ausbeuter erscheinen. Es geht dem Nietzscheaner Sloterdijk um nichts geringeres als um eine „Umwertung der Werte", auf dass vielleicht nicht die blonde Bestie, wohl aber der Leistungsträger sein gesundes (Raubtier)Gewissen zurückerlange. Ein solches Umwertungsprojekt setzt zunächst die Nivillierung tradierter Kategorien voraus. Folgerichtig liest man in „Zorn und Zeit" über Klassen: „Wer nach Stalin und Mao weiter von Klassen spricht, macht eine Aussage über die Täter- und die Opfergruppe in einem potentiellen oder aktuellen (Klassen-)Genozid. ‚Klasse' ist, wie klügere Marxisten seit jeher wußten, nur an der Oberfläche ein beschreibender Begriff der Soziologie. In Wahrheit kommt ihm hauptsächlich eine strategische Realität zu, da sich sein Inhalt allein durch die Formierung eines kämpfenden Kollektivs [...] materialisiert. Wer ihn affirmativ, und eo ipso performativ benutzt, trifft letztlich eine Aussage darüber, wer wen unter welchem Vorwand auszulöschen berechtigt sein soll." (Ebd.: 256) Und an anderer Stelle heißt es: „Authentisches Klassenbewußstsein bedeutet Bürgerkriegsbewußtsein." (Ebd.: 200) Nun ist fraglos richtig, dass der Klassenbegriff in marxistischer Tradition stets ein Begriff an der Grenzscheide von Sozialstruktur und politischer Kollektivsubjektivität war, der soziale Lage und soziale Kämpfe in ihrem Verhältnis zueinander fassen sollte. Die Identifizierung solcher Kämpfe mit genozidalen Praktiken verfolgt indes lediglich den Zweck mit Schockeffekten eine zentrale Kategorie des politischen und theoretischen Gegners zu diskreditierten: „Noch hat das Publikum nicht zur Kenntnis genommen, wieweit der Klassismus vor dem Rassismus rangiert, was die Freisetzung genozidaler Energien im 20. Jahrhundert anging." (Ebd.: 256) Für Sloterdijk wird Lenin zum „linksfaschistischen Original" (ebd.: 231), das von den „rechtsfaschistischen" Bewegungen lediglich „national-sozialistisch" kopiert worden sei.

Totalitarismustheoretische Plattitüden dieser Art sind fraglos nicht neu. Zurecht verweist Axel Honneth darauf, dass man meine, „das alles schon zu kennen" und glaube „ein Amalgam aus Gehlen und Ernst Nolte vor sich zu haben, nur dass die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus und deren gemeinsame Rückführung auf Motive der Gier und des Ressentiments hier hemdsärmeliger, ja protziger daherkommt" (Honneth 2009). Die Nivellierung des Unterschieds von Faschismus und Sozialismus - mit dem entlastenden Kollateraleffekt, dass der Faschismus nicht mehr als Form bürgerlicher Herrschaft thematisierbar wird - sowie der Nivellierung der Kategorie „Klasse" als Keimform „(links)faschistischer" Ideologie, ist indes nur der erste Schritt in Sloterdijks großer Erzählung. Den Nivellierungen klassischer Kollektive folgt die Rekonstruktion neuer Großgruppen. Im bereits zitierten Aufsatz für Cicero befindet sich eine aussagekräftige Auswertung der Bundestagswahl, in der der Philosoph im Wahlergebnis der Linken und der Liberalen die eigentliche Sensation ausmacht. Hier zeige sich eine zukunftsentscheidende Antithese: „Zum ersten Mal in der Geschichte der neueren deutschen Demokratie treten sich in den Gewinnern des 27. September zwei Gruppen gegenüber, die man so noch nicht miteinander konfrontiert sah. Man möchte fast an einen ‚Klassen'gegensatz unbekannten Typs glauben, der bisher nicht bis zur offenen Kollision herangereift war. Definiert man jedoch den Begriff der ‚Klasse', dem Marxschen Sprachgebrauch gemäß, durch die Stellung im ‚Produktionsprozess', so sind die neuen Kontrahenten keine Klassen. [...] An der neuen politischen Front stoßen [...] zwei finanzpolitische Großgruppen aufeinander: hier die Transfermassengeber, die aufgrund von unhintergehbaren Steuerpflichten die Kassen füllen, dort die Transfermassennehmer, die aufgrund von sozialpolitisch festgelegten Rechtsansprüchen die Kassen leeren." (Sloterdijk 2009) Nur unschwer erkennt man hier den intellektuellen Bezugspunkt für Westerwelles Diagnose „spätrömischer Dekadenz". Bedenkt man freilich die im gleichen Artikel geäußerten Sympathien für Sarrazin, der immerhin empfahl die „Unproduktiven" möglichst aus der Stadt zu treiben, und erinnert sich dessen, dass Sloterdijk meint, der Klassenbegriff laufe in letzter Instanz auf die Legitimierung genozidaler Auslöschungspraktiken hinaus, so erschließt sich erst im Textvergleich die mögliche Konsequenz des Sloterdijkschen Programms. Genaugenommen läuft es auf die potentielle Rehabilitierung bürgerlicher Herrschaftsformen heraus, die in zentralen Aspekten an den deutschen Faschismus und seine Mordprogramme erinnern.

Sloterdijk freilich denkt seine Konzeption (vorerst) nicht in dieser Richtung zu Ende. Wenige Monate vor der Bundestagswahl war im Juni 2009 auch sein viel diskutierter Beitrag zur „Zukunft des Kapitalismus" in der FAZ erschienen. Schon in seinem Essay „Die Revolution der gebenden Hand" hatte er seine neue Ausbeutungslehre unterbreitet und - ganz im Sinne Karen Horns - gegen Rousseauistische und Marxistische Traditionen den „privaten Garten" der Eigentümer verteidigt. Gegenwärtig lebten wir keineswegs im Kapitalismus, sondern in einem „massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage" (Sloterdijk 2010: 67), dessen „keynesianisch vergiftete Staaten" (ebd.: 69) die Zukunft des Systems wirklich gefährdeten. Seinerzeit schlug er als Ausweg die Installierung einer souveränen Mäzenatenherrschaft (vgl. Salomon 2010) vor, in der an die Stelle von Zwangssteuern „Geschenke an die Allgemeinheit treten" sollten, „ohne dass der öffentliche Bereich deswegen verarmen müsste" (ebd.: 69f.). Der neu gewonnene Stolz der „Leistungsträger" werde es schon richten. Im Cicero-Aufsatz wird die Vision einer Neuerfindung der Gesellschaft präzisiert: „Es gilt eine Integrationsformel höherer Stufe zu finden, kraft welcher eine zunehmend heterogene Staatsbevölkerung als Leistungsträgergemeinschaft jenseits der divergierenden Herkunftskulturen bestimmt wird. Diese Formel kann nur durch einen neuen ‚Gesellschaftsvertrag' zustande kommen, der die Leistungsträger aller beteiligten Seiten in die Mitte der sozialen Synthesis rückt." (Sloterdijk 2009). Was hier so nebulös allgemein daherkommt, ist nichts anderes als die Aufforderung zur Abschaffung institutionalisierter Solidarsysteme und Rechtsansprüche für jene „Nicht-Leistungsträger", die notwendig an die Peripherie der sozialen Synthesis geraten, wenn die „Leistungsträger" in die Mitte rücken. Fraglos ist Axel Honneth zuzustimmen wenn er die Sloterdijksche Argumentationsweise als „die intellektuelle Ausgeburt eines Klassenkampfs von oben" (Honneth 2009) charakterisiert.

Wie schon Karen Horn in ihrer Polemik gegen „absolute Demokratie" ist Sloterdijks Gesellschaftsvertrag der Leistungsträger die vulgarisierte Ideologie einer postdemokratischen Elitenherrschaft, die freilich ihrerseits durchaus in einer klassischen Tradition liberaler Einschränkung demokratischer Partizipation steht (vgl. hierzu Canfora 2006, Losurdo 2008). Was Sloterdijk - ebenso wie Horn - verdrängt, ist, dass kapitalistische - also notwendig auf Profitmaximierung gerichtete - Ökonomie stets Surplusbevölkerung produziert, die von der Teilhabe am ökonomischen Leben der Gesellschaft temporär oder „ewig" ausgeschlossen bleibt. Doch auch diejenigen doppeltfreien Lohnarbeiter, die nicht in die Reihen der Reservearmee gezwungen oder dauerhaft aus dem Produktionsprozess abgedrängt werden, bleiben in „Abhängigkeit von fremder Willensmacht" (Abendroth 1967b: 141) gefangen. Es ist dieser Grundwiderspruch von Einschluss und Ausschluss, von formaler Freiheit und materialer Abhängigkeit, der innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft notwendig bestehen bleibt. Das Sloterdijk-Projekt versteht sich als langfristige hegemoniale Strategie, als „Reformation" (Sloterdijk 2009). Sein Aufruf zum „antifiskalischen Bürgerkrieg" (Sloterdijk 2010: 67) ist - in der Terminologie Gramscis gesprochen - weit eher als Stellungs- denn als Bewegungskrieg konzipiert. Auch deshalb sollte man nicht, bloß weil erste Versuche der FDP Elemente aus ihm in praktische Politik umzusetzen vorerst zu scheitern scheinen, vorschnell auf seine Wirkungslosigkeit vertrauen. In der Konsequenz der Sloterdijkschen, wie der Hornschen, Politik liegt die Begrenzung des Citoyens auf jene, die eine Stellung im Produktionsprozess innehaben. Die Zahnlosigkeit einer bloß staatsbürgerlichen Opposition, die den Begriff des Citoyens a priori als dem des Bourgeois überlegen und entgegengesetzt begreift, liegt auf der Hand. Die Widersprüche antagonistischer Gesellschaften zu fassen und substantielle Demokratie (als unter kapitalistischen Bedingungen stets nur partiell zu verwirklichendes Projekt, das auch eine weitgehende Wirtschaftsdemokratie einschließt), zu verfolgen, macht die Kategorie der Klasse ebenso notwendig wie die Orientierung auf soziale Kämpfe. In diesem Sinne freilich könnte der Blochsche Citoyen, dessen Versprechen nur jenseits von alter wie neuer Bürgerlichkeit eingeholt werden kann, durchaus als Leitbild aktuell bleiben.


Literatur

Abendroth, Wolfgang (1967a): Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied und Berlin.
Abendroth, Wolfgang (1967b): Wie abhängig ist der Arbeitnehmer? in: Uwe Schultz (Hrsg.): Freiheit, die sie meinen, Frankfurt/Main.
Bloch, Ernst (1977): Experimentum Mundi - Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, in: ders. Werke Bd. 15, Frankfurt/Main
Canfora, Luciano (2006): Eine kurze Geschichte der Demokratie, Köln.
Dath, Dietmar (2008): Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Frankfurt/Main.
Dörre, Klaus (2010): Landnahme und soziale Klassen; in: Hans-Günter Thien (Hrsg.): Klassen im Postfordismus, Münster.
Habermas, Jürgen (2010): Wir brauchen Europa! in: Die Zeit, 20. Mai.
Hirsch, Joachim (2005): Materialistische Staatstheorie, Hamburg.
Honneth, Axel (2009): Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe - Zum neuesten Schrifttum des Peter Sloterdijk in: Die Zeit, 24. September.
Horn, Karen (2010): Modell Deutschland; in: Frank Schirrmacher; Thomas Strobl (Hrsg.): Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin.
Huffschmid, Jörg (2009): Das Ende des Finanzmarktkapitalismus; in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 78, Juni.
Roth, Karl Heinz (2009): Die globale Krise, Hamburg.
Losurdo, Domenico (2008): Demokratie oder Bonapartismus - Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts, Köln.
Lukács, Georg (1923): Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin.
Mann, Heinrich (1960): Kaiserreich und Republik; in: ders.: Essays, Hamburg.
Meyer, Thomas (2009): Editorial zu: Neue Gesellschaft - Frankfurter Hefte, Dezember.
Salomon, David (2010): Sloterdijks Revolution - Auf dem Weg in eine Mäzenatensouveränität; in: Jan Rehmann; Thomas Wagner (Hrsg.): Angriff der Leistungsträger - Das Buch zur Sloterdijkdebatte, Hamburg.
Sarrazin, Thilo (2009): Klasse statt Masse - Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten; in: Lettre International Heft 86.
Schirrmacher, Frank; Strobl, Thomas (Hrsg.) (2010): Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin.
Sloterdijk, Peter (2008): Zorn und Zeit - Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt/Main.
Sloterdijk, Peter (2009): Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November.
Sloterdijk, Peter (2010): Die Revolution der gebenden Hand, in: Frank Schirrmacher; Thomas Strobl (Hrsg.): Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin.
Strobl, Thomas (2010): Wohlstand für alle, in Frank Schirrmacher; ders. (Hrsg.): Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin.


Endnoten:

1     „Die absolutistischen Klassen waren nicht, wie anderswo, als politische Macht beseitigt, bevor neue Mächte sich durchsetzten. Der Adel und das Heer erwiesen sich als lebendig genug, um alles, was vordrängte umzubiegen und sich nutzbar zu machen. Die Demokratie war lebensnotwendig, hier wie überall, und der Bürger, ob er wollte oder nicht, vertrat sie. Hier aber war die Demokratie in der Schuld des Absolutismus und ihm untergeben wie einem Gläubiger. Die Demokratie hatte das Reich nur erstrebt, gemacht hatte es der Absolutismus. [...] Die Demokratie machte ihre Söhne zu Absolutisten. [...] Ein herrschender Typ entstand, der nicht Bürger, nicht Junker, aber beides in einem war, ein Wesen mit Sporen und einem Zahlenhirn, ein wandelndes Paradox, begabt, vor nichts zurückzuschrecken, was vergewaltigtes, ungerades Denken je ersinnen könnte." (Mann 1960: 399f.)
2     Vgl. etwa die konträren Positionen von Karl Heinz Roth (2009) und Jörg Huffschmid (2009).
3     Inzwischen liegen die Beiträge auch als Sammelband vor: Schirrmacher/Strobl (2010).
4     Unreflektiert bleibt indes das liberale Moment des Vertragstheoretikers Hobbes. Zum komplexen Verhältnis Hobbes' zum Liberalismus vgl. insb. Macpherson (1973: 21ff.).
5     Dies könnte daran liegen, dass Karen Horn vermutlich ebenso wie weiland Margaret Thatcher nur solche Individuen kennt, die es für erfüllend halten, nach ausgiebiger und langanhaltender Arbeit sich als „mündiger Kunde" befreit darum zu kümmern, bei welchem Energieanbieter oder bei welcher Telefongesellschaft sie den günstigsten Vertrag erhaschen können und mithin nicht der totalitären Versuchung unterliegen ihre Privatsphäre in Arbeitszeitverkürzung geschützt und ihre Eigenverantwortung durch Mindestlöhne gestärkt zu sehen.
6     Sicher, Fragen dieser Art stammen aus dem Arsenal des „kruden utilitaristischen Materialismus der Kapitalismuskritiker", der mit Dietmar Dath sagt: „Moral ist Glückssache und setzt Deckung der wichtigsten Lebensverhältnisse voraus; meistens hat man andere Sorgen." (Dath 2008: 14)


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Dieser Artikel erschien zuerst in PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 160, 40. Jg., 2010, Nr. 3, 311-323