Kriechend zum Mann werden

in (05.08.2010)

Pınar Selek befasst sich in ihrem Buch „Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt” mit der Institution des Militärs und ihrer (Re-)Produktion von männlichen Identitäten in der Türkei. Verena Stern traf die Soziologin in Wien zum Interview.

Pınar Selek, 1971 in Istanbul geboren, ist Soziologin und eine der führenden feministischen Friedensaktivistinnen der Türkei. 1998 wurde ihr vorgeworfen, im Auftrag der PKK eine Bombe auf einem Istanbuler Markt gezündet zu haben. Sie verbrachte zunächst zweieinhalb Jahre im Gefängnis und ging – obwohl sie inzwischen freigesprochen wurde – vor Kurzem ins Exil nach Deutschland, da sie in der Türkei noch immer nicht sicher leben kann.
Mitte Mai war Pınar Selek auf Einladung des VIDC (Wiener Institut für internationalen Dialog und Zusammenarbeit) und der Forschungsgruppe IN:EX vom Institut für Politikwissenschaft in Wien, um in einem Workshop ihre Studie „Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt”, die 2010 erstmals auf Deutsch erschienen ist, zu diskutieren. Für die Studie hatte sie mit ihrer Forschungsgruppe 58 Interviews mit Männern über deren Erlebnisse während des Militärdienstes geführt.

an.schläge: Als Feministin haben Sie Männer in den Fokus genommen und einen Abschnitt in deren Leben analysiert. Warum?

Pınar Selek: Gerade weil ich Feministin bin! (lacht) Eine wichtige Fragestellung des Feminismus ist, wie Geschlechterverhältnisse (re-)produziert werden, insbesondere um zu verstehen, wie das Patriarchat funktioniert. Gesellschaftliche Gewalt beruht stark auf Sexismus. Ich wollte wissen, wie dessen Akteure funktionieren. Allerdings nicht nur auf einer erklärenden Ebene, sondern auch im Sinne einer Dekonstruktionsarbeit.

Existiert eine Kritische Männlichkeitsforschung in der Türkei?

Diese hat sich gerade erst entwickelt. Vor der Publikation meines Buches gab es dazu keine Veröffentlichungen, danach kamen ein bis zwei dazu. In der letzten Zeit findet immer mehr Forschung an den Universitäten zum Thema Männlichkeit statt, und auch in der feministischen Forschung der letzten Jahre wurde die Frage der Männlichkeit immer präsenter. Vor einem Jahr wurde die Gruppe „Wir sind keine Männer” gegründet. Diese hat sich zu einer populären Bewegung von hetero- und homosexuellen Männern entwickelt, die sich als Oppositionelle sehen und unter anderem Kritik am Militär üben. AMARGI und andere feministische Gruppen unterstützen diese Bewegung und zeigen sich solidarisch.

Wie wurde Ihr Buch in der Türkei rezipiert?

Ungleiche Geschlechterverhältnisse wurden immer als Problem der Frauen betrachtet. Dadurch, dass ich in der Öffentlichkeit Männlichkeit zum Thema gemacht habe, wurde dies auch von Gewerkschaften und politischen Parteien aufgegriffen. Das Buch ist in der Türkei seit eineinhalb Jahren am Markt und erscheint mittlerweile in der vierten Auflage. Es wurde breit rezensiert und hat auch einen Preis gewonnen. Nach dem Erscheinen des Buches war ich jedoch nur noch sechs Monate in der Türkei, danach musste ich alles aus der Entfernung beobachten und konnte auch an der Diskussion nicht teilhaben.

Warum war Ihnen die deutschsprachige Ausgabe ein Anliegen?

Im Vorwort der deutschsprachigen Ausgabe sage ich, dass ich hiermit eine Einzelheit erzähle, die Teil des Großen ist, die es möglich macht, auch über das große Gesamte etwas zu sagen. Die Erfahrungen von anderen zu hören, impliziert auch die Funktion eines Spiegels. In Deutschland sind es oft feinere, aber in die Tiefe gehende Mechanismen von Männlichkeit, wie zum Beispiel gesellschaftliche Anerkennung über beruflichen Erfolg zu erhalten. Auch das erfüllt eine Funktion, nicht unbedingt wie beim Militär, aber das zu analysieren, kann eine Aufgabe für Feministinnen hier darstellen.

Welche Unterschiede bzw. Parallelen können Sie in den feministischen Bewegungen Deutschlands und der Türkei ausmachen?

Überall gibt es mehrere feministische Bewegungen, die nicht homogenisiert werden können, was mir jedoch auffiel, ist, dass diese in Deutschland eher institutionalisiert sind und nicht unbedingt im Dialog miteinander stehen. In der Türkei wird mehr auf der Straße gearbeitet. Zudem haben theoretisch-radikalere Zeitschriften – also nicht die „Emma”, sondern theoretisch fundierte – in Deutschland weniger Breitenwirkung. In der Türkei scheint der Link zwischen Akademia und politischer Bewegung besser zu gelingen. Wir geben beispielsweise die feministische Zeitschrift „AMARGI” heraus, die sich mit theoretischen Fragen des Feminismus beschäftigt. Davon verkaufen wir 3.000 Stück pro Ausgabe, was darauf hindeutet, dass wir damit auch Menschen außerhalb der Universitäten erreichen.

Wie waren die Erfahrungen mit den Männern, die Sie für Ihr Buch interviewten?

Wir haben bereits in der Forschungsphase unsere Zielsetzung offen dargestellt. Einige gaben ihre Antworten gerne für das Archiv und die Analyse her, wollten mit ihren Erzählungen im Buch jedoch nicht vorkommen, andere wollten ein Pseudonym. Daran haben wir uns gehalten. Dennoch sagt diese Angst sehr viel aus: Die Männer machen wichtige Erfahrungen, doch wenn es darum geht, diese öffentlich zu erzählen, machen sie einen Schritt zurück. Das hatte ich nicht erwartet.
Wir haben als Team gearbeitet, aber die meisten Interviews wurden von den Männern unserer Forschungsgruppe gemacht. Insbesondere ältere oder aus konservativeren Strukturen stammende Männer hatten Probleme, ihre Erfahrungen einer Frau zu erzählen.

Brauchen Männer einen eigenen Raum, über diese Dinge sprechen zu können?

Es gibt in der Türkei viele Räume nur für Männer, doch dort sprechen sie nicht einfach über eigene Probleme. Es ist der Raum der Macht und Repräsentation, der Solidarität unter Männern. Dort werden viele Militär-Geschichten erzählt, jedoch keine wie im Buch. Sie werden eher als Anekdoten und Witze verpackt. Wenn sich die Gruppe „Wir sind keine Männer” institutionalisieren sollte, kommt es vielleicht zu einem Raum, der tatsächlich ein Forum dafür bietet.

Welche Rolle spielt die Figur der Mutter bei Männlichkeitskonstruktion?

In traditionellen Familien, und das betone ich, definiert sich die Identität der Mütter sehr stark über den Sohn. Daher wird an Traditionen festgehalten, und sie gibt ihr Bestes, um diese, also ihre Identität zu stärken.
In der Türkei wird eine oft biologistisch argumentierte Unterscheidung zwischen Männern und Frauen akzeptiert. Ein Beispiel ist die Erfahrung des Mutterseins. Auch Zeitschriften sprechen von den besonderen Stärken der Frauen. Die Wissenschaft geht oft von Differenz aus. Doch Differenz ist meiner Meinung nach kein Grund, Männer und Frauen nicht gleich zu behandeln, und wir wissen selbstverständlich, dass es auch nicht nur zwei Geschlechter gibt. Ich bin gegen eine Angst vor dem Thema der Differenz, obwohl es natürlich darauf ankommt, wie Differenz thematisiert wird.

Die Rolle des Vaters ist oft die Rolle eines Über-Vaters, der immer korrekt ist. Der Sohn sollte sich ebenso verhalten. Was, wenn der Vater nicht der Imago entspricht? Ändert das etwas in der Erzählung der Söhne?

Die Figur des Vaters ist eine Fiktion. Zwischen den Generationen werden unterschiedliche Männer- und Vaterfiguren konstruiert. Dadurch kommt es zu Widersprüchen: Es entwickelt sich etwa Neues, das Alte ist aber immer noch präsent. Einige leiden darunter und leben genauso widersprüchlich. Andere lehnen die Figur des Vaters ab. Dennoch, im Vergleich zu Frauen stellen Männer ihre Identität kaum infrage, es gibt keine Diskussionen darüber. Vielmehr gibt es reaktionäre Reaktionen. Dadurch, dass keine Kultur der Reflexion existiert, findet wenig Auseinandersetzung damit statt. Das Militär beispielsweise ist ein wichtiges, verdichtetes Laboratorium, in dem Männlichkeit reproduziert wird. Es ist eine der mächtigsten Institutionen der Türkei, jeder muss hin. Daran lässt sich viel über eine Gesellschaft ablesen.

Wie steht es um den Militärdienst in der Türkei?

Es gibt einige Männer, die den Militärdienst aufschieben, und ebenso viele, die ihn als Pflicht sehen, um danach reisen und ins Ausland zu dürfen oder arbeiten zu können. In der Öffentlichkeit herrscht eine große Akzeptanz gegenüber dieser Verpflichtung und insofern eine positive Bezugnahme zum Militärdienst. In der Wahrnehmung der Gesellschaft ist es eine „verpflichtende Stufe der Männlichkeit”.

Wie wird dann mit Militärdienstverweigerern umgegangen?

Eine Deserteursbewegung gibt es seit den letzten zwanzig Jahren. Desertieren ist in der Türkei sehr schwierig. Man lebt in lebenslanger Unsicherheit, dazu kommt die permanente Gefahr der Gefängnisstrafe. Dennoch gibt es Hunderte, die sich politisch artikulieren und den Militärdienst auch aus politischen Gründen ablehnen. Sie kommen deshalb immer wieder ins Gefängnis. Dann gibt es politische Kampagnen für diese Leute und sie kommen wieder raus – doch die permanente Unsicherheit und eine ungewisse Zukunft bleiben.

Verena Stern ist Politikwissenschaftlerin in Wien.

Links:
www.pinarselek.com
Link zur Petition des deutschen P.E.N-Zentrums für die Rehabilitierung von Pınar Selek: www.ps-signup.de
www.vidc.org
http://inex.univie.ac.at

Literatur:
Pınar Selek: Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten (Türkisches Original: „Sürüne Sürüne Erkek Olmak” – „Kriechend zum Mann werden”; Übersetzerin: Constanze Letsch), Orlando Frauenverlag, 2010

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin, www.anschlaege.at